Razzia in Rom: sie alle waren, sofern sie in dem Wissen handelten, einen Beitrag zur »Endlösung« zu leisten, ebenso verantwortlich, wie der Schütze an der Erschießungsgrube im rückwärtigen Heeresgebiet der Ostfront, der »Selekteur« auf der Rampe in Birkenau, der die Opfer durch die »Himmelsstraße« in die Gaskammern der Lager der »Aktion Reinhardt« treibende SS-Mann, der das Zyklon B in Auschwitz und Majdanek in die »Duschräume« schüttende »Desinfektor«. Nach Auffassung des Gerichts wuchs das »Verantwortlichkeitsausmaß […] je mehr man sich von demjenigen entfernt, der die Mordwaffe mit seinen Händen in Betrieb setzt und zu den höheren Befehlsstufen gelangt, den ›Anstiftern‹«56, den Schreibtischtätern im Reichssicherheitshauptamt, in den Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD in den besetzten Gebieten und anderswo.
Anders gesagt: Die Frage, ob Eichmann an Vernichtungsaktionen in den Todeszentren beteiligt war, erachtete das Gericht »von sekundärer Wichtigkeit, da die rechtliche und moralische Verantwortung desjenigen, der das Opfer dem Tode ausliefert«, in den Augen der Richter »nicht geringer ist, als die Verantwortung desjenigen, der das Opfer mit eigenen Händen tötet, wobei sie sogar die Verantwortung des letzteren übersteigen kann«.57
Mit Entschiedenheit wies das Gericht die »Version des Angeklagten zurück, er sei nichts als ein ›Zahnrad‹ in der Vernichtungsmaschine gewesen«.58 Die meist zum Zweck der Eigenexkulpation vorgetragene »Rädchen-Theorie« lief auf das Argument hinaus, man sei gleich einem kleinen Rad im großen Getriebe des Massenverbrechens unwichtig und austauschbar gewesen. Oder, in weiterer Verwendung der metaphorischen Sprache, kein Motor, kein Schwungrad, kein Schalthebel sei man gewesen, sondern nur winziger Teil eines aus vielen tausend ineinandergreifenden Einzelstücken zusammengesetzten, automatisch und ohne eigenes Zutun funktionierenden Mechanismus.
Das Gericht hob hervor, das Reichssicherheitshauptamt sei die »Zentralbehörde in Angelegenheiten der Endlösung der Judenfrage« gewesen, Eichmann habe »an der Spitze der an der Durchführung der Endlösung Tätigen« gestanden.59 Wohl handelte Eichmann als Befehlsempfänger, agierte »nach den ihm von seinen Vorgesetzten erteilten Richtlinien«, doch ihm blieb in seiner Stellung als Referent »noch ein weites Ermessen sogar zur Planung von Handlungen aus eigener Initiative«. Mithin war Eichmann den Richtern entgegen seinen Beteuerungen »keine ›Marionette‹ in den Händen anderer, sondern nahm seinen Platz unter den Drahtziehern ein«.60
War die Shoah eine Tat, an der als Mittäter beteiligt war, wer im Vernichtungsapparat eine Funktionsstelle61 innehatte, dann konnte es in einem Strafverfahren nicht darum gehen, einem Angeklagten konkrete Tatbeiträge individuell zuzurechnen. Die Aufteilung der Shoah in Ort und Zeit, in Lokalereignisse und Episoden, die Annahme von unabhängigen, selbstständigen Einheiten62 betrachtete das Gericht als eine unangemessene rechtliche Wertung. Die Forderung des konkreten Einzeltatnachweises63 war angesichts des arbeitsteilig begangenen Kollektivverbrechens mithin obsolet.
Die Jerusalemer Richter erforschten auch Eichmanns innere Einstellung zu den ihm befohlenen Taten. Der Angeklagte rechtfertigte sich mit dem Verweis auf seinen unbedingten Befehlsgehorsam. Blinder Gehorsam war ihm eine Tugend, die Gesetzmäßigkeit eines Führerbefehls stand für ihn außer Frage. Verantwortung kam daher dem auf höheren Befehl handelnden Untergebenen seiner Meinung nach nicht zu. Schuldhaft konnte sein Tun und Lassen nicht gewesen sein, da er staatskonsensual, führertreu und befehlsergeben gemäß seinem geleisteten Eid agiert hatte. Die Stimme des Gewissens regte sich deshalb bei Eichmann nicht. Im Gegenteil: Spätestens nach der im Januar 1942 abgehaltenen Wannsee-Konferenz hatte er ein ruhiges und gutes Gewissen.
Die Richter verwarfen Eichmanns fadenscheinige Rechtfertigungsversuche. Der Befehl zur Vernichtung von Millionen schuldloser Menschen war kein »Staatsakt«,64 der den Befehlsausführenden aller persönlichen Verantwortung enthoben hätte. Es handelte sich vielmehr um einen »augenscheinlich unrechtmäßigen«65 Befehl, den Eichmann im Wissen um seine Rechtswidrigkeit dennoch mit Eifer befolgt hatte. Bei ihrer Erforschung der Wahrheit gelangten die Richter zu der Erkenntnis, der Angeklagte habe »seine Aufgabe in all ihren Phasen […] aus innerer Überzeugung mit ganzem Herzen und ganzer Seele geleistet«.66 Nie »lau« in seinen Befehlen und Taten sei er »tatkräftig, erfindungsreich und extrem in seiner Aktivität zur Durchführung der Endlösung«67 gewesen. Sein »verbrecherisches Handwerk« habe er »mit ganzem Herzen und ganzer Seele« betrieben,68 »[s]einer Aufgabe widmete er seinen regen Geist, seine List und sein Organisationstalent«.69 Dem Gericht war Eichmann folglich kein »initiativlose[r] Angestellter«, kein bloßer »bürokratischer Beamter«, vielmehr sah es in ihm einen »Mann von eigenem Willen, der sich so stark fühlt, daß sogar ein Führerbefehl ihm nicht als derart bindend erscheint, daß verboten sei, sich über ihn Gedanken zu machen«.70
Wie insbesondere die Anklagevertretung war auch das Gericht der Auffassung, Eichmann habe »eine Schlüsselstellung in der Durchführung der Endlösung«71 innegehabt, sein Referat im Reichsicherheitshauptamt habe »im Zentrum der Aktion der Endlösung«72 gestanden.
Eichmann war freilich nicht der »Architekt der Endlösung«. Anklage und Gericht überschätzten seine Rolle. Mit dem Verbrechensgeschehen in Polen, dem Baltikum und der Sowjetunion hatte er befehlsmäßig nichts zu tun. Er lieferte aber (»fahrplanmäßig«, »transporttechnisch« nur, wie er fortwährend in permanenter Selbstexkulpation beteuerte) Juden nach Łódź, Riga, Minsk, Kowno und Sobibór. Von den RSHA-Transporten ins in Ostoberschlesien gelegene Konzentrationsund Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (Ostoberschlesien war ins Deutsche Reich eingegliedert worden)73 ganz zu schweigen. In seiner Studie über den Mord an den europäischen Juden resümiert der Holocaust-Historiker Christian Gerlach: »Adolf Eichmann, der das Judenreferat des RSHA leitete, übte einigen Einfluss aus und koordinierte die Deportation von über einer Million Juden aus weiten Teilen Europas in Todeslager und Ghettos, aber seine Koordination erfasste nicht die meisten Juden in Polen und den besetzten sowjetischen Gebieten, wo die Mehrheit der europäischen Juden lebte.«74
Mit den Massenerschießungen der Einsatzgruppen war Eichmann gleichfalls operativ nicht verbunden. Allerdings gingen im Amt IV des Reichssicherheitshauptamtes die Berichte über die Massenexekutionen ein. Im Referat IV A 1 wurden die »Ereignismeldungen UdSSR« auf der Grundlage der Berichte erstellt, ab Mai 1942 sodann die »Meldungen aus den besetzten Ostgebieten«.75 Auch Eichmanns Referat (IV B 4) erhielt eine Ausfertigung. Fraglos standen der Chef des Amts IV des RSHA, Heinrich Müller, sowie sein Untergebener Adolf Eichmann gleichsam im informatorischen Zentrum der Shoah. Nicht umsonst ließ sich der von Himmler beauftragte Statistiker Richard Korherr von Eichmann Opferzahlen geben.
Anders als die Anklagevertretung ging im Fall Einsatzgruppen das Gericht dem prominenten Zeugen Michael A. Musmanno nicht auf den Leim. Der einstige Vorsitzende Richter des Nürnberger Nachfolgeprozesses gegen die Kommandeure der Mordeinheiten (Fall 9)76 stilisierte Eichmann zum Chef der Einsatzgruppen. Der Zeuge stützte sich auf Angaben Walter Schellenbergs77 (RSHA, Chef von Amt VI), der zusammen mit Eichmann an einer Zusammenkunft teilgenommen hatte, auf der die Kommandeure der vier Einsatzgruppen von Reinhard Heydrich und Bruno Streckenbach (Chef von Amt I des RSHA) Weisungen erhalten hatten.78
Musmanno, des Deutschen79 nicht mächtig, hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Personen aus dem Umfeld Hitlers Gespräche geführt. Sein Auftrag war gewesen, Erkenntnisse über den Verbleib bzw. den Tod des Staatsoberhaupts des Deutschen Reiches zu sammeln.80 Das Gericht hielt die von Musmanno wiedergegebenen Feststellungen Schellenbergs für wenig zuverlässig und sah deshalb »aus Gründen der Vorsicht« davon ab, »Tatsachenfeststellungen auf dieser Version Schellenbergs aufzubauen«.81 Auf weitere Einlassungen Musmannos, Göring, Ribbentrop und andere hätten Eichmanns dominierende Rolle selbst Hitler gegenüber bezeugt, ging das Gericht gar nicht ein.82
Das Beispiel Musmanno-Aussage wurde hier angeführt, um die Leichtfertigkeit der Anklagevertretung einerseits, die durchaus kritische Aussageprüfung des Gerichts andererseits deutlich zu machen.