Bernardo Gut

Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit


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mit ernüchternder, je erschreckender Deutlichkeit, dass wir bei der Suche nach inhaltlich verbindlichen Urphänomenen der Rechtssphäre und nach einer ethischen, wesensgemäßen Grundlegung der Menschenrechte uns weder direkt auf die denkerischen Ansätze Steiners berufen können, noch eine explizite moralische Stütze in Aussagen Goethes finden werden. Wer, enttäuscht, daraufhin das Schrifttum vieler anderer, zeitgenössischer und insbesondere «klassischer», Denker konsultiert, dürfte über ähnliche unbehagliche Erfahrungen zu berichten haben. Sehen wir uns kurz bei vier Philosophen um:

      Wie könnten wir uns bezüglich der genannten Fragen auf Platon berufen, der die Sklavenhaltung als selbstverständlich hinnahm?10. Was müssen wir von Thomas von Aquin halten, der die rücksichtlose Ausrottung der Häretiker propagierte?11 Mit welcher Skepsis müssen wir Hegels Werk begegnen, der die damalige, autoritäre Gestalt des preußischen Staates zu rechtfertigen suchte?12 Und was dürfen wir von Heidegger übernehmen, ohne Gefahr zu laufen, unbemerkt nationalsozialistische Gedankenkeime mitzuverwenden?13

      Damit stehen wir vor der Frage, ob wir tatsächlich nur zwischen einem willkürlich gesetzten kategorischen Imperativ, der, pointiert gesagt, den Einzelnen festnagelt14 – und einem simplifizierten ethischen Individualismus15, der jegliche allgemeine Verbindlichkeit vermissen lässt, wählen können. Oder gibt es ein Drittes, nämlich objektive Rechtsgesetze, die dem ethisch Unfreien zwar vorgeschrieben werden müssen, die sich jedoch auch der Freie zu eigen macht, weil er deren grundlegende Bedeutung einsieht?

      Sollte Letzteres zutreffen, so bestünde unsere Aufgabe darin, in freier Erkenntnisarbeit jene Rechtsgesetze aufzudecken, die einerseits an sich bestehen, anderseits auch äußerlich gelten müssen, soll sich jedes einzelne menschliche Individuum grundsätzlich zu einer freien Persönlichkeit entwickeln können. Sofern die gesuchten Gesetze einen derartigen Prozess fördern bzw. erst ermöglichen, hätten sich zwar die oben angeführten Ansichten Steiners über das Rechtswesen hinsichtlich der apriorischen, rein gedanklichen Ebene als unhaltbar herausgestellt, dieser Mangel hieße jedoch nicht zwingend, dass die erkenntnistheoretischen und freiheitsphilosophischen Ansätze Steiners und Solov’evs16 mit den – vorerst noch hypothetischen – Urphänomenen der Rechtssphäre unvereinbar seien. Wie es sich diesbezüglich verhält, wird sich erst im Laufe der Untersuchung erweisen.

      Da die Probleme, um die es in diesem ganzen Kontext geht, außerordentlich vielschichtig sind, will ich mich in diesem Aufsatz auf eine einzige Frage konzentrieren: Gibt es objektive, apriorische Rechtsgesetze, d.h. rechtliche Urphänomene?

      Gäbe es keine rechtlichen Urphänomene, könnte in der Rechtssphäre nie prinzipiell argumentiert werden; wir wären stets an willkürlich gesetzte Ausgangssätze gebunden, die sich je nach den Ortsgegebenheiten und den Zeitumständen ändern würden, das heißt: sich nach den herrschenden Machtverhältnissen richteten. Ließen sich jedoch echte rechtliche Urphänomene aufweisen, dann würde ein auf verbindlichen Prinzipien fundiertes Rechtsdenken etabliert. Dies müsste sich – wenngleich langsam und durch Rückfälle immer wieder bedroht und behindert – sowohl auf die positiv rechtliche Gesetzgebung als auch auf die bürgerliche Rechtsprechung fördernd und korrigierend auswirken.

      Solange die angeführte, grundlegende Frage nicht geklärt ist, vermögen wir auch nichts Verbindliches darüber auszusagen, ob es, beispielsweise, ein objektives, apriorisches Recht auf Eigentum gibt, oder, allgemeiner gefasst, ob es überhaupt Sinn macht, von Menschenrechten zu sprechen – diese verstanden als apriorische, wesensgesetzlich verankerte Urphänomene. Und wenn wir einsehen müssten, dass es aus gegenstandsimmanenten Gründen weder formale noch inhaltliche Rechtsprinzipien geben könne, hieße dies, dass das gesamte Rechtsdenken eines echten theoretischen Fundaments entbehrt und sämtliche Rechtssatzungen – paradoxerweise: notwendig – entweder einem Diktat entspringen oder auf letztlich unverbindlichen Konventionen beruhen. Wie auch immer die Antwort ausfallen mag: erkenntnistheoretisch steht viel auf dem Spiel, und die Konsequenzen in handlungspraktischer Hinsicht sind beträchtlich.

      1. Rechtliche Gebilde –

      Gegenstand positiver Rechtssprechung17

      In seiner Abhandlung «Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes» (1913) geht Adolf Reinach davon aus, dass die in einem bestimmten Gemeinwesen als verbindlich anerkannten Rechtssatzungen sich in ständigem Fluss und fortlaufender Veränderung befinden. Maßgebend für die Rechtsentwicklung seien die unentwegt wechselnden wirtschaftlichen Verhältnisse und Bedürfnisse sowie die in der Gemeinschaft vorherrschenden sittlichen Anschauungen. So unterscheiden sich die positiv-rechtlichen Bestimmungen, die in dem bürgerlichen Gesetzbuch eines bestimmten Staates enthalten sind, ganz wesentlich von naturwissenschaftlichen und namentlich von mathematischen Sätzen. Dass – um ein Beispiel zu nennen – innerhalb des Rahmens der euklidischen Geometrie beim rechtwinkligen Dreieck die Fläche des Hypotenusen Quadrates gleich der Summe der Flächen der beiden Kathetenquadrate ist, «das ist ein Zusammenhang, der von manchen Subjekten vielleicht nicht eingesehen wird, der aber unabhängig von allem Einsehen besteht, unabhängig von der Setzung der Menschen und unabhängig von dem Wechsel der Zeit»18.

      Sehen wir uns demgegenüber folgende Bestimmung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches über «Verwaltung, Nutzung und Verfügung von Errungenschaft und Eigengut im ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung» innerhalb des Familienrechts an. Art. 201 lautet: «Innerhalb der gesetzlichen Schranken verwaltet und nutzt jeder Ehegatte seine Errungenschaft und sein Eigengut und verfügt darüber»19. Dies ist der seit dem 1.1.1988 gültige Gesetzestext. Nach dem alten Eherecht lauteten die entsprechenden Bestimmungen folgendermaßen: Art. 200: «Der Ehemann verwaltet das eheliche Vermögen. Er trägt die Kosten der Verwaltung …»20 Und Art. 201: «Der Ehemann hat die Nutzung am eingebrachten Frauengut und ist hieraus gleich einem Nutznießer verantwortlich»21.

      Deutlich ist erkennbar, dass früher etwas als rechtlich «richtig» galt, das, von der heute vorherrschenden sittlichen Auffassung aus betrachtet, als befremdliches Unrecht erscheint. Aber so wenig die frühere Bestimmung sich als immanent wahr und als unabhängig vom Wechsel der Zeit erwies, so wenig dürfen wir den gegenwärtig geltenden Gesetzeswortlaut als unabänderlich ansehen; und selbst wenn er es wäre – seine aus Inhalt und Form sich zusammensetzende Gesamtgestalt verdankt er der Einsicht der Gesetzgeber und deren Willen, das für richtig Befundene als verbindlich zu erklären.

      Sofern wir nur bei derartigen Fallbeispielen der Rechtssetzung bleiben, können wir die Jurisprudenz in der Tat als eine bloße «Notizensammlung von Rechtsgewohnheiten» auffassen. Anders sieht es jedoch aus, wenn wir Reinach folgen und die rechtlichen Gebilde als solche untersuchen, welche den Gegenstand der jeweiligen positiven Rechtsprechung bilden. Hierzu gehören Abmachungen; Verträge aller Art; Verbindlichkeiten, die jemandem aufgedrängt worden sind oder die eine Person freiwillig übernommen hat; Ansprüche, die jemandem erwachsen sind oder die ein Subjekt einem anderen gegenüber erhoben hat; oder – anders formuliert – es zählen dazu sowohl Pflichten und Rechte, denen manche Autoren absoluten Charakter beimessen, als auch solche, die allgemein als von relativer Natur seiend anerkannt werden.

      2. Ein Versprechen – und was es impliziert

      Als Einstieg in die Analyse relativer Pflichten und Rechte wendet sich Reinach dem Phänomen des Versprechens22 zu. Sehen wir uns hierzu folgendes Beispiel an:

      Vor einigen Tagen teilte mir C in einem Gespräch mit, er sei daran, einen Aufsatz über Stefan Zweigs Novelle «Angst» zu schreiben; worauf mir einfiel, dass ich ein Buch besitze, welches einen Essay über diese Novelle enthält. Das erwähnte ich C gegenüber, der sofort sein Interesse bekundete, die betreffende Abhandlung kennenzulernen. Darauf sagte ich ihm: (a) «Ich werde morgen Nachmittag das Buch mitbringen und es Ihnen ausleihen.» Als ich jedoch am folgenden Tag in die Schule ging und den auf mich wartenden C erblickte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich vergessen hatte, das Buch mitzunehmen. Verlegen,