In den schneebedeckten Weiten der Steppe können sie schon von weitem die Geräusche der großen Tiere ausmachen. Als sie sich an ein Tier abseits der Herde heranschleichen, hören sie ein lautes Knurren. Ein Säbelzahntiger stürzt sich auf Uga und beißt ihn ins Bein, sie können ihn aber zur Strecke bringen. Aga stützt Uga auf dem Weg zurück ins Lager, damit die Wunde nicht weiter aufgeht. Im Lager wird Ugas Bein mit Wasser ausgespült, mit heilenden Kräutern bedeckt und notdürftig verbunden. Uga wird getröstet und muss bei der nächsten Jagd pausieren, weiß aber aus Erfahrung, dass die Verletzung heilen wird. Sorgen machen sich er und die anderen nicht. Die Schmerzen werden weitestgehend ignoriert, da der tägliche Überlebenskampf die volle Aufmerksamkeit der Frauen und Männer beansprucht.
Auch wir in der heutigen Zeit handeln bei akuten Schmerzen intuitiv und ohne zu überlegen meist richtig. Wir pusten dem Kind auf die Brandblase, nehmen es kurz in den Arm und sagen, dass es gleich besser werden wird. Wir ermahnen es, seine Hand für die Dauer der Verletzung zu schonen und verwöhnen es als Ausgleich für die Schmerzen und die empfundene Beeinträchtigung ein wenig. All das sind sinnvolle und richtige Verhaltensweisen im Umgang mit akuten Schmerzen.
Chronischer Schmerz
Dummes Gehirn, anstatt den Schmerz zu lernen,
sollte es mir lieber in der Schule helfen.
Jessica, 9 Jahre
In unabhängigen Untersuchungen wurde in verschiedenen Ländern festgestellt, dass etwa 15 bis 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen mindestens einmal pro Woche über Bauch-, Kopfoder Rückenschmerzen klagen. Wenn diese Schmerzen an mindestens 15 Tagen im Monat über drei Monate hinweg auftauchen, spricht man von chronischem Schmerz.
Bei den meisten betroffenen Kindern kann glücklicherweise im weiteren Verlauf eine schwerwiegende oder entzündliche Erkrankung (z. B. Rheuma, Bandscheibenvorfall, ein Tumor oder eine entzündliche Darmerkrankung) als Schmerzursache ausgeschlossen werden. Dennoch werden bei etwa drei bis vier Prozent der Kinder oder Jugendlichen die Schmerzen so schlimm, dass man von einer Schmerzerkrankung oder Schmerzstörung spricht. Diese Kinder und Jugendlichen haben fast dauernd Schmerzen.
Die meisten Kinder und Jugendlichen berichten zudem über Konzentrationsschwierigkeiten aufgrund der Schmerzen und über Probleme, sich im Alltag von den Schmerzen ablenken zu können. Meist gelingt das während der Lieblingsbeschäftigungen noch am besten. Die meisten haben Angst, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmen und es möglicherweise etwas »Schlimmes« sein könnte. Die Eltern sind häufig besorgt und genervt zugleich, wenden sich die Kinder in ihrer Hilflosigkeit doch meist an ihre Eltern. Es kommt vermehrt zu Schulfehlzeiten, Alltags-, Freizeit- sowie Familienaktivitäten werden vermieden. In der Folge wird ein Teil der knappen Familienzeit dafür aufgewandt, Ärzte oder andere Behandler aufzusuchen. Gibt es Geschwister, fühlen sich diese nicht selten vernachlässigt.
Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen sind mehr gefährdet, eine psychische Störung zu entwickeln, als Kinder und Jugendliche ohne chronische Schmerzen. Vor allem Ängste, Schulprobleme und Depressionen können die Folge von unzureichend behandelten chronischen Schmerzen sein. Andererseits gibt es Studien, die darauf verweisen, dass vorbestehende Ängste, Depressionen, familiäre Nöte und Streitigkeiten die Auftretenswahrscheinlichkeit von Schmerzen erhöhen. Auch Überängstlichkeit der Eltern oder das Vorkommen von chronischen Schmerzen bei mindestens einem Elternteil erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind ebenfalls chronische Schmerzen entwickelt.
Was chronischen Schmerz von akutem Schmerz unterscheidet
1 Chronischer Schmerz klingt nicht wieder ab: Im Gegensatz dazu gehen akute Schmerzen erfahrungsgemäß meist schnell oder bei Entzündungen und Verletzungen wenigstens mit der Zeit wieder zurück.
2 Selten lassen sich eindeutige Auslöser feststellen: Häufig scheint bei chronischem Schmerz Stress eine Rolle zu spielen, und wenn die Laune im Keller ist, klagen die Kinder und Jugendlichen meist über etwas stärkere Schmerzen. Aber ein Auslöser, den man sehen oder messen kann, wie bei akutem Schmerz, fehlt meist bei chronischem Schmerz.
3 Der chronische Schmerz hat anscheinend keine Warn- oder Schutzfunktion: Wenn ein Schmerz immer (wieder) da ist, und das über einen längeren Zeitraum (und dies nicht in Verbindung mit einer sichtbaren oder messbaren Entzündung oder Verletzung steht), gibt es offenbar nichts, wovor er warnt. Abgesehen davon würden unbehandelte Entzündungen oder Verletzungen mit der Zeit entweder stärkere Schmerzen verursachen – oder abklingen, wenn sie von selbst ausgeheilt sind.
4 Die wahrgenommene Schmerzstärke hat demzufolge meist wenig, häufig gar nichts mehr mit einer Verletzung oder Entzündung zu tun: Das, was das Kind oder der Jugendliche an Schmerzen empfindet, ist also losgelöst von einer körperlichen Ursache zu betrachten. Der Schmerz hat sich verselbstständigt und ist zu einer eigenständigen Erkrankung geworden.
Im Folgenden soll erläutert werden, wie es zu solch einem Schmerzphänomen kommen konnte und wieso weder ein ausschließlich organisches noch ein ausschließlich psychologisches Vorgehen sinnvoll ist.
Teufelskreis Schmerz: Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen
Also, Teufelskreis passt wirklich sehr gut!
Marius, 17 Jahre
Wenn Eltern zu uns in die ambulante oder stationäre Behandlung kommen, sind meist schon viele Monate vergangen und viele Behandlungsversuche unternommen worden. Im Schnitt vergehen über drei Jahre, bis Kinder in unsere stationäre schmerztherapeutische Einrichtung aufgenommen werden. Dies ist eine lange Zeit, und bei der Frage, ob etwas Besonderes zu Beginn der Schmerzen passiert sei, erinnern sich viele Eltern nicht mehr daran und verneinen gereizt. Wir stellen allerdings häufig im Verlauf der Behandlung fest, dass zu Beginn der Schmerzen durchaus ein akuter Schmerz stand. Dies muss kein schwerwiegendes Ereignis gewesen sein, z. B. kann es sich dabei um eine Infektion, eine Migräneattacke, eine Verletzung aufgrund eines Unfalls oder eine Grippe mit Schmerzen gehandelt haben.
Potenzielle Auslöser
Das verwundert nicht, muss doch auch ein chronischer Schmerz irgendwann einmal seinen Anfang genommen haben. Manchmal können aber auch belastende Lebensereignisse wie z. B. ein Todesfall in der Familie oder die Trennung der Eltern als so schlimm empfunden werden, dass es im wahrsten Sinne des Wortes weh tut. Anhand von Spezialaufnahmen des Gehirns konnten Forscher herausfinden, dass z. B. das Gefühl, sozial ausgegrenzt zu werden, tatsächlich einen Teil des Schmerznetzwerks im Gehirn aktivierte und die Versuchspersonen angaben, leichte Schmerzen zu haben.
Zudem wird eine genetische Veranlagung diskutiert. Schließlich entwickelt nicht jeder chronische Schmerzen. Es gibt Berichte von Menschen, bei denen eher zufällig ein Bandscheibenvorfall festgestellt wurde; Schmerzen hatten sie jedoch nicht. Leistungssportler gehen regelmäßig über ihre Schmerzgrenze und entwickeln trotzdem in der Regel keine Schmerzstörung. Umgekehrt gibt es Menschen, die schon bei geringeren organischen Auslösern längere und stärkere Schmerzen empfinden.
Häufig, aber nicht immer, können zudem psychische Stressoren eine Rolle spielen. Diese sind vielfältiger Natur. So spielen z. B. Paarkonflikte der Eltern, schulische Über- oder Unterforderung, langwierige Krankheitsfälle in der Familie, Termindruck, mangelnde Struktur im Alltag, elterliche Vernachlässigung oder Überfürsorglichkeit sowie ein geringes Selbstbewusstsein eine Rolle. Diese psychischen Stressoren erhöhen allerdings nur die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem akuten Schmerz mal ein chronischer Schmerz wird, die alleinige Ursache sind sie nicht. Sonst müssten ja fast alle Kinder und Jugendlichen unter chronischen Schmerzen leiden.
Ein weiterer Einflussfaktor sind sehr belastende (traumatische) Lebensereignisse. Neueste Studien konnten nachweisen, dass traumatische Lebensereignisse im weiteren Verlauf die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen, dass aus einem akuten Schmerz einmal ein chronischer Schmerz wird. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass nach einem solch traumatischen Lebensereignis die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, dauerhaft gestört ist. Die Verarbeitung