vertraut, denen in meinem Besinnen und Gedenken eine Sonderstellung zukommt: Einerseits handelt es sich um Geschehnisse, die mich nicht nur fesselten, als sie sich ereigneten – sondern um Situationen, in denen ich auch mich selbst nebenbei, d.h. parallel zum äußerlich Ablaufenden, als einen das Geschehende Beobachtenden innerlich wahrnahm. Anderseits haben sich mir die angedeuteten Vorgänge und Ereignisse derart kräftig und klar ins Gedächtnis eingeprägt, dass ich mich an sie immer wieder zu erinnern vermag, oder aber deren Vergegenwärtigung sich mir nolens volens stets von neuem aufzwingt. Dazu gehören unter anderem:
(a) Organempfindungen, die ich hatte oder gerade habe sowie die daran aufscheinenden moderaten oder aber daraus entfachten aufwühlenden, mitreißenden Affekte: Lust und Behagen bzw. Unlust und Schmerz;
(b) Die in obliquo (d.h. nebenbei) Vordergründiges begleitende, einhergehende innere Wahrnehmung meiner selbst als eines etwas Beobachtenden, Vorstellenden, Urteilenden, Fühlenden, Wünschenden, Wollenden und Erleidenden; mit anderen Worten: die innere Wahrnehmung meiner selbst als Einen sich auf etwas Beziehenden;
(c) Die deutliche Anwesenheit einer Intention, die ich mir gesetzt habe bzw. die Vergegenwärtigung einer an mich selbst gerichteten Forderung, wie ich zu handeln hätte – und der damit verknüpfte Entschluss, auszuharren, die gesetzte Intention zu befolgen und die Tat, zu der ich mich selbst verpflichtet habe, zu vollbringen;
(d) Ein nicht deutlich geklärtes Sehnen und Wünschen, ein zaghaftes In-Aussicht-Stellen, ein zögerndes Einlenken in einen Vorschlag.
Erfahrungen genannter Art sind entweder organgebunden oder am eigenen Vollzug selbst einzufangen und zu ergreifen – womit sie sich als ausschließlich mir selbst direkt zugänglich kundtun und sich unmittelbarer Fremdwahrnehmung entziehen. Aber sowohl diese an den eigenen Körper-Leib geknüpften und auf ihn bezogenen Empfindungen und Affekte als auch die den eigenen Denk- und Entscheidungsprozess begleitende innere Wahrnehmung müssen wir von anderen seelischen Kategorien unterscheiden, welche der Fremdwahrnehmung nicht in gleichem Maße verschlossen sind.
Zu diesen letzteren, der Fremdwahrnehmung zugänglichen Erfahrungen gehören die sich stets auf ein Objekt richtenden Gefühle, wie zum Beispiel die Freude über etwas, das Unbehagen angesichts einer Nachricht, der Zorn über einen zu Unrecht erlittenen Verweis, die Trauer über ein Zerwürfnis mit einem Freund, die Furcht vor einem Unbekannten im Wald; ferner die Gedanken, Urteile und Zielvorstellungen, die ich lange gehegt habe und die mich begeistern. Und bei allem Genannten dürfen wir nicht vergessen, auf die Bewegungen und Mienen zu achten, mit welchen sich beispielsweise mein Zögern sowie mein zaghaftes Hin-und-Her äußern und verraten. Jede derartige Verhaltensweise zeigt an ihr selbst untrügliche Merkmale, die einer Fremdwahrnehmung zugänglich sind und auf die zu achten wir uns schulen können. In diesem seelischen Sektor gilt: Was wir an uns selbst klar und deutlich erfahren, befähigt uns, im Laufe vieler Erlebnisse und Beobachtungen, ähnlich geartete Phänomene auch am Anderen wahrzunehmen und sinngemäß zu deuten.
So bilden alle angedeuteten Erfahrungen eine Teilmenge jener psychischen Phänomene, deren Gehalt und Bedeutung nicht bloß dem Individuum A unmittelbar zugänglich sind, welches die betreffenden Vorgänge erlebt, sondern auch einem Fremden – insoweit dieses Individuum B fähig geworden ist, aus der Gesamterscheinung des ihm begegnenden A die unter einer bestimmten Kategorie fallenden Äußerungen auszusondern und das sich darin Manifestierende zu erfassen. Gelingt ihm dies, so hat B in sich den entsprechenden seelischgeistigen Gehalt nachgebildet. Damit sind die inhaltlichen Vorgaben für die sich daran anschließenden weiteren Erkenntnisschritte in B nicht grundsätzlich anders als in A.
Indem der Fremde, also B, in der skizzierten Weise aus der unmittelbaren Begegnung mit dem A den Gehalt der psychischen Phänomene herauslöst, die A erfährt und zum Ausdruck bringt, begegnet er einerseits auch dem Anderen als individuellem Träger der betreffenden Stimmungen und objektbezogenen Gefühle, Gedanken und geäußerten Urteile und Entschlüsse; anderseits nimmt er, während er diese Äußerungen empfängt und deren Gehalt in sich selbst nach-erzeugt, in obliquo sich selbst als denjenigen wahr, der fühlt, vorstellt, urteilt, entscheiden kann.
4. Fundamentale Menschenrechte
Psychische Tatsachen (Erlebnisse, Prozesse) in engerem Sinne, die sich nicht auf ein Etwas als Objekt bezögen, sind ebenso wenig denkbar wie psychische Phänomene in engerem und weiterem Sinne, die unabhängig von einem sie erfahrenden Individuum wären: So gibt es keine Liebe, ohne Liebenden und Geliebtes; keinen Zorn, ohne Erzürnten und das, worauf sein Zorn gerichtet ist; keine Vorstellung, ohne jemanden, der ein Etwas vorstellt. Und im schwer ergründbaren Bereich der seelischen Grundbefindlichkeit gehört zu jeder gedrückten und zu jeder gehobenen Stimmungsnuance ein die betreffende Befindlichkeit erlebendes Subjekt. Daher ist dem für ein Fremd-Ich Blinden und Tauben alles Seelisch-Geistige höchstens in defizienter, rudimentärer Ausprägung zugänglich. Wer beispielsweise die Furcht, ohne den sich Fürchtenden zu erfahren und zu verstehen sucht, denkt abstrakt. Darüber hinaus muss ihm letztlich die Qualität all jener Phänomene verborgen bleiben, die, ohne dass sie auf bestimmte Gegenstände gerichtet wären, personengebunden auftreten, wie dies bei den Stimmungen der Fall ist.
So wird der für ein fremdes Ich Abgestumpfte hinsichtlich seelischer Erfahrungen im Wesentlichen zurückgeworfen auf das Erleben eigener Organempfindungen und der daran gebundenen Affekte. Und weil er Anderen nicht zubilligt, dass sie aus sich heraus originäre Intentionen setzen können und freie Entschlüsse zu ergreifen vermögen, kann er – der keinen Freien toleriert – sich auch nicht als ein Freier unter Freien bewähren.
Fremde Ichs wahrzunehmen, impliziert, sie als da-seiend anzuerkennen, und dies geht einher mit dem Vermögen, das, was jene fühlen, vorstellen und beabsichtigen, in mir selbst als solches zu intendieren. Damit zusammenhängend, wird des Einzelnen Drang, sich auszubreiten und zu imponieren, mit der Präsenz eines Anderen und dem Interesse für das, was ihn beschäftigt, gebremst: die äußere Gegenwart des Anderen, aber auch die innere Beschäftigung mit seinen Anliegen stellen sich der ungehemmten Daseinsentfaltung meiner selbst entgegen, sie hemmend und relativierend.
In dem Maße wie ich im Anderen ein dem Eigen-Ich entsprechendes Fremd-Ich vernehme, verwandelt sich dessen Person für mich in ein mir gleichrangiges Rechtssubjekt – und von diesem Augenblick an bin ich bereit, den rationalen Rechtsdiskurs zu eröffnen, der zur eigentlichen Begründung und Entwicklung der Rechtssphäre führt. Nur insofern ich den Anderen als ein Wesen, dem Rechte (und damit auch Pflichten) zukommen, gelten lasse, erfasse ich mich selbst realiter als Rechtssubjekt – im Austausch mit dem Anderen.
Dadurch, dass wir uns selbst in einer langen Folge von Ablösungsschritten (von Mutter, Vater, Mentoren, Idolen) als werdende Persönlichkeiten zu begreifen suchen, können wir das Vorhandensein fremder Ichs faktisch nicht leugnen. Von früher Kindheit an haben wir uns immer wieder veranlasst gesehen, uns bestimmten Ansprüchen, Übergriffen, Vorschriften Anderer zu widersetzen, uns ihrer Besorgnis und anmaßenden Präsenz zu entziehen – dies freilich in unterschiedlicher Radikalität. Weil jeder Einzelne seinen jeweiligen Persönlichkeitsstand mannigfachen Absetzungen, Negationen und fortgesetzten, langwierigen Verhandlungen verdankt, ist ihm der Wert von Auseinandersetzungen vertraut. Und damit hat er, vielleicht ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, im Verlauf seiner eigenen Entwicklung einen rationalen, rechtlichen Diskurs praktiziert. Wer sich dieser Sachlage bewusst wird, dem leuchtet die feinsinnige Beobachtung von Carlos Santiago Nino (3.11.1943–29.8.1993) in ihrer ganzen Brisanz auf: «Sogar die schamlosesten Tyrannen fühlen sich dazu verpflichtet, eine gewisse Rechtfertigung für ihre Handlungen anzubieten, und dieser Rechtfertigungsversuch – wie plump und scheinheilig er auch sein mag – öffnet den Weg zu aufklärender Diskussion»12.
Besinnen wir uns nun auf die im Vorangegangenen hervorgehobenen Momente der Individualentwicklung, des Anerkennens von fremden Ichs, der rechtsrelevanten Beziehungsfiguren und der allgemeinen