Bernardo Gut

Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit


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die darin gründende Beziehung spielen, verlassen hat.

      Vergleichen wir:

      (a) Wer als Versprochenhabender die Verpflichtung, die er eingegangen ist, erfüllt, befreit sich von der Beziehung zum Adressaten, indem er den Inhalt des Versprechens aufhebt.

      (b) Wer als Versprechensadressat auf die Erfüllung seines Anspruches verzichtet, entbindet den Versprochenhabenden von dessen Verpflichtung, indem er das Versprechen formell auflöst.

      Im ersten Fall [(a)] bleibt der Adressat wegen der erfahrenen Genugtuung inhaltlich (jedoch nicht rechtlich) an den Kontrahenten gebunden; dieser, hingegen, hat sich vollumfänglich befreit. Im zweiten Fall [(b)] verweigert der Adressat die Beziehung, und der Versprochenhabende, der noch formell (wenn auch nicht rechtlich) auf den Adressaten bezogen bleibt, muss sich damit abfinden und sich neu orientieren.

      Wir ersehen hieraus, dass in jedem der beiden Fälle jeweils einer der beiden Kontrahenten sich von der entstandenen Beziehung ganz löst, während sich für den anderen die Beziehung zwar rechtlich aufhebt, er aber zunächst darin in einem gewissermaßen ein-sinnigen Bezug verharrt. Dabei bleibt im Fall (a) der Versprechende für den Anderen in psychologischer Hinsicht prinzipiell erreichbar, denn er befreite sich zwar von seiner Verpflichtung, hat aber dadurch nicht unbedingt eine höhere Ebene betreten. Im Fall (b) jedoch hat der Adressat genau dies getan: sich in eine höhere Ebene entzogen, die für seinen Kontrahenten nicht mehr erreichbar ist.

      Darin manifestieren sich einerseits Härte und Überlegenheit des absoluten Rechts gegenüber dem relativen. Anderseits bekundet der auf die Erfüllung des Anspruches Verzichtende, dass er sich selbst genügt und die durch den Verzicht markierte Unabhängigkeit jeder inhaltlichen Bindung vorzieht, welche durch das, was sein Kontrahent vollzieht, nolens volens vermittelt wird. Der Verzichtende optiert für die Einsamkeit; faktisch zwingt er damit aber auch den Versprochenhabenden dazu, sich auf sich selbst zu besinnen.

      Mit jedem formulierten und durchgezogenen Verzicht bekräftigt der Einzelne grundsätzlich, dass er in sich selbst eine Instanz gefunden hat, die weder von dem je gerade erreichten Zustand abhängt, noch sich von irgendwelchen äußeren Zuwendungen und Verhältnissen fesseln lässt.

      8. Zusammenfassung und Ausblick

      Ausgegangen bin ich von der Frage, ob es in der Rechtssphäre apriorische Gesetzmäßigkeiten, das heißt: Urphänomene, gibt, die unabhängig von den jeweils herrschenden äußeren Machtverhältnissen sind. In Übereinstimmung mit den bahnbrechenden Untersuchungen Adolf Reinachs gilt hinsichtlich der relativen Rechte:

      1. Es gibt durchaus Rechtsgebilde, denen wesenseigene, formale Gesetzmäßigkeiten innewohnen, die unabhängig sind von äußeren Einflüssen, insbesondere von jeglicher Willkür.

      2. Bei einem relativen Rechtsgebilde vom Typus eines Versprechens und eines Vertrages bildet jeweils ein sozialer Akt folgender Geartetheit die unentbehrliche Voraussetzung dafür, dass das betreffende Rechtsgebilde in Rechtskraft erwächst:

      a) Der Versprechende muss das, was er zu versprechen gewillt ist, mündlich oder schriftlich äußern;

      b) Der Adressat muss die Äußerung vernehmen und deren Sinn erfassen.

      3. Der Anspruch des Adressaten bzw. die Verbindlichkeit, welche der Versprechende eingegangen ist, können auf zwei Weisen erlöschen:

      a) Indem der Versprochenhabende die eingegangene Verpflichtung einlöst;

      b) Indem der Adressat auf die Erfüllung seines Anspruches verzichtet.

      4. Wenn der Adressat verzichtet, macht er ein absolutes Recht geltend, dem auf Seiten des Versprochenhabenden nichts Gleichwertiges bzw. Ebenbürtiges entspricht. Psychologisch gesehen, löst der Verzichtende die mit dem Versprochenhabenden eingegangene Beziehung auf, während dieser, sofern er das Versprochene erfüllt, die Beziehung aufhebt.

      5. Inhaltlich kann die faktische Rechtsgültigkeit eines Versprechens oder eines Vertrages aus zweierlei Gründen eingeschränkt oder aufgehoben werden:

      a) Wenn der Inhalt des Versprechens oder Vertrages Rechtsprinzipien und / oder sittlichen Normen widerspricht, die von der jeweiligen Rechtsgemeinschaft als grundlegend angesehen werden.

      b) Wenn die positiv-rechtliche Gesetzgebung einer Rechtsgemeinschaft Bestimmungssätze enthält, die verhindern, dass bestimmte formal-apriorische und / oder inhaltliche Implikationen aus einem zustande gekommenen Versprechen oder Vertrag gezogen werden dürfen.

      6. Aus dem unter 4. und 5. Referierten ergibt sich ein weiteres – übergeordnetes – rechtliches Urphänomen, nämlich, dass es in letzter Instanz nicht möglich ist, ein konkretes Versprechen oder einen konkreten Vertrag losgelöst von der übrigen Rechtssphäre zu beurteilen.

      7. Die Urphänomene, die wir besprochen haben, sind streng apriorischer Natur, aber sie betreffen – insofern ihnen ein positiver inhaltlicher Sozialcharakter zukommt – nur Rechtsgebilde relativer Natur. Das ebenfalls aufgewiesene absolute Recht auf Verzicht ist demgegenüber von negativem inhaltlichem Sozialcharakter. Damit stellt sich zunächst die Frage,

      (i) ob es auch absolute Rechte positiven inhaltlichen Sozialcharakters gibt.

      Da wir, darüber hinaus, gesehen haben, dass der Inhalt von Versprechen und Verträgen mit bestimmten Rechtsprinzipien und sittlichen Anschauungen einer Rechtsgemeinschaft in Einklang zu stehen hat, sollen sie innerhalb der betreffenden Gemeinschaft gelten, stellt sich die weitere Frage;

      (ii) ob es möglich ist – ausgehend vom Begriff des menschlichen Individuums bzw. der sich auf Individualität gründenden Persönlichkeit –, absolute Rechtsprinzipien auszuweisen, die den Besonderheiten der einzelnen Rechtsgemeinschaften vorausgehen.

      Einigen Aspekten dieser Fragen, die sich – meiner Überzeugung nach – erst auf der hier entworfenen Basis, gemäß welcher es Sinn macht, nach objektiven rechtlichen Urphänomenen zu suchen, angehen lassen, sind die folgenden zwei Aufsätze gewidmet.

      Anmerkungen

      1 Grotius, H., De iure belli ac pacis. Libri tres, in quibus jus Naturae & Gentium, item juris publici præcipua explicantur. Editio Nova. – Amsterdami: Apud Iohannem Blaev, 1646, Prolegomena, S. 5 (§ 22).

      2 Goethe, J. W. v., Naturwissenschaftliche Schriften. Bd. I–IV (1./2. Abteilung), herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von R. Steiner. - Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft, o. J. [1921]; Neudruck Dornach: R. Steiner Verlag, 1975. Bd. IV, 2. Abteilung, S. 481).

      3 Vgl. Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. III: «Farbenlehre, Physische Farben», § 153 (Grundphänomen), § 174 (Definition des Ausdruckes ‹Urphänomen›).

      4 Steiner, in Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. II, S. XLIX.

      5 Steiner, in Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. II, S. I.

      6 Steiner, R., Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (1919). – Stuttgart: Der Kommende Tag, 1920, S. 62.

      7 Vgl. Steiner, R., Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung (1894/1918). – Dornach: R. Steiner Verlag, 1973, 13. Aufl., z.B.: «Wenn wir das Gesetzmäßige (Begriffliche in dem Handeln der Individuen, Völker und Zeitalter) aufsuchen, so erhalten wir eine Ethik, aber nicht als Wissenschaft von sittlichen Normen, sondern als Naturlehre der Sittlichkeit» (S. 161). Ferner: «Die moralische Phantasie und das moralische Ideenvermögen können erst Gegenstand des Wissens