Urteil fand wie der Prozess in der Bundesrepublik recht wenig Beachtung, obgleich es eine ziemlich umfassende Prozessberichterstattung gab83 und viele Deutsche von dem Verfahren Kenntnis hatten.84 Ausnahmen waren wenige Juristen, die sich auch mit den bundesdeutschen NS-Verfahren befassten.85 Viel hätten insbesondere Justizjuristen aus dem Verdikt lernen können. Im Gegensatz zur Rechtsauffassung der Jerusalemer Richter machten bundesdeutsche Strafgerichte, wie oben angedeutet, die Shoah, an der rund eine Viertelmillion Deutsche und Österreicher86 direkt beteiligt gewesen war, zu einem aus einer Vielzahl von Einzelereignissen zusammengesetzten Geschehen, das nur punktuell aufzuklären war. Individuelle Schuld war nach der herrschenden Rechtspraxis meist nur durch Einzeltatnachweis zuzurechnen. Letztendlich standen bei dieser justizökonomischen Rechtsprechung nur noch Exzesstäter vor Gericht, die befehlslos, mithin eigenmächtig gemordet hatten. Justizökonomisch meint die selektive Ahndung der Verbrechen, um eine von vielen in den 1960er Jahren beklagte Überforderung der Justiz zu vermeiden. Fraglos wäre die bundesdeutsche Strafjustiz strukturell und personell nicht in der Lage gewesen, so zu verfahren, wie sie es heute in den späten NS-Prozessen gegen greise Angeklagte tut.87 Jeden kleinen SS-Mann, jede Schreibkraft, jede SS-Helferin (Fernschreiberin, Funkerin, Telefonistin), jeden Reichsbahnbediensteten, jeden Wachmann hätte sie nicht belangen können.
Um 1960 ging es der Strafjustiz nach der möglichst umfassenden Untersuchung von Tatkomplexen und der »restlosen Erfassung«88 der Verbrechen vor allem um die »Ermittlung der Hauptverantwortlichen« und »nicht so sehr«, wie man freimütig eingestand, um die »Feststellung der kleineren Mitbeteiligten, insbesondere der untergeordneten Befehlsempfänger«.89 Allein »die scheusslichsten Taten aus der damaligen Zeit, deren Nichtverfolgung unerträglich wäre«, sollten »noch rechtzeitig (vor der Verjährung [von Mord und Mordbeihilfe im Jahr 1965; W.R.]) strafrechtlich verfolgt werden«.90 Allein die »Hauptbeschuldigten«91 waren noch vor Gericht zu stellen.
Wenige Tage nach der Konferenz der Landesjustizminister und -senatoren in Bad Harzburg im Oktober 1958, auf der die Errichtung der Zentralen Stelle beschlossen worden war, meinte Generalbundesanwalt Max Güde in einem Vortrag, dass allein die »Träger des Terrors und die sadistischen Henker […] der Ermittlung und Aburteilung noch zugeführt werden müssen«, während »[d]ie anderen in großzügigem Schnitt zu trennen und in Gottes Namen zu ertragen« seien. In der Beschränkung auf Hauptverantwortliche und Exzesstäter sah Güde »eine wesentliche Seite der Aufgabe, der die Justiz auf diesem Gebiet entgegensteht«.92
Die »Wende« in der auf einen Irrweg geratenen Ahndung der NS-Verbrechen trat erst 2011 mit dem Urteil im Münchner Demjanjuk-Prozess ein.93 Zu Recht ist der Prozess ein »Meilenstein-Verfahren«94 genannt worden. Will man darunter auch einen Wendepunkt zum Besseren verstehen, dann bleibt die sachliche Feststellung, dass er nur noch für eine Dekade den Weg zu mehr Gerechtigkeit aufzeigen konnte. Die Wende kam zu spät und sie wäre gar nicht eingetreten, wenn nicht ein Mitarbeiter der Zentralen Stelle den Fall Demjanjuk aufgegriffen und engagiert verfolgt hätte.95
Die vom Bundesgerichtshof bewirkte und sehenden Auges nicht berichtigte Rechtspraxis führte dazu, dass tausende Holocaust-Täter unbehelligt blieben. Die im Jerusalemer Eichmann-Urteil vertretene Rechtsauffassung fand hierzulande nur wenige Fürsprecher96 und viele Gegner. Obgleich das geltende Recht und die ansonsten geübte Rechtspraxis eine andere Handhabung der NS-Verbrechen nahegelegt hätten, behielt die bundesdeutsche Justiz ihren bequemen, ressourcensparenden Kurs bei. Die allenthalben vorhandene Schlussstrichmentalität fand ihren justizförmigen Ausdruck in einer Rechtspraxis, die aus Nichtverfolgung, Verfahrenseinstellungen, Gehilfenjudikatur und Freisprüchen bestand.
Zur Edition des Urteils
Das Eichmann-Urteil fand in seiner deutschen Übersetzung in den 1960er Jahren keinen deutschen Verleger. Selbst die Kontroverse um Hannah Arendts 1964 auf Deutsch erschienenen Bericht Eichmann in Jerusalem97 führte nicht dazu, den Jerusalemer Richterspruch dem deutschen Lesepublikum zugänglich zu machen. 1986 bat der Athenäum Verlag Avner Less (1916–1987), der als Polizeihauptmann mit dem Verhör von Eichmann beauftragt gewesen war, das Urteil für eine Veröffentlichung herauszugeben und zu kommentieren. Dazu kam es aufgrund der schweren Erkrankung von Less nicht mehr. Sein Freund, der Journalist Jochen von Lang (1925–2003), gab der Veröffentlichung des Urteils im Jahre 1987 ein Nachwort bei, in dem er an seinen Freund erinnert und die Gedanken skizziert, die ihn dazu bewogen, das Urteil im Wortlaut der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die vorliegende Neuauflage basiert auf der Ausgabe von 1987. Es wurde die vom Bezirksgericht Jerusalem publizierte deutsche Übertragung zugrunde gelegt. In einer Vorbemerkung auf dem Rubrum des Urteils heißt es, es handele sich um keine »offizielle« Übersetzung. Sie sei vielmehr angefertigt worden, »um dem Publikum das Urteil schnell zugänglich zu machen«. Anzunehmen ist, dass die vorliegende Version sowohl dem Angeklagten als auch seinem Verteidiger zugegangen ist. Sie hat auch Eingang in die Akten der bundesdeutschen Justiz gefunden. So lag sie zum Beispiel der Frankfurter Justiz vor, als sie das Verfahren gegen Otto Hunsche und Hermann Krumey durchführte.
Eine offizielle Übersetzung ins Englische wurde in der vom israelischen Staat und dem Justizministerium 1992 ff. veröffentlichten neunbändigen Edition The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem vorgelegt. Sie findet sich in Band V der Publikation.98
Für die Neuausgabe anlässlich des 60. Jahrestags des Urteils wurde der Text durchgesehen sowie Falschschreibungen und Versehen stillschweigend verbessert, da die Ausgabe von 1987 unrichtige Orts- und Personennamen, Abkürzungen und Bezeichnungen sowie einige wenige Rechtschreibfehler enthält.
So finden sich Ortsnamen wie Belsec statt Belzec, Isbica statt Izbica, Samocz statt Zamosc, Lydice statt Lidice, Sophia statt Sofia, Munkacz statt Munkacs sowie Personennamen wie Bohrmann statt Bormann, Gansenmüller statt Ganzenmüller, Poliakoff statt Poliakov, Salaczy statt Szalasi, Kalay statt Kallay, Beleff statt Belev, Labotkin statt Lubetkin, etc.
Unübliche Abkürzungen wie BDS statt BdS, KDS statt KdS und Rechtschreibungen sie »zweiter Weltkrieg« statt »Zweiter Weltkrieg«, »höherer SS- und Polizeiführer« statt »Höherer SS- und Polizeiführer« wurden korrigiert.
Unterliefen Fehler wie die Nennung von »Höß«,99 obgleich es »Möhs«, »Pohl«100 obschon es »Heydrich« heißen muss, dann wurden sie korrigiert.
In vier Fällen wurde die fehlende Nummerierung der Abschnitte nachgetragen und verschiedentlich vergessene Anführungszeichen eingefügt.
Ansonsten blieben sprachliche Eigenheiten der deutschen Übertragung unangetastet.
Anmerkungen
1Siehe die beiden Darstellungen des seinerzeitigen Leiters der Zentralen Stelle zur Aufklärung der nationalsozialistischen Verbrechen (Ludwigsburg) Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation. Karlsruhe: C. F. Müller Juristischer Verlag, 1979 und ders., NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung. Karlsruhe: C. F. Müller Juristischer Verlag, 1982. Für die ersten zwei Dezennien der Bundesrepublik sind die Studien von Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München: Oldenbourg Verlag, 2013 und Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München: Oldenbourg Verlag, 2012 grundlegend. Ebenso wichtig Hans-Christian Jasch/Wolf Kaiser, Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen, Stuttgart: Reclam Verlag, 2017.
2Generalstaatsanwalt Gideon Hausner gebrauchte den Ausdruck als Zitat im Kreuzverhör. Siehe State of Israel/Ministry of Justice, The Trial of Adolf Eichmann.