geschieht alles gleichzeitig, zum Teil parallel, in Wechselwirkung und manchmal auch nacheinander und rekursiv, das heißt wiederholt.
Abb. 2: Am Lernen beteiligte Areale
Wir lernen mit dem ganzen Gehirn. Sichtbar ist die Großhirnrinde (Neocortex) mit Windungen (Gyrus, Gyri) und Furchen (Sulcus, Sulci) und das Kleinhirn (Cerebellum).
FC: Frontalcortex (Frontallappen) – PC: Parietalcortex (Scheitellappen) – TC: Temporalcortex (Schläfenlappen) – B: Broca-Areal (Sprachartikulation, Grammatik) – W: Wernicke-Areal (Sprache verstehen) – C: Cerebellum (Kleinhirn, Bewegungssteuerung)
Der Neocortex enthält die assoziativen Areale und neuronale Karten des Bewusstseins und Wissens. Der präfrontale Cortex plant und steuert Handlungen, Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis. Der Hippocampus ist der Einspeicherer von Inhalten in das Langzeitgedächtnis. Die Amygdala verarbeitet Furcht und Angst. Sie gehört zum limbischen System (Hippocampus, Amygdala, Cingulum, Fornix, Hypothalamus, VTA usw.), das Affekte, Gefühle und Wünsche weitgehend unbewusst verarbeitet. Das Corpus callosum verbindet mit etwa 200 Millionen Nervenfasern die beiden Gehirnhälften (Hemisphären). Das ganze Gehirn mit seinen ca. 100 Milliarden Neuronen wiegt im Schnitt etwa 1300–1500 Gramm.
Wenn Franco Lernprobleme hat, ist das natürlich nicht nur ein Gehirn-Problem, sondern ein Problem der ganzen Persönlichkeit des Jugendlichen – und oft auch seines sozialen Umfeldes. Allerdings können schon kleine Schäden oder Defizite, beispielsweise eine Unterversorgung mit dem Antriebsstoff Dopamin, im Gehirn beträchtliche Auswirkungen auf Stimmungen, Gefühle, Motivation und Leistungen haben.
Alles Lernen beruht auf Gehirnaktivität – und ist somit gehirngerecht: Wir bauen, wie bereits erwähnt, auch Missverständnisse, Vorurteile und Gewalt mit dem Gehirn auf. Man kann das Gehirn überfordern und unterfordern. Wer von seinem Gehirn einen angemessenen und optimalen Gebrauch macht, lernt gehirngerecht. Darin liegt ein normativer Anspruch: Wir können das Lernen verbessern und dergestalt die Möglichkeiten des Gehirns besser nutzen.
Beispiel:
Ruth (16-jährig) liest am Vorabend einer Geschichtsprüfung erstmals sechs Seiten im Lehrbuch, lässt nebenher das Fernsehgerät laufen, weil sie die neue Folge einer Sitcom-Serie nicht verpassen will. Im Text streicht sie alle Geschichtsdaten mit rotem, alles Wichtige mit gelbem und alle Namen mit grünem Leuchtstift an. Zwischendurch schickt sie ihrer Freundin eine SMS mit einem Hinweis auf die TV-Sendung. Sie nimmt sich vor, beim Morgenessen den Text noch schnell einmal zu »überfliegen«. Ein wenig Angst hat sie schon, denn sie ist in Geschichte auf eine ungenügende Note abgerutscht.
Was ist an diesem Verhalten nicht optimal – und in diesem Sinne nicht gehirngerecht?
Es ist wohl klar, dass sich Ruth eigentlich im Moment mehr für die TV-Serie interessiert als für das Thema im Buch: Das Gehirngebiet, das speziell für emotionale und motivationale Prozesse zuständig ist, bezeichnet man als limbisches System. Dieses hat längst unbewusst entschieden, dass die TV-Serie im Moment wichtiger und spannender ist als Lesen und Lernen. Zusätzlich löst der Erwartungskitzel der Sitcom-Fortsetzung einen Botenstoff namens Dopamin aus, der das Lustzentrum, das heißt den Nucleus accumbens, aktiviert: Spannung ist angesagt! Dieses lustvolle Gehirngeschehen hemmt Prozesse im Neocortex, das heißt in der grauen und gefalteten Hirnrinde, die für aufmerksames und verstehendes Lesen zuständig ist.
Mit dem farbigen Markieren wird der Kurzzeitspeicher bzw. das Arbeitsgedächtnis im Frontalhirn aktiviert und gleichzeitig überfordert: Das Arbeitsgedächtnis ist zu beschränkt, als dass es auf Anhieb und in kurzer Zeit in verschiedenen Farben markierte Fakten im Wissensgedächtnis langzeitspeichern könnte; im geschilderten Fall versagt das Multitasking (Klingberg 2008). Es ist auch eine Überforderung des Gehirns, sich in so kurzer Zeit einen größeren Text einen Tag vor der Prüfung mit einer Art gehäuftem Repetieren einprägen zu wollen. Eigentlich weiß dies Ruth intuitiv und unausgesprochen (implizit), deshalb will sie ja am nächsten Morgen den Text nochmals überfliegen, was auch nicht besonders effizient ist, denn das gleichförmige und wiederholende Lesen signalisiert dem Gehirn: Nichts Neues, nichts Spannendes, nichts Überraschendes, es ist keine besondere Aufmerksamkeit nötig! Kurz und gut: Ruth lernt alles andere als gehirngerecht – obschon sie damit im Moment auch einen gewissen Erfolg haben kann. Zudem lernt Ruth leicht angstbelastet, was an sich nicht schlimm, aber auch nicht förderlich ist, weil der Aufbau von vernetztem und komplexem Wissen besser nicht mit stark aktiviertem Angstzentrum (Amygdala) erfolgt.
Wie kann Ruth gehirngerecht lernen?
Lernentschluss: Ich will den inneren Widerstand überwinden und jetzt Geschichte lernen. Ich kann erfolgreich sein.
Lernziel: Ich will den Text gründlich durcharbeiten und mich auf die Prüfung vorbereiten.
Priorität: Ich erledige jetzt noch eine SMS. Auf die Sitcom verzichte ich momentan und nehme sie auf DVD auf. Ich reserviere für das Lernen zwei Stunden und morgen früh eine Stunde zur Repetition.
Lernplan: Zuerst lese ich den Text, ohne etwas anzustreichen, durch. Dann markiere ich mit Bleistift die Abschnitte. Dann bearbeite ich den Text, indem ich Kolonnen mache und eintrage: Wann – hat sich was ereignet – mit welcher Wirkung? – Merkhilfe – Prüfungsfrage.
Es ist günstig, wenn Ruth einige Lernstrategien, das heißt Verfahren des Bearbeitens, Organisierens, Einprägens und Abrufens kennt. Man kann diese Lernstrategien etwas feinkörniger auch als Zusammenspiel von Lern- und Arbeitstechniken bezeichnen, wie sie unten für die Textbearbeitung erwähnt werden.
Wie kann Ruth an ihrem Text arbeiten?
Neuropsychologisch heißt Lernen so viel wie »neuronale Netze« aufbauen, »Verbindungen stärken« usw. Dies geschieht auf der Ebene von Zellen und Nervenverbindungen. Auf das praktische Lernverhalten bezogen heißt das: Man muss an der Sache etwas tun. Was kann man an einem Text alles tun? Und in welcher Reihenfolge?
Still lesen – vorlesen – laut lesen, auf Tonband aufnehmen – vom Tonband hören – Wichtiges unterstreichen – Randnotizen machen – Abschnitte identifi-zieren – Textstruktur skizzieren – Text unterteilen – Zwischentitel setzen – Begriffe definieren – Textanalyse – Skizzen machen – semantisches Netz schreiben – Assoziationen festhalten – Satz um Satz paraphrasieren – Ursachen/Folgen identifizieren – Widersprüche entdecken – Text umstellen – Personen charakterisieren – schlussfolgern – Zusammenhänge aufzeigen – Schaubild entwickeln – Kernaussagen visualisieren – übersetzen – Text korrigieren/verbessern – Text kürzen – zusammenfassen – in ein Drehbuch übersetzen … usw.
»Das Gehirn verstehen« ist natürlich ein komplexes und anspruchsvolles Vorhaben, an dem mehrere Wissenschaften (Neurobiologie, Neurophysiologie, Neuropsychologie, Neuropharmakologie usw.) arbeiten. Die meisten Ergebnisse der Neurowissenschaften lassen sich nicht naiv und direkt auf Lernprobleme anwenden, man ist auf das Vorverständnis der Kognitionspsychologie, der Lernpsychologie, der Lehr-Lern-Forschung und Didaktik angewiesen.
Sowohl das aktive, selbstgesteuerte und bewusste, als auch das rezeptive, mehr passive und unbewusste Lernen ist an das Gehirn gebunden.
Lernen ist ein neuronales Ereignis.
Gehirngerecht ist das Lernen, wenn es neuronalen Strukturen und Funktionen angemessen ist und insofern es die auf Plastizität beruhenden Potenziale fördert. Diesbezüglich gleicht der Terminus »gehirngerecht« den Begriffen kindgerecht, entwicklungsgerecht, stufengerecht, sachgerecht, ziel- und methodengerecht.
1.2 Was geschieht im Gehirn, wenn wir lernen?
Es gibt mindestens drei Zugänge zum wissenschaftlichen Verstehen des Lernens: