Die Menschen, die zusammen mit mir vor dem Museum Schlange standen, schienen unschlüssig, ob sie Stolz oder Scham empfinden sollten.
In einer der Vitrinen des Museums wurde ein altes Buch ausgestellt, das auf einer Hinweistafel als kleine Aufmerksamkeit des Finanzamtes beschrieben wurde. Es war ein Exemplar des Apostol, des ersten in der Ukraine gedruckten Buchs, von dem heute in aller Welt bestenfalls hundert Exemplare existieren. Wie kam man im Finanzamt auf den Gedanken, dass es sich um ein geeignetes Präsent für den Präsidenten handeln könnte? Wie konnte sich die Behörde so etwas leisten? Wieso kam man im Finanzamt überhaupt auf den Gedanken, dem Präsidenten Geschenke zu machen? Wer hatte das bezahlt? Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste.
Unter einem Berg von kitschigen Vasen befand sich eine erlesene Keramik von Picasso, Herkunft unbekannt. Unter den Ikonen war wenigstens eine aus dem 14. Jahrhundert mit der typischen zweidimensionalen Darstellung. An einer anderen Wand, neben einem Porträt Janukowytschs aus Bernstein und einem anderen aus ukrainischen Getreidesamen, hingen russische Landschaftsgemälde aus dem 19. Jahrhundert im Wert von vielen Millionen Euro. In einer Vitrine war das stählerne Symbol von Hammer und Sichel zu bewundern, das Stalin einst der Kommunistischen Partei der Ukraine überreicht hatte. Wie war es in Janukowytschs Garage gekommen? Vielleicht hatte der Präsident keinen anderen Platz mehr dafür gefunden?
Die Menge schob mich durch die Räume. In einem hingen überall Gemälde von mehr oder weniger unbekleideten Frauen, die im Freien herumstanden und von bekleideten Männer umringt waren. Am Ende hatte ich nicht mehr die Kraft, die Krokodilshaut an der Wand genauer in Augenschein zu nehmen oder die Gewehre, Schwerter, Pistolen und Speere in den Schaukästen zu bestaunen. Meist sind es meine Füße, die mich bei Museumsbesuchen im Stich lassen; diesmal war es mein Gehirn.
Doch die Massen strömten unaufhörlich weiter ins Museum, tagelang standen lange Schlangen vor dem Eingang. Heiter schoben sich die Wartenden voran und verschwanden schließlich durch das Tor im Museum. Mit fahlen Gesichtern kamen sie am anderen Ende wieder heraus. Am Ausgang lag ein Gästebuch, in dem sie ihre Kommentare hinterlassen konnten. Jemand hatte geschrieben: »Wie viel Zeug braucht ein einzelner Mensch? Entsetzlich. Mir ist schlecht.«
Und das war erst der Anfang. Die Tage nach der Revolution waren im besten Sinne eine gesetzlose Zeit, keine Uniformierten hinderten die Bürger daran, ihre Neugierde zu befriedigen. Ich nutzte die Situation, um mich in möglichst vielen der abgelegenen Paläste der früheren Elite umzusehen. Eine Fahrt führte mich nach Sucholutschtschja inmitten eines Waldes vor den Toren Kiews. Die Sonne stach vom Himmel herab, die Luft waberte über dem Teer, während die Straße immer tiefer in den Wald hineinführte. Mein Begleiter Anton, der selbstständiger IT-Unternehmer gewesen war, ehe er sich der Revolution angeschlossen hatte, hielt an einem Tor, stieg aus und verschwand im Unterholz. Kurz darauf kam er zurück und hielt etwas in die Höhe: »Der Schlüssel zum Paradies!«, rief er grinsend. Er schloss das Tor auf, setzte sich wieder ans Steuer, und wir fuhren weiter.
Zu unserer Rechten glitzerte ein See, hier wurde das Wasser des Dnjepr aufgestaut. Wir fuhren über einen Damm, vorbei an einem Steg mit einem kleinen Bootshaus. Auf schwimmenden Inseln hockten Enten vor ihren Holzhäuschen. Schließlich hielten wir vor einem zweistöckigen Jagdhaus. Hierher war Janukowytsch mit alten Freunden und neuen Freundinnen gekommen, um auszuspannen.
Anton war zum ersten Mal im Februar 2014 hierhergekommen, wenige Stunden nachdem der Präsident aus der Hauptstadt geflohen war. Er hatte vor dem Tor gehalten und den Wachleuten gesagt, die Revolution habe ihn geschickt. Sie hatten ihm den Schlüssel ausgehändigt und ihn durchgewunken. Dann hatte er das Anwesen mit seinem alten Baumbestand erkundet. Es gab eine Kapelle und ein Sommerhaus mit überdachtem Grillplatz. Das Gelände neigte sich sanft hinunter zum Seeufer und einer Anlegestelle für Jachten. Die Angestellten waren herausgekommen und hatten Anton gefragt, was er im Jagdschloss des Präsidenten zu suchen habe. Anton hatte erwidert, die Revolution habe gesiegt, und das Jagdschloss gehöre jetzt dem Volk.
Anton öffnete mir die Tür und führte mich hinein. Er hatte nichts angerührt: Der lange Esstisch mit seinen achtzehn Polsterstühlen stand noch so da, wie er ihn vorgefunden hatte, genau wie der beheizbare Massagetisch aus Marmor. An den Wänden hingen pseudo-impressionistische Aktgemälde, wie sie Renoir hätte malen können, wenn er in Softporno gemacht hätte. Der Fußboden war ein Parkett aus tropischen Harthölzern, die Wände waren mit rustikalen Brettern verkleidet. Bücher waren keine zu sehen.
Anton führte mich durch die Räume und zeigte mir eine Karaoke-Maschine, ein Schwimmbad und Kinoräume. Den tiefsten Eindruck hinterließen allerdings die Toiletten. Gegenüber den Kloschüsseln waren in Sitzhöhe Fernsehapparate angebracht. Es war eine persönliche Note der ganz besonderen Art: Präsident Janukowytsch war ein passionierter Fernsehkonsument und offenbar hatte er einige Zeit auf der Schüssel verbracht. Während die Bürger seines Landes für miserable Gehälter malochten und jung starben, und während die Infrastruktur des Landes verfiel und sich Beamte und Politiker die Taschen vollstopften, hatte der Präsident Sorge getragen, dass seine Verstopfung ihn nicht am Fernsehgenuss hinderte. Für mich wurden diese Fernsehapparate zum Sinnbild all dessen, was schiefgelaufen war, und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern in sämtlichen ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen ich als Journalist gearbeitet habe.
Als die Sowjetunion zerfiel, war ich dreizehn und neidisch auf alle, die diesen Moment miterleben durften. Im Sommer 1991, während die Hardliner in Moskau einen letzten Versuch unternahmen, ihrem Land die alte Sowjetordnung aufzuzwingen, verbrachte ich mit meiner Familie die Ferien in den schottischen Highlands und versuchte verzweifelt, im Funkschatten der Hügel einige Radiosignale zu erhaschen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Als die Ferien zu Ende waren, war der Putschversuch gescheitert und ein neues Zeitalter war angebrochen. Der an sich eher zurückhaltende Historiker Francis Fukuyama rief das Ende der Geschichte aus. Die Welt war frei. Die Guten hatten gesiegt.
Ich interessierte mich brennend dafür, was in Osteuropa vor sich ging, und verschlang Hunderte Bücher von Autoren, die vor mir da gewesen waren. Während meines Studiums streifte ich jeden Sommer durch die Länder des früheren Warschauer Paktes, die einst unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang gelegen hatten, und freute mich an der Vereinigung Europas. Nach dem Studium wartete eine Anstellung auf die meisten meiner Kommilitonen, doch ich hatte anderes vor. Im September 1999 zog ich nach St. Petersburg, die zweitgrößte Stadt Russlands, überwältigt von Begeisterung, trunken von den Möglichkeiten des demokratischen Wandels und der Blüte einer neuen Gesellschaft. In meinem Freudentaumel bemerkte ich gar nicht, dass ich den Moment verpasst hatte, und dass er längst vorüber war, wenn es ihn denn jemals gegeben haben sollte. Drei Wochen vor meiner Ankunft auf dem Flughafen Pulkowo war ein undurchschaubarer ehemaliger KGB-Agent namens Wladimir Putin zum Premierminister ernannt worden. Statt über Freiheit und Freundschaft zu schreiben, berichtete ich während der nächsten zehn Jahre über Kriege und Missbrauch, erlebte Paranoia und Schikane. Die Geschichte war keineswegs zu Ende. Im Gegenteil, sie nahm gerade an Fahrt auf.
Als ich 2014 den präsidialen Abort in Augenschein nahm, hatte ich bereits zwei Bücher über die ehemalige Sowjetunion veröffentlicht. Der Anstoß für das erste war das Elend, das ich in und um Tschetschenien gesehen hatte, und handelte von den Kaukasusvölkern und ihren wiederholten und wiederholt fehlgeschlagenen Bemühungen um Selbstbestimmung. Das zweite Buch beschrieb die Russen und die Aushöhlung ihres Landes durch Alkoholismus und Verzweiflung. Auch wenn es mir damals nicht ganz klar war, stand hinter beiden Büchern die unausgesprochene Frage: Was ist da nur schiefgegangen? Warum ist der Traum des Jahres 1991 nicht Wirklichkeit geworden? Vor dem Thron des gestürzten Präsidenten der Ukraine drängte sich mir diese Frage mit Macht auf: Warum hatten diese Staaten nicht Freiheit und Wohlstand bekommen, sondern Politiker, denen mehr an einem gepflegten Stuhlgang gelegen war als am Wohl ihrer Bürger?
Ein wenige Hundert Meter vom Kreml entfernt gelegener Bentley-Händler verkauft Karossen im Wert von vielen Hunderttausend Euro, und die russischen Zeitungen prahlen damit, dass diese Filiale mehr von diesen Luxusschlitten verkauft als jede andere auf der Welt. Wenige Stunden entfernt lernte ich – wohlgemerkt mitten im iPhone-Zeitalter – einen Mann kennen, der mir für mein altes Nokia-Handy sein gesamtes Vermögen anbot. In Aserbaidschan beauftragte Präsident Ilham Alijew die Stararchitektin Zaha Hadid – seinerzeit die glamouröseste Vertreterin