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der Vielfalt. Die Erzählung vom „Turmbau zu Babel“ im aktuellen Kontext, in: Hartmut Schröter (Hg.): Weltentfremdung, Weltoffenheit, Alternativen der Moderne: Perspektiven aus Wissenschaft – Religion – Kunst, Münster 2008, S. 39–58.

      28Vgl. das Pfingstereignis in Apg 2, bei dem keine Einheitssprache gesprochen wird, sondern alle die eine Botschaft in ihrer eigenen Sprache verstehen.

      29Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015.

      Der christliche Mensch und das Politische: Christsein und Politik

       Clemens Sedmak

       Christlich zu leben bedeutet, den Geist der Gleichgültigkeit überwunden zu haben. Christsein ist Abkehr von Indifferenz. Und damit auch das Gegenteil einer Abkehr von Schöpfung und Welt.

      Einführung

      Georges Vanier war ein christlicher Politiker; ein Soldat und Diplomat, der am Ende seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1967 als Generalgouverneur von Kanada diente. Als er 1959 den Eid als Generalgouverneur ablegte, sagte er: „My first words are a prayer. May almighty God in His infinite wisdom and mercy bless the sacred mission which has been entrusted to me by Her Majesty the Queen and help me to fulfill it in all humility. In exchange for His strength, I offer Him my weakness. May He give peace to this beloved land of ours and … the grace of mutual understanding, respect and love.“

      Hier kündigt sich die bedeutsame Einsicht an, dass die Stärke des Christen und der Christin nicht im Eigenen liegt, sondern darin, eingedenk der eigenen Schwäche auf die Gnade Gottes zu vertrauen – denn die Gnade wirkt in der Schwachheit (2 Korinther 12,9). Georges Vanier hat aus dem Wissen um Verwundbarkeit und Endlichkeit Politik betrieben. Wenige Monate nach seinem Tod sprach sein Sohn Jean Vanier zu kanadischen Parlamentariern und erinnerte sie an einige Eckpunkte im Leben seines Vaters1.

      Zwei Punkte scheinen erwähnenswert:

      Erstens wies Jean Vanier darauf hin, dass sein Vater klar der Überzeugung war, dass christliche Werte nicht genügen würden, es gehe um Nachfolge, um Christsein. Dazu einige Bemerkungen: Es ist ja durchaus möglich, die in der jüdisch-christlichen Tradition verankerten Werte wie Gastfreundschaft, besondere Aufmerksamkeit für die Benachteiligten, Versöhnungsbereitschaft, Achtung vor dem Leben, Anerkennung der Würde des Menschen, Sinn für Verantwortung für die Schöpfung zu respektieren, zu teilen, ja, sie sich auch als lebensformanleitend zu eigen zu machen. Aber nach Georges Vanier greift dies zu kurz. Denken wir an den Wert der Gastfreundschaft: Es ist ein Unterschied, ob Gastfreundschaft als kultureller Wert oder zivile Tugend gelebt wird oder als Ausdruck der Nachfolge Jesu, der uns im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums mit den Aussagen konfrontiert: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“ Und: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Verse 35 und 40). Wir könnten uns fragen, welchen „Mehrwert“ Gastfreundschaft als Ausdruck der Nachfolge gegenüber Gastfreundschaft als Ausdruck einer humanistischen oder humanitären Gesinnung habe. Mir scheint, dass die Art der Verankerung des Wertes eine andere ist, Gastfreundschaft aus Nachfolge ist identitätsstiftend und schöpft aus Quellen, die mit Vernunft allein nicht gefasst werden können.

      Zweitens zeigte Jean Vanier auf, dass sein Vater seine Beziehung zu seinem geliebten Gott gepflegt hat, Tag für Tag. Jeder Mensch muss essen und nimmt sich Zeit zu essen, der Mensch muss aber auch seine Seele nähren und sollte sich mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit dafür Zeit nehmen, so die Einstellung von Georges Vanier. Jeden Tag verbrachte Georges Vanier eine halbe Stunde in Gebet und Reflexion – egal, wie beschäftigt oder wie erschöpft er war. Ja, der Christ in der Politik ist ein homo orans, ein betender Mensch. Ein betender Mensch wird durch das Beten unmerklich geformt. Beten wird in der Tradition manchmal mit dem Atmen der Seele verglichen. Christliche Politik ist geformt durch das Gebet. Es kann nicht anders sein.

      Ich möchte das Verhältnis von Christsein und Politik durch zwei einfache Gedanken charakterisieren: (1) Eine Christin erwartet von der Politik kein erstes Wort und keine letzten Antworten. (2) Eine Christin stellt ernsthafte politische Fragen und ernsthafte Anfragen an die Politik.

      (1) Eine Christin, ein Christ erwartet von der Politik kein erstes Wort und keine letzten Antworten

      Das erste und das letzte Wort sind Dem vorbehalten, der Anfang, Grund und Ende unseres Lebens ist. Christinnen und Christen verstehen sich als Geschöpfe. Christliche Politik ist Politik von Kreaturen, Politik von Geschöpfen. Rowan Williams hat in einem Aufsatz über die Frage nachgedacht, was es denn heiße, Geschöpf zu sein.2 Eine Einsicht in diese Reflexionen „On Being Creatures“ ist eine These zur Identität: Wenn ich mich als Geschöpf weiß, dann verstehe ich meine Identität nicht als konstruiert oder „erleistet“ oder ausgehandelt, sondern als geschenkhaft gegeben. Damit ist ein Moment des Unaufhebbaren gegeben wie auch die Aufgabe, sich die Gabe der Identität zu eigen zu machen.

      Das Politische kann nur aus Bestehendem schaffen, es ist stets „zweites Wort“ oder „drittes Wort“, nicht aber ursprüngliches Wort, das aus sich selbst schöpfen würde. Politik als Gestaltung von Macht schafft und ermächtigt – aber stets aus Vorhandenem. Politik ist stets auch Umbau, nie allein Aufbau. Politik schafft „Welt“ aus bestehenden Welten. Damit ist auch gesagt, dass eine „Ethik der Erinnerung“ ebenso bedeutsam sein wird wie eine „Ethik der Hoffnung“.

      Das Politische hat nach christlichem Verständnis nicht das letzte Wort. Auf die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Geheimnis der Person und der Lösung von aller Unfreiheit erwartet die Christin nicht politische Antworten. Es ist nicht Aufgabe der Politik, mit menschlichen Mitteln „den Himmel auf die Erde“ zu bringen. Die christliche Politikerin weist auf Vorletztes. Das entlastet auch, denn – wie es Karl Popper einmal formuliert hat – jeder Versuch, den Himmel auf die Erde zu bringen, hat die Hölle gebracht. Politik hat eine Vorläufigkeit, die demütig macht und auch befreit.

      Es ist eine besondere Freiheit mit der Einstellung verbunden, keine letzten Antworten von der Politik zu erwarten. Ich möchte dies als vierfache Freiheit sehen: als (negative) Freiheit von Angst und Ego, als (positive) Freiheit zu Würde und zu Gemeinwohl.

      „Freiheit von Angst“ ergibt sich aus dem Wissen darum, dass das Letzte, was trägt, von keiner politischen Macht genommen werden kann. Hier eröffnet sich ein Raum für Furchtlosigkeit – auch die persönliche Ehre und der persönliche Ruf sind angesichts der vom Schöpfer gegebenen Identität nicht höchste Güter, die durch Verleumdung oder Rufmord oder mit anderen Mitteln genommen werden könnten. Das, was im Letzten zählt, entzieht sich dem politischen Zugriff. Politische Gegner können die Fundamente des Lebens nicht zerstören. Aus der rechten Furchtlosigkeit ergibt sich eine Freiheit, die Vernunft zu gebrauchen, denn Angst ist allemal die Mutter allen Aberglaubens, wie es Bertrand Russell formuliert hat.

      Mit der „Freiheit von Ego“ ist gemeint, dass Christsein eine Lebensform darstellt, bei der das eigene Ego nicht die höchste Norm und die Frage nach dem eigenen Wollen und Wünschen nicht die Leitfrage ist. Christliches Leben ist Leben als Nachfolge Jesu, das sich an der Frage orientiert: Was ist der Wille Gottes? Das ist eine, wie sich alle vorstellen können, schwierige Frage; aber wenn das die Frage ist, die das Leben bestimmt, dann ändert sich die Lebensrichtung. Diese Frage ermöglicht eine Perspektive, die nicht das eigene Ego in den Mittelpunkt rückt. Wer aus anderen Quellen als aus dem Irdischen schöpft, kann mit Fragen von eigenem Stolz und eigener Macht anders umgehen. Christsein in der Politik zeigt sich auch in einem gelebten Wissen darum, dass es um anderes geht als um das eigene Ego.

      Was damit gemeint ist, soll eine Geschichte illustrieren, die David Brooks über Abraham Lincoln, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, erzählt hat. Im November 1861 suchte Lincoln in Begleitung des Secretary of State (William Seward) und eines jungen Sekretärs (John Hay) General McClellan auf, um mit ihm eine wichtige Unterredung über den Krieg zu führen. Es ging tatsächlich um die Zukunft des Landes. Als