Группа авторов

Christlich-soziale Signaturen


Скачать книгу

die Voraussetzungen einer Frage. Wenn etwa eine Frage lautet: „Hat Boris aufgehört, seine Frau zu schlagen?“, so setzt diese Frage voraus: (1) Es gibt einen verheirateten Mann namens Boris, auf den sich eine Frage so beziehen kann, dass klar ist, wer gemeint ist; (2) Boris hat in der Vergangenheit seine Frau geschlagen; (3) Boris hat die Möglichkeit, die Gewalt an seiner Frau zu beenden.

      Diese drei Voraussetzungen können jeweils wahr oder falsch sein. Vom Status dieser Voraussetzungen ist der Status der Frage abhängig. Der moralische Status der Frage ergibt sich freilich nicht allein aus wahren Voraussetzungen. Wenn jedoch die Voraussetzungen falsch sind, ist die Frage irregeführt und irreführend. Die Politik ist gut beraten, sich mit wohlbegründeten Fragen zu beschäftigen. Niemand wird vernünftigerweise abstreiten können, dass die Sicherung der Gewährleistung von Pflege bis 2030 jetzt eine wohlbegründete politische Frage ist. Es wird wenig Zeit darauf verwendet, sich über die Formulierung der Frage Gedanken zu machen. Soll die Frage lauten: „Wie kann die Finanzierung der Pflege aus Sicht des Staates und der Staatsfinanzen gesichert werden?“, oder: „Wie kann gewährleistet werden, dass alle Menschen einen menschenwürdigen letzten Lebensabschnitt haben?“, oder: „Wie kann sichergestellt werden, dass sich jeder einzelne Mensch gute Pflege leisten kann?“

      Die Nuancierung der Formulierung macht einen Unterschied; es ist sinnvoll und hilfreich, sich vor Antwortversuchen Klarheit über die Frage zu verschaffen, um die es gehen soll. Es ist eine Sache „Themen“ und „Probleme“ zu identifizieren, es ist eine andere Sache, präzise formulierte Fragestellungen zu bearbeiten. Es wird wenig Zeit darauf verwendet, über die zu verhandelnden Fragen Konsens zu erzielen. Ein wichtiger Beitrag zur politischen Kultur könnte gerade darin bestehen, vor dem konflikthaften Pluralismus einer lebendigen Demokratie einen vorgelagerten Konsens über die Fragen zu erzielen. Damit wird gemeinsamer Boden geschaffen, der Konflikte entschärft. Die Art der Frage macht einen Unterschied – die Frage „Wie kann sichergestellt werden, dass für den Straßenverkehr hinreichend Straßen vorhanden sind?“ ist eine andere als die Frage „Wie kann das Verkehrsaufkommen angesichts des begrenzten Straßennetzes reduziert werden?“.

      Ich will hier nicht ausdrücken, dass es in der Politik nicht auch um die Kunst der Antwort geht, doch bleibt die Kunst der Frage der ars respondendi vorgelagert. Fragen sind Fenster im Wertgefüge. Die Fahrverbote in Tirol sind sicherlich nicht Antwort auf die Frage: „Wie kann man Autofahrer ärgern?“ Hier sollten politische Maßnahmen vermieden werden, die den Eindruck erwecken, dass die zugrunde liegende Frage lautet: „Wie kann eine Retourkutsche auf Österreichs Klage gegen die geplante deutsche Autobahnmaut aussehen?“

      Eine Christin trägt ernsthafte Fragen an die Politik heran, weil ihr die Gemeinschaft am Herzen liegt. Sie stellt „Warum“-Fragen und „Wie“-Fragen. Sie stellt die Frage nach dem „Witz des Politischen“, der aus den politischen Regeln allein nicht abgelesen werden kann. Sie stellt jeweils die tiefere Frage, die sich mit pragmatischer Rationalität, auch wenn mitunter unvermeidlich, nicht abschließend zufriedengibt. Die Christin stellt die Frage nach den Fragen, auf die die Politik antworten muss. Und sie tut das von einem Standpunkt, der Politik als Zweites und Vorletztes ansieht, das einem Ersten und Letzten verpflichtet sein sollte. Das christliche Kriterium für die wohlgeformte Frage ist dabei das bereits angesprochene Gemeinwohl. Wie kann eine Politik des Gemeinwohls aussehen, bei der tatsächlich „no one left behind“ ist? Wie kann eine Politik eines globalen Gemeinwohls gestaltet werden? Ja, die Fragen sind groß – aber auch das Ziel christlichen Glaubens.

      Schlussbemerkung

      Am 24. März 1980, wenige Minuten vor seiner Ermordung, zitierte Oscar Romero in seiner letzten Predigt in der Kapelle des Karmeliter-Krankenhauses in San Salvador eine Passage aus der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums, Gaudium et spes, den Paragraphen 39. Eine Kernstelle lautet: „Zwar werden wir gemahnt, daß es dem Menschen nichts nützt, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst jedoch ins Verderben bringt […] dennoch darf die Erwartung der neuen Erde die Sorge für die Gestaltung dieser Erde nicht abschwächen, auf der uns der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie eine umrißhafte Vorstellung von der künftigen Welt geben kann, sondern muß sie im Gegenteil ermutigen.“

      Diese Passage bekommt eine besondere Tiefe durch den Umstand, dass sie von Romero mit der posthum erwachsenden Autorität des letzten Zitats angeführt worden ist. Die Verbindung mit Romero gibt dem Wort Gewicht, denn Romero hat mit seinem Leben (und seinem Sterben) bezeugt, was es heißt, den Blick auf die neue Erde und den neuen Himmel mit dem unermüdlichen Einsatz für eine gerechte(re) Welt zu verbinden.

      Christlich zu leben bedeutet, den Geist der Gleichgültigkeit überwunden zu haben. Christsein ist Abkehr von Indifferenz. Und damit auch das Gegenteil einer Abkehr von Schöpfung und Welt.

       Literatur

      Bieri, Peter: Eine Art zu leben, München 2011.

      Brooks, David: The Second Mountain, New York 2019.

      Vanier, Jean: Eruption to Hope, Toronto 1967.

      Williams, Rowan: On Being Creatures, in: Williams, Rowan: On Christian Theology, Oxford 2000.

      Waldron, Jeremy: What Can Christian Teaching Add to the Debate about Torture?, in: Theology Today 63 (2006), S. 330–343.

      1Die Rede findet sich in: J. Vanier: Eruption to Hope, Toronto 1967; siehe auch J. Vanier: In Weakness, Strength: The Spiritual Sources of Georges P. Vanier, Toronto 1969.

      2R. Williams: On Being Creatures, in: ders.: On Christian Theology, Oxford 2000.

      3D. Brooks: The Second Mountain, New York 2019, xv.

      4J. Waldron: The Image of God: Rights, Reason, and Order, in: J. Witte, Jr. / F. Alexander (Hg.): Christianity and Human Rights: An Introduction, Cambridge 2010, 216–235.

      5Vgl. P. Bieri: Eine Art zu leben, München 2011.

      6J. Waldron: What Can Christian Teaching Add to the Debate about Torture?, in: Theology Today 63 (2006), 330–343.

      7Ebd. 337–340.

      8Ebd. 336, FN 14.

      9Dieser Punkt kann gerade bei der Frage nach globaler Migration eine Rolle spielen – vgl. A. Rowland: On the Temptations of Sovereignty: The Task of Catholic Social Teaching and the Challenge of UK Asylum Seeking, Political Theology 12,6 (2011) 843–869; christliche Politik darf es sich mit nationaler Rationalität nicht zu einfach machen – das Prinzip der Würde der menschlichen Person hat den Primat vor nationalen Interessen; das ist auch in der Tradition der katholischen Soziallehre ausgedrückt, siehe Pacem in Terris 105, Caritas in Veritate 62.

      Eigenverantwortung in christlich-sozialer Perspektive

       Manfred Prisching

       Eigenverantwortung ist ein Orientierungsbegriff: Man möge die Initiative, die Autonomie, die Leistungsfähigkeit und die Verantwortlichkeit der Menschen nicht unterschätzen. Es geht um das richtige Maß zwischen den beiden Polen: einerseits der mündige, starke, reflexions- und handlungsfähige Mensch, andererseits der überlastete, schwache, hilfsbedürftige, manchmal auch dumme Mensch. Eigenverantwortung setzt Freiheit voraus, dabei respektiert sie den Menschen und seine Leistungen. Eigenverantwortung bedeutet weder radikalen Etatismus oder Paternalismus noch radikalen Neoliberalismus, sie forciert nicht Egoismus, prämiert aber auch nicht die billige (und manchmal gar nicht naive) Opferrolle. Sie anerkennt die Notwendigkeit solidarischer und staatlicher Unterstützung. Wie bei den meisten Beschreibungen eines guten und gelingenden Lebens geht es um das richtige Maß.

      Wenn über moralisch-politische Sachverhalte gesprochen wird, pflegt es vor Leerformeln (Salamun 1975, 32 ff.) zu wimmeln. „Soziale Gerechtigkeit“ (Kirchschläger 2013) ist beispielsweise eine großartige, moralisch und politisch vielfach brauchbare Forderung, wenn sich jeder darunter etwas anderes vorstellen kann. De facto ist damit meist mehr (materielle) „Gleichheit“ (Kersting