Mart Rutkowski

Der Blick in den See


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Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:

      Ein der Entwicklung aller lebenden Systeme zugrundeliegendes Prinzip besteht darin, dass „neue Interaktionen (…) nur im Rahmen und auf der Grundlage bereits etablierter Interaktionsmuster ausgebildet und stabilisiert werden.“44 Dies mag an das Bild des hermeneutischen Zirkels erinnern. Entwicklung selbst kann jedoch nur dann stattfinden, wenn der Mensch auf neuartige Bedingungen trifft, welche die Stabilität der bereits etablierten Interaktionen in Frage stellen. Sinneseindrücke, die besonders neu sind oder in einer unbekannten Kombination mit anderen Sinneseindrücken auftauchen, sorgen für eine gewisse Unruhe im Gehirn. „Jedes Mal, wenn das passiert, wird ein bereits vorhandenes, früher entstandenes Erregungsmuster vorübergehend durcheinander gebracht.“45 Noradrenergene Zellen (Recherchiere dazu ➔ Noradrenalin) werden durch die Neuigkeit einer Situation aktiviert und fördern durch eine Reihe von Aktionspotentialen eine fokussierte Aufmerksamkeit. „Jetzt ist das Gehirn wach und kann das neue Aktivierungsmuster zu einem neuen inneren Bild zusammenfügen.“46

      Eine gewisse Erregung und Unruhe ist also förderlich, da hierdurch der Abgleichprozess unterstützt wird. Dies umso mehr, wenn im Gehirn parallel auch noch Dopamin ausgeschüttet wird – ein Stoff, der äußeren Reizen eine anspornende Bedeutung zuschreibt und eine Belohnungserwartung im Sinne eines erhofften Mehrwerts hervorruft. Dies alles geschieht aber nur, wenn der optimale Grad nicht überschritten wird – denn wenn durch Angst oder Stress die Aktivierung über den Grad der optimalen Stimulation hinaus gesteigert wird, hat dies zur Folge, dass weniger komplexe, ältere und bewährte Verhaltensmuster stabilisiert werden, um die Situation zu bewältigen, und der präfrontale Cortex gehemmt wird.47 Starker Stress oder Angst blockieren also genau den erwünschten Effekt. Eine Neubildung von Synapsen findet in einem solchen Moment nicht mehr statt.

       … und das bedeutet für die EP

      Lernen bedeutet also automatisch Umgang mit Irritation, welche in der Erlebnispädagogik gezielt und beabsichtigt als Schlüsselelement eingesetzt wird. Das Gehirn greift in einem ersten Abgleichprozess auf altbewährte Muster zurück, um diese dann in einem zweiten Schritt zu modifizieren, zu ergänzen oder zu erweitern – dazu muss aber die Irritation stark/bedeutsam genug sein. Dessen ungeachtet braucht es zum Erlernen neuer Inhalte und Verhaltensweisen aber auch eine gewisse Überlappung mit vorhandenem Wissen. Das Schlüsselwort hier lautet „Anschlussfähigkeit“ – man erahnt schon, wie wichtig darum eine

      Im Grunde ist uns Erlebnispädagogen das alles schon lange bekannt – denn dies ist unter dem Strich das Gleiche, was uns das Lern- oder Komfortzonenmodell sagt. Wir dürfen uns aber daran erfreuen, dass die Neurowissenschaften diesem Modell sozusagen ein naturwissenschaftliches Fundament geben.

       These Nr. 4: Soziales Lernen gelingt am besten durch das Tun im sozialen Kontext

       Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:

      Zunächst ist interessant zu wissen, dass unser Gehirn zum Erlernen eines Inhalts oder einer Kompetenz häufig nicht darauf angewiesen ist, die dahinterstehenden abstrakten Regeln zu verstehen. Oftmals stehen diese „logischen“ Aspekte einem Lernerfolg eher hinderlich im Weg – oder sind nur begrenzt anwendungs-unterstützend. Diesen Effekt erlebt jeder, der eine neue Sprache lernt: Beim Sprechen denkt man nicht darüber nach, wie der Satz grammatikalisch richtig strukturiert sein müsste – tut man es, ist zeitgleich das Sprachzentrum nur noch eingeschränkt nutzbar.48 Viele Dinge, die wir ganz natürlich beherrschen, können wir nicht gut mit Worten erklären: z.B. wie wir unsere Muttersprache sprechen, laufen, Fahrrad fahren u.v.m.49 Dieser Effekt trifft aber auch und gerade auf alle Aspekte des zwischenmenschlichen Bereichs zu. Vieles, was wir wahrnehmen, nehmen wir unter-/vor- aber auch unbewusst wahr (etwa ➔ Mikroexpressionen oder Körpersprache bei anderen Menschen). Hinzu kommt das Prinzip der sog. ➔ Spiegelneuronen: Bei der Beobachtung von Handlungen und Verhaltensweisen anderer Menschen werden in uns die gleichen relevanten Gehirnareale aktiviert wie bei dem tatsächlich Handelnden – so als würden wir selbst auf diese Weise handeln oder uns verhalten. Das erklärt, warum Emotionen und Stimmungen häufig „ansteckend“ wirken oder wir intuitiv ein Gefühl davon haben, wie es einem anderen Menschen geht. Das Wissen um die Existenz von Spiegelneuronen ist – wenn auch sicher nicht der Weisheit letzter Schluss – so doch ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Intuition, Empathie und sozialem Lernen.

       … und das bedeutet für die EP

      Spiegelneuronen werden im Zusammensein mit anderen Menschen aktiviert. Dies bedeutet für soziales Lernen, dass jeder Mensch ein Modell für den anderen darstellt und wir uns ziemlich viel gegenseitig beeinflussen, wenn auch nicht bewusst. Für systemisch denkende Trainer ist das natürlich nichts Neues. Diese Modell-Rolle betrifft Teilnehmer wie Trainer in gleichem Maße. Wir erahnen somit, welchen Einfluss das Geschehen in der Gruppe und dessen Bewertung auf den Einzelnen nimmt. Für soziales Lernen in der Gruppe heißt das natürlich, dass jegliche Form von sozialer Veränderung in kleinen Schritten und langsam erfolgt – es muss vorsichtig erprobt, positiv bewertet und (unterbewusst) als reproduktionswürdig d.h. lohnenswert empfunden werden. Erst dann etabliert sich ein neues Verhalten oder eine neue Kultur. Als Trainer können wir zu bestimmten Verhaltensweisen anregen, mittels vernünftiger Erklärungen und Theorien (etwa über Kommunikation) in anderen Hirnarealen weitere Ankerpunkte setzen und via Reflexion die persönliche Bezugsetzung unterstützen. Erlernt werden persönlichkeitswirksame Aspekte jedoch primär durch Verhalten und Nachahmung von Verhaltensweisen selbst. Das, was wir über Spiegelneuronen wahrnehmen, hat einen starken Effekt auf uns. Denn wir nehmen hierüber auch Prozesse wahr, die es nicht bis in unser Bewusstsein schaffen – und reagieren spontan und intuitiv darauf. Spätestens hier wird klar, wie komplex soziale (erlebnispädagogische) Lernprozesse „gebaut“ sind. Und dieser Gedanke unterstreicht, dass unsere Hauptaufgabe in der Gestaltung der zwischenmenschlichen Ebene liegen muss. Hier können wir im Sinne des „processing at the edge“ an vielen kleinen Stellen pädagogisch intervenieren – und zwar, indem wir unsere eigenen Emotionen und sozialen Anteile gezielt ins Spiel bringen und Einfluss auf die zwischenmenschliche Atmosphäre nehmen.

       These Nr. 5: Versprachlichung hilft bei der Integration von Gedanken

       Erkenntnisse? – nur Spuren:

      Bedauerlicherweise habe ich für diese These nicht ausreichend gesicherte Antworten gefunden. Aber immerhin ein paar Argumente und Hinweise, die eine spannende Spur verheißen.

      Zunächst zur Wortwahl: Mit „Versprachlichung“ meine ich nicht nur ausgesprochene Gedanken, sondern auch geistig formulierte, aber nicht laut ausgesprochene Gedanken. Es geht mir rein um den Schritt der potentiellen Verbalisierung – ob schriftlich, mündlich oder konkret erdacht, ist zweitrangig. Und natürlich geht es mir um die Sinnhaftigkeit von Reflexion in erlebnispädagogischen Prozessen. Bzgl. des Effekts von Versprachlichung äußert sich die neurophysiologische Literatur nur sehr begrenzt. Man kann überall nachlesen, was der Versprachlichung selbst voran geht, wie sie funktioniert – aber nicht, welchen neurophysiologischen Effekt sie anschließend auf den Sprechenden selbst hat. Sicher ist aber:

      Eine Versprachlichung von Gedanken steht relativ am Ende eines bewussten Verarbeitungsprozesses. Man könnte salopp sagen: Ich kann erst dann etwas in Worte fassen, wenn es in meinem Bewusstsein angekommen ist. Aber wozu sollte ich dann noch über das Erlebte reden? Wieso dazu Tagebuch schreiben? Warum durch eine Frage fokussiert darüber nachdenken? Schließlich ist der Gedanke ja schon da, wo er sein soll: In einem assoziativen Teil meiner Großhirnrinde.

      Ein Argument basiert auf der Doppelcodierungstheorie nach Allan Paivio: Diese Theorie besagt, dass Inhalte leichter abgerufen werden können, wenn die entsprechenden Inhalte in zwei verschiedenen Speichersystemen abgelegt werden; so etwa, wenn Erlebnisse aus dem episodischen Gedächtnis in den für formulierbare Fakten zuständigen semantischen Speicher aufgenommen werden. Vielleicht lässt sich das Prinzip mit einem Text vergleichen, den man ausdruckt und abheftet und zusätzlich noch auf einer externen Festplatte speichert: Man nutzt tatsächlich ganz unterschiedliche Formen der Aufbewahrung