Regelung.
Auch die Frage der Verteidigung Eichmanns bereitete Probleme und erforderte gesetzgeberische Schritte. Nach Auffassung der Regierung Ben Gurion sollte kein israelischer Anwalt den Angeklagten vertreten. Eine Gesetzesänderung ermöglichte es, einen ausländischen Rechtsanwalt mit der Aufgabe zu betrauen. In dem Kölner Anwalt Robert Servatius fand die Familie Eichmann einen Rechtsbeistand ihres Vertrauens. Der Untersuchungshäftling akzeptierte den Juristen.
121 Gerichtssitzungen (an insgesamt 76 Tagen) lang dauerte der Prozess. Rund 100 Holocaust-Überlebende traten als Zeugen der Anklage auf. Sie schilderten das deutsche Menschheitsverbrechen in aller Ausführlichkeit. Hunderte von Dokumenten legte die Anklagevertretung vor. Die Urkunden bewiesen zweifelsfrei Eichmanns Eifer bei der »Endlösung der Judenfrage«.31 Auch die als Verbrechen gegen die Menschheit betrachtete Aussiedlung von Polen und Slowenen, die Deportation von Sinti und Roma und die Verschleppung von Kindern des tschechischen Dorfes Lidice wurden ihm zur Last gelegt.
Der Angeklagte, der zu seinem Schutz in einem Glaskasten Platz nehmen musste, überstand nach dem Ende der Zeugenbefragungen (9. bis 74. Gerichtssitzung) circa 30 Sitzungen lang das Kreuzverhör von Verteidigung (75. bis 88. Gerichtssitzung),32 Anklagevertretung (90. bis 104. Gerichtssitzung)33 und Gericht (105. bis 107. Gerichtssitzung).34 Seinen Stuhl in der Glaskabine durfte der Zeuge Eichmann nicht verlassen und in den Zeugenstand treten. Die Sorge um sein Leben war zu groß.35 Mitte August 1961 endeten die Schlussplädoyers von Verteidigung und Anklage.
Das Jerusalemer Bezirksgericht sprach Eichmann im Dezember 1961 in allen fünfzehn Anklagepunkten schuldig. Nur in geringfügigen Einzelheiten, insbesondere bei der Datierung des Beginns von Eichmanns verbrecherischen Handlungen, wich es von den von der Anklage vertretenen Auffassungen ab. Die Anklageschrift hatte den Vernichtungsprozess vorverlegt und auch Eichmanns Rolle bei der »Endlösung der Judenfrage« überhöht.
Das Jerusalemer Urteil spiegelt den damaligen Kenntnisstand, die seinerzeitigen Forschungsergebnisse wider. Aus heutiger Sicht trafen die Richter nicht wenige von der Geschichtswissenschaft nicht bestätigte Feststellungen. Die Sachverhaltsaufklärung war aufgrund der unzureichenden Quellenlage unvermeidlicher Weise noch defizitär. Deshalb hob das Gericht auch hervor, dass es »weder verpflichtet noch in der Lage« sei, »die Arbeit eines Historikers auf [sich; W.R.] zu nehmen«. Seine Tatsachenfeststellungen seien »zwangsläufig nur unvollständig« und würden im Urteil »nicht zum Zwecke einer erschöpfenden historischen Schilderung angeführt«.36
Konsens in der damaligen Forschung war, dass Hitler Mitte 1941 den Befehl zur »Endlösung der Judenfrage« gegeben hatte. Folglich meinte auch das Gericht, der »Befehl zur Vernichtung wurde von Hitler selbst kurz vor dem Einmarsch nach Rußland erteilt«, also vor dem 22. Juni 1941.37 Und: »Wir stellen […] im Gegensatz zur Version des Angeklagten« fest, »daß die Erteilung des Führerbefehls zur physischen Vernichtung der Juden ihm nicht etwa erst im Spätsommer […] bekannt wurde, sondern noch zu Beginn des Sommers 1941.«38
Die Juden Europas galt es vollständig auszurotten. Die beauftragten Akteure teilten mit dem Staatsoberhaupt den Vorsatz, »das jüdische Volk qua Volk zu vernichten und nicht nur Juden als Individuen«.39 Auch der Judenreferent im SS-Reichssicherheitshauptamt (RSHA) hatte nach Auffassung des Gerichts »zu Beginn des Sommers des Jahres 1941 Kenntnis vom Plan der Endlösung«.40 An die Stelle der bis dahin von Eichmann organisierten Zwangsauswanderung der Juden, die er in Wien, Prag und Berlin mit drastischen Mitteln betrieben hatte, war ihre Ermordung getreten. Ab Ende August 1941 bemühte er sich auch, keine in den besetzten Gebieten lebenden Juden mehr ins rettende Ausland entkommen zu lassen. Kein Jude sollte der Vernichtung entrinnen können. Dem Urteil zufolge hatte Eichmann von August 1941 bis Mai 1945 seine Untaten in der Absicht vollbracht, das jüdische Volk zu vernichten, hatte mithin nach dem Gesetz von 1950 »Verbrechen gegen das jüdische Volk« begangen.
Auf Geheiß Reinhard Heydrichs (Chef des SS-Reichssicherheitshauptamts), so Eichmanns Schilderung im Polizeiverhör und in der Beweisaufnahme, besuchte er Mitte September 1941 Odilo Globocnik im besetzten Polen. Der SS- und Polizeiführer von Lublin hatte von Heinrich Himmler (Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei) den Befehl erhalten, im sogenannten Generalgouvernement Vernichtungslager zu errichten. Nach Eichmanns Erzählung zeigte Globocnik dem Abgesandten aus Berlin ein Todeslager. Eichmann nahm an, in Treblinka gewesen zu sein.41 Das von Eichmann besichtigte Lager war vermutlich Bełżec.
Die Holocaust-Forschung ist indes zu anderen Ergebnissen gelangt. Erst im Oktober 1941 erteilte Himmler Globocnik den Befehl, Todeslager zu errichten.42 Mit dem Bau von Bełżec wurde umgehend begonnen, im März 1942 ermordete die SS die ersten Opfer mit Motorabgasen.43
Die von Globocnik geleitete »Aktion Reinhardt« führte sein in Lublin ansässiger Stab unabhängig vom Reichssicherheitshauptamt durch. Eichmann und sein Referat waren freilich gut informiert und standen mit den Massenmördern in Kontakt. Im Fall der Vernichtung der polnischen Juden waren Eichmanns organisatorische Fähigkeiten jedoch nicht gefragt. Ghettoräumungen, »örtliche Aussiedlungen«, Deportationen und Massenmord in den Todeslagern führten die Männer des Lubliner SS- und Polizeiführers mit Hilfe ihrer Helfershelfer und den örtlichen SS-Dienststellen selbstständig durch.
Das eingesetzte reichsdeutsche Personal war im Morden geübt. Viele waren bereits im Rahmen der »Aktion T4« genannten Tötung von Insassen von Heil- und Pflegeanstalten tätig gewesen.44 Die federführende »Kanzlei des Führers«45 hatte die Mörder nach Lublin geschickt. Globocnik standen erfahrene, motivierte und weltanschaulich gefestigte Männer zur Verfügung. Sie mordeten aus Überzeugung und äußerst effektiv.46
Die irrtümliche Vorverlegung des Beginns des Holocaust hat für die Rechtsfrage, wie das Verbrechensgeschehen und Eichmanns Beteiligung zu werten sind, freilich keine Bedeutung. Das Gericht betrachtete »alle im Zuge der Ausführung der Endlösung der Judenfrage begangenen Handlungen als eine Einheit«.47 Diese Rechtsauffassung hat Bestand, auch wenn die Jerusalemer Richter historisch unzutreffend davon ausgegangen sind, dass Hitlers Vernichtungsbefehl »ein einziger, genereller, allumfassender Befehl«48 gewesen war. Ihre von der Forschung verworfenen tatsächlichen Feststellungen machten somit die rechtliche Wertung nicht falsch. An der Darstellung des arbeitsteilig begangenen Kollektivverbrechens ändert die Tatsache, dass es Mitte 1941 keinen verbindlichen, allumfassenden Mordbefehl Hitlers gegeben hat, nichts.49 Fraglos richtig ist deshalb, dass im Verlauf des Jahres 1942 der »Wille der Planenden und der Hauptausführungsorgane […] der gleiche […] war […] wie der des Urhebers, einheitlich und umfassend«.50 Rechtlich betrachtet setzte sich der »strafbare Vorsatz« der Holocaust-Täter »unentwegt fort und umfaßte all die begangenen Handlungen, solange die Aufgabe in ihrer Gesamtheit nicht durchgeführt war«51, sprich: nicht alle Juden restlos vernichtet waren.
Anders als viele bundesdeutsche Gerichte, die die »Vernichtungsaktion« nicht als »eine einzige umfassende Handlung« betrachteten, sie vielmehr »in einzelne Taten und Handlungen zergliedert« haben, die vorgeblich »von Einzelpersonen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ausgeführt wurden«, qualifizierte das Bezirksgericht die Tatbeteiligten als Mittäter.52 Jede »Einzelperson, die vom Plan der Endlösung Kenntnis hatte und an der Judenvernichtung mittat«, war daher »als Mittäter an der Ausrottung in den Jahren 1941 bis 1945 anzusehen«.53 Unerheblich war, an welcher Stelle der Mittäter im Vernichtungsapparat agiert und wie lange er im Vernichtungsprozess mitwirkt hatte. Die Verantwortlichkeit eines jeden Mittäters war nach Auffassung des Gerichts gleich der »Verantwortlichkeit eines Haupttäters (Principal Offender), der das Gesamtverbrechen in Mittäterschaft mit anderen begangen hat«.54 Anders auch als die Rechtsprechung hierzulande unterschieden die Richter nicht zwischen tatnahen und tatfernen Akteuren. Da es sich um »Massenverbrechen« handelte, hatte »die Nähe oder die Entfernung des einen oder des andern dieser vielen Verbrecher zu dem Manne, der das Opfer tatsächlich tötete, überhaupt keinen Einfluß auf den Umfang der Verantwortlichkeit«.55
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