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2. Insoweit eine Beziehung, die zwei Individuen zueinander eingehen (bzw. in der sich zwei Rechtssubjekte vorfinden), sich auf eine der aufgelisteten rechtsrelevanten Formen reduzieren lässt, kommt dem betreffenden Gefüge urphänomenale Bedeutung zu.
3. Da es nicht möglich ist, dass sich eine bestimmte rechtliche Beziehungsfigur zwischen zwei Individuen entfalte, d.h. konkretisiere, ehe sie sich dazu entschlossen haben, ihre Rechtsrelation in deren Sinne zu regeln – wobei sie selbst bestimmende Elemente der Beziehung bilden –, stellt die verwirklichte, reale Rechtsrelation weder eine reine Begriffsbeziehung noch ein den Individuen von irgendeiner Autorität oktroyiertes Gebot moralischer, religiöser oder gruppenspezifischer Natur dar. Anders gesagt: Echte Rechtsrelationen ergeben sich nur dann, wenn Individuen sie in wechselseitigem, rechtlichem Diskurs aushandeln und umsetzen.
2. Negieren als Ursprung des Rechtsbewusstseins
Mit dem Hinweis auf die Fähigkeit, Intentionen zu erfassen und zu setzen und das darin Postulierte zu befolgen, habe ich einen Grundzug individuellen Erkennens und Handelns hervorgehoben. Aufzuzeigen bleibt – unter anderem –, woraus der im Setzen sich äußernde Wille erwächst und sich dann im rechtlichen Diskurs äußert. Unterscheiden sollten wir dabei zwischen der erkenntnislogischen und der entwicklungsgeschichtlichen Sichtweise:
(i) Erkenntnislogisch kann es einen Willensimpuls, bei dessen Aufblitzen und Umsetzen das ihn ergreifende, ihn wollende Subjekt sich nicht aus einem gegebenen Zustand zu lösen begänne, nicht geben. Selbst wer sich dazu durchgerungen hat, letztlich in den herkömmlichen Verhältnissen auszuharren, musste einen Augenblick lang Abstand gewinnen, so dass er die Eigentümlichkeit des bis zum betreffenden Zeitpunkt herrschenden Zustandes sichten und überprüfen konnte – um erst dann, mit einem neu gefassten Entschluss, von einer Veränderung abzusehen. Das heißt: Wer nach einigem Erwägen sich dazu entschlossen hat, beim staus quo zu bleiben, hatte, während er das Für und Wider erwog, teil- und zeitweise Abstand zu dem ihm Vertrauten genommen – auch wenn er danach zu ihm zurückkehrte und bei ihm geblieben ist. In viel höherem Maße dokumentiert natürlich derjenige, der daran geht, etwas zu verändern, dass er sich vom Bisherigen abgewandt hat. Dennoch inhärieren beiden Bewegungsfiguren Momente des Negierens, sei es im zeitlich begrenzten Loslösen, sei es in der entschiedenen Abwendung.
(ii) Entwicklungsgeschichtlich ist hier jene Phase im frühen Werdegang eines Menschen relevant, auf die Harold J. Berman mit folgenden Worten hinweist: «Sobald ein Kind die Prinzipien der Gleichheit, Widerspruchsfreiheit und des Einhaltens eines Versprechens oder einer Regel anruft – um beispielsweise darzulegen, es habe Anrecht auf ein bestimmtes Spielzeug, weil: (a) sein Bruder es zuvor gehabt habe; (b) sie einander immer ablösten damit; (c) es seines sei und (d) der Vater es so gesagt habe –, macht es Sinn, von einer Berufung auf das Recht oder auf ein Gesetz oder eine Regel zu sprechen»7. Gewiss gibt es Richtungen der Kindererziehung, in denen man die Kinder ermahnt oder lehrt, von derartigen Auseinandersetzungen abzusehen. Aber die Tatsache, dass man den Kindern das Sich-Rechtfertigen ausreden muss, bildet «eine gewisse Bestätigung [some evidence] dafür, dass sich darin ein Prinzip widerspiegelt, welches dem Herausbilden der sozialen Ordnung selbst innewohnt»8. Dies gemahnt an den harten Spruch des Heraklit: «(Πόλεμος πάντων μὲν πατἡρ ὲστι) – Der Zwist [der Streit, die Auseinandersetzung, der Krieg] ist der Vater aller Dinge»9. Während erkenntnislogisch das Setzen einer Intention im Negieren verankert ist, kommt entwicklungsgeschichtlich der Willensentschluss, an das Recht zu appellieren, vor allem als Aufbegehren gegenüber Bestimmungen (zum Beispiel Teilungsvorschriften) zum Vorschein, welche dem seiner Würde und seines Wertes sich bewusst Werdenden als ungerecht und nicht begründet aufstoßen. Mit der Infragestellung des wie auch immer Gegebenen fängt der Einzelne an, eigenen Intentionen nachzugehen und sich selbst zu behaupten.
Diese Fähigkeit eines Menschen, eine gegebene Situation nicht telle quelle zu akzeptieren, sondern an der konkreten Ausgestaltung der Rechtssphäre, an der er teilhat, mitzuwirken, können wir, anknüpfend an Hannah Arendt, als das fundamentale formale Recht ansehen, je selbst ein Rechtssubjekt zu sein, dem Pflichten zukommen – und welches zugleich Inhaber geschützter Rechtsgunst ist10.
Wenn ein normal veranlagtes Kind nicht fähig wird, sich selbst als Subjekt von Rechtsbürde und Rechtsgunst zu erkennen, haben ihn vermutlich in vielen Fällen die für seine Daseinsentfaltung maßgebenden Menschen in defizienter Weise wahrgenommen und behandelt. Ins Allgemeine übertragen bedeutet dies: Wer einen anderen Menschen zur Subjektlosigkeit degradiert, nimmt ihn nicht als fremdes, ihm ebenbürtiges Individuum wahr. Doch indem jener diesem Anderen dessen Subjektität (das heißt: dessen Dignität, als vollwertiges Subjekt zu gelten) aberkennt, verliert er einen ihm gleichwertigen Kontrahenten – sich selbst damit den Zugang zur eigentlichen Rechtssphäre versperrend; denn diese gestaltet und erhält sich nur im wechselseitigen Diskurs gleichgestellter Individuen. Wer also einen Anderen zum rechtlosen Wesen entwürdigt, verengt sein eigenes seelisches Wahrnehmungsvermögen noch in einer weiteren, gravierenden Weise. Dies wird deutlich, wenn man analysiert, wie bei einer Begegnung Eigen- und Fremdwahrnehmung ineinandergreifen.
3. Fremdwahrnehmung als Grundlage von Rechtsbeziehungen11
Beruht das Wesen echter Rechtsbeziehungen darin, dass zwei Individuen aufeinander zukommen und hinsichtlich eines bestimmten Sachverhaltes beschließen, eine für beide verbindliche Beziehungsform festzulegen, so kann eine derartige Relation nur zustande kommen, wenn die Individuen einander in actu als ebenbürtige bzw. gleichwertige Subjekte erfassen und anerkennen.
Wie aber weiß einer sich als Ich Verstehenden vom Vorhandensein eines fremden Ichs als dem Wesenskern eines ihm Begegnenden? In anderen Worten: Wie vermag ich – der ich mich als Einzelnen innerlich wahrnehme, empfinde und begreife – einen Anderen als Einzelnen so wahrzunehmen und zu erfassen, dass ich ihn als mir Gleichwertigen anerkennen kann?
Philosophisch-erkenntnistheoretisch handelt es sich um eine anspruchsvolle, delikate Aufgabe, enthält ja bereits die soeben formulierte Fragestellung versteckte Annahmen (z. B. über das Selbstverständnis des Fragenden), die nicht a priori evident sind. Aber unabhängig davon, ob ich die genannte Aufgabe zu lösen vermag, ist es für mein alltägliches soziales Dasein und Auskommen pragmatisch von entscheidender Relevanz, dass ich einen anderen Menschen, mit dem ich eine uns beide angehende Beziehungsform in rechtlicher Hinsicht auszuhandeln und festzulegen beabsichtige, als einen mir Ebenbürtigen auffasse und anerkenne.
Darüber hinaus ist es von bestimmender Bedeutung, dass wir beide davon ausgehen dürfen, wir seien Individuen beständiger Subjektität. Würden wir dies nicht voraussetzen, könnten wir keine der oben skizzierten Rechtsbeziehungen zueinander eingehen; denn jede Relation, die zwei Menschen miteinander vereinbaren, gilt für ein künftiges Zeitintervall, unabhängig davon, ob letzteres von einer festen oder einer unbestimmten Dauer sei. Daher müssen wir, als Rechtspartner in spe, stillschweigend annehmen, dass jeder von uns über die persönliche Beständigkeit verfüge, welche für die Geltungsdauer des zu Vereinbarenden grundsätzlich erforderlich ist. Damit einhergehend, sollten wir zusätzlich vorsehen, was im Falle eines vorzeitigen Ablebens einer bzw. beider von uns zu geschehen habe.
Nun lassen sich derartige Annahmen und ins Detail gehende Erwägungen über die reale äußere Beständigkeit eines sich willentlich in eine Rechtsbeziehung Begebenden nur auf der Basis von mehr oder weniger bewussten, allerdings selten ausdrücklich formulierten Plausibilitätsüberlegungen und Überzeugungen entwickeln. Hierzu zählen unter anderem folgende Vorstellungen:
Aus dem Erlebnis- und Erfahrungsstrom, in den ich teilweise unvermittelt