der wohlverstandenen Freiheit, die Gesellschaft der kultivierten Freiheit ist nicht identisch mit vulgärem Liberalismus (weniger Staat ist immer besser), mit vulgärem Spontanismus (jeder darf tun, was er will) oder mit vulgärer Niedertracht (Politik als Forum ausschließlichen Schienbeintretens). Sie setzt vielmehr feste Regeln, verlässliche Institutionen und Rahmenbedingungen sowie eine gewisse zivilisierte Grundhaltung voraus, ein Ambiente, in dem „Freiheiten“ zur „Freiheit“ zusammenfließen können.
Diese Freiheitsordnung, in der allein die Rede von der Eigenverantwortung Sinn hat, ist ständig gegen Angriff, Diskreditierung und Unterhöhlung zu verteidigen, denn es gibt alle möglichen alten und neuen Freiheitsbedrohungen: Dogmatismus, Planungsexzesse, Korruption, bürokratische Pingeligkeit, Kontrollgesellschaft, politische Korrektheitsideologie, sich aufschaukelnder Hass. Solche Phänomene gelten nicht nur für Länder an der europäischen Peripherie, zu deren entscheidenden Entwicklungshemmnissen das hohe Maß an Korruption zählt, sondern auch für Länder im Herzen Europas. Der immerwährenden Drift zu Malversationen muss stets Widerstand geleistet werden – institutioneller (Justiz) und individueller Widerstand (persönlicher Anstand). Institutionelle Degeneration droht immer. Der institutionelle Rahmen einer wohlverstandenen Eigenverantwortung kann somit niemals als gewährleistet betrachtet werden.5 Betrachtet man ihn als gesichert, setzt der Niedergang ein.
Eigenverantwortung setzt bei der persönlichen Identität an
Eigenverantwortung beginnt bei der eigenen Person. Diese Person muss „entwickelt“ werden: Besinnungslosigkeit ist mit Eigenverantwortung nicht verträglich, ebenso wenig wie Stumpfheit, Unverständnis, Gesinnungsmangel. Eigenverantwortung ist eine Zumutung an das Individuum – es ist für sich verantwortlich. Zugleich drückt diese Zumutung Wertschätzung und Respekt aus – das Individuum zählt.
(1): Max Scheler hat auf die allgemeine Tendenz schon 1921 aufmerksam gemacht, und viele andere später auch: die Tendenz, die menschliche Eigenverantwortung durch die Bestimmung zusätzlicher ökonomischer, psychologischer oder (vor allem) gesellschaftlicher Einflüsse einzuschränken (Scheler 1921). Wenn immer neue Bestimmungsgründe vorder- oder hintergründiger Art namhaft gemacht werden, die das Verhalten des Einzelnen lenken, prägen oder letztlich determinieren, wird dem Einzelnen jede Verantwortlichkeit und jede Schuld abgesprochen (Messner 2001, S. 292); er benötigt dann keine Reue, keine Überlegungen zum Umdenken, ja letzten Endes keine Anstrengung. Es sind dann immer die „Verhältnisse“, gar nicht mehr die Menschen selbst, die als „Wirkkräfte“ angesehen werden. Es bedarf konsequenterweise auch keiner Reflexion über die Angemessenheit des eigenen Verhaltens oder die eigenen begangenen Fehler, denn die entscheidende Determinante ist dieser Auffassung zufolge eben nicht beim Einzelnen zu suchen.
Es ist andererseits trivial festzustellen, dass man nicht nur durch seine genetische Erbschaft, sondern auch durch Erziehung, Herkunft und Milieu geprägt ist. Daraus ergeben sich Grenzen der Zurechnungsmöglichkeit. Gleichwohl kann nicht jedes Handeln durch die Umstände gerechtfertigt oder entschuldigt werden, zumal unter ähnlich beschränkten Verhältnissen andere Individuen erfolgreicher oder anständiger geworden sind. Es gibt in einer soziologistisch ideologisierten Gesellschaft einen Trend zur billigen Exkulpation: Wenn man aus der Schule fliegt, ist das bildungsferne Elternhaus schuld; wenn man zu viel trinkt, musste man dem Druck bei gesellschaftlichen Anlässen nachgeben; wenn man sich überschuldet, wurde man Opfer des generellen Konsumismus oder Modewahnsinns; die Person ist niemals schuld. Aber natürlich setzt Eigenverantwortung Kompetenzen voraus, die nicht aus dem gesellschaftlichen Nichts kommen: Verantwortung braucht Verantwortungsfähigkeit. Trivialerweise beginnen solche Fähigkeiten mit Information, Bildung und Reflexion.
(2): Die Zumutung individueller Verantwortlichkeit hat auch in Rechnung zu stellen, dass gerade die Insassen einer postmodern-individualistischen Gesellschaft unermüdlich den Anspruch erheben, ihr eigenes Selbst finden, gestalten und ausagieren zu wollen (Keupp 1999; Berger/Hitzler 2010). Bei allen Übertreibungen und Illusionen steckt in dieser Forderung ein ausgeprägter Gestaltbarkeitsanspruch. Man fühlt sich nicht nur als willenloses Produkt der Verhältnisse, man hat einen Teil seiner Identität selbst ausformuliert und entwickelt; konsequenterweise ist man dann zumindest teilweise für die Person, die man geworden ist, verantwortlich. Was dieses Selbst tut, ist deshalb auch unter dem Aspekt der jeweils individuellen Verantwortung zu sehen – auch wenn es Milderungsgründe für übles Verhalten und Minderungsgründe für Leistungserfolge geben mag. Ein triviales Beispiel ist die Eigenverantwortung für den eigenen Körper – nicht ganz inaktuell in Anbetracht einer Verfettungsepidemie, die sich durch die modernen und sich modernisierenden Länder zieht. Das Argument, dass man den wohlgefüllten Tischen reicher Länder nicht Widerstand zu leisten vermag, ist eine Art von Selbstdesavouierung. Norbert Bolz bringt ein bürgerliches Prinzip ins Spiel: „Freiheit impliziert Selbstdisziplin. Frei ist ein Mensch, dessen Selbstwertgefühl aus Selbstdisziplin erwächst. Kein Selbst ohne Selbstdisziplin.“ (Bolz 2010, S. 75).
Eigenverantwortung respektiert Menschen und ihre Leistungen
Eigenverantwortung bedeutet: Den Menschen ist etwas zuzutrauen. Eine christlich-soziale Perspektive setzt an bei der Respektierung des Menschen und seiner Leistungen; bei der Anerkennung des Umstands, dass der einzelne Mensch von Bedeutung ist und in Gemeinschaft lebt. Oft wird diese Einschätzung mit dem Begriff der Personalität (Personenprinzip, Personalismus) verbunden: den Menschen in seinen Fähigkeiten erkennen, ein grundsätzliches Vertrauen in seine Urteilsfähigkeit haben, den Menschen aber in der Folge auch verantwortlich machen. Gegenstück wäre die umfassende Entlastung: eine paternalistisch-fürsorgliche Staatsdiktatur, die den Menschen entmündigt. Es ist die „Person“, die im letzteren Fall unter die Räder gerät. Es gilt bei Erwachsenen dasselbe wie in der Kindererziehung: Wenn man den Kindern nichts zutraut, werden sie keine Fähigkeiten entwickeln können.
Eigenverantwortung ist deshalb eine leistungsfreundliche Geisteshaltung. Diese Wertschätzung von Leistung hat nichts damit zu tun, dass Menschen an die Burn-out-Grenze getrieben werden; ganz im Gegenteil richtet sich eine solche Haltung zunächst einmal auf sich selbst, auf die eigene Person. Sie meint: nicht allzu bequem sein – beim Denken, beim Arbeiten, beim Umgang mit anderen Menschen. Denn Selbstverwirklichung ohne Sinn und Verstand – das wäre Friedrich Nietzsches „letzter Mensch“: das bloße (bequeme) Lebenwollen; eine Unterschätzung der Möglichkeiten des Menschen. Das Pensionistenideal. Freiwillige Knechtschaft.
Ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler hat einmal von einer „solidarischen Hochleistungsgesellschaft“ gesprochen, und er hat damit die Balance zwischen solidarischer Unterstützung durch die Gemeinschaft und berechtigten Anforderungen an den Einzelnen gemeint – es ist ihm freilich in seiner (sozialdemokratischen) Partei nicht gut bekommen, dass er „Leistung“ verlangt hat.6 Es gibt ideologische Milieus, die eine Leistungsforderung per se als Unanständigkeit und Repression betrachten.7
Eigenverantwortung wird reduziert durch staatliche Inpflichtnahme
Menschen haben unterschiedliche Kompetenzen, sie können sich auf unterschiedliche Ressourcen stützen, sie kommen aus unterschiedlichen Milieus, sie haben unterschiedliche Lebensgeschichten, sie sind unterschiedlichen Risiken ausgesetzt, sie geraten in unterschiedliche Situationen. Eigenverantwortung ist begrenzt durch das, was den Menschen jeweils zumutbar und durch sie in der Lebenspraxis leistbar ist. Das Komplement zur Eigenverantwortung ist die (notwendige) Verantwortung der Gemeinschaft. Damit liegt der Bezug zur Solidarität auf der Hand.
Eine christlich-soziale Haltung ist mit einer Anerkennung der dynamischen Errungenschaften einer europäisch-marktwirtschaftlichen Ordnung verbunden, aber sie geht auf Distanz zu den Auswüchsen exzessiver Wirtschaftsfreiheit. Die Menschheitsgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Gewalt, sondern auch eine Geschichte der Ausbeutung, und die schlecht gestalteten globalisiert-finanzialisierten Märkte der späten Moderne (Wiemeyer 2010) neigen gleichfalls zur maximalen „Abschöpfung“. Das zeigen die Statistiken über Polarisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte. Seit dem Entstehen der