könnte, wenn …
Das »wenn« war das Problem. Ich wusste, dass der Unterschied zwischen den Profis und mir nicht extrem groß war. Wenn ich regelmäßig mit den Spitzenspielern trainieren dürfte; wenn ich den Besten täglich auf die Beine schauen könnte; wenn ich die Gelegenheit hätte, mich in jedem Training mit ihnen zu messen; dann könnte ich auch beweisen, dass ich mithalten kann, dass mich das Training mit besseren Spielern selbst besser macht; dass ich die Qualität habe, für den FC Bayern zu spielen.
Aber zeigen konnte ich bei den Profis noch nicht viel. Im November 2002 war ich beim Champions-League-Spiel gegen den RC Lens zwei Minuten vor Schluss eingewechselt worden. Der FC Bayern war zu diesem Zeitpunkt längst ausgeschieden, und in den zwei Minuten Spielzeit konnte ich im schlecht besuchten Olympiastadion nicht viel mehr zeigen, als dass ich das Bayern-Trikot mit der Nummer 29 trug.
Dabei ging es für mich um eine Menge Geld. Hätte ich mit den Profis gewonnen, hätte ich eine Punkteprämie kassiert, die höher als mein Monatseinkommen bei den Amateuren gewesen wäre. Als ich eingewechselt wurde, sah es noch gut aus. Markus Feulner hatte gerade das 3:2 für den FC Bayern erzielt. Aber eine Minute später war der Traum auch schon wieder vorbei. Ausgleich, Prämie gestrichen.
Ein Platz bei den Bayern-Profis scheint derzeit nicht in Reichweite, und Felix Magath bietet mir an, zu einem Klub zu kommen, der ebenso Champions League spielt wie der FC Bayern.
Täglich mit den Profis trainieren.
Selbst Profi sein.
Ich rufe meinen Berater an. Roman rät mir zu. Wir machen einen Termin mit dem FC Bayern aus. Der FC Bayern ist einverstanden, mich an Stuttgart auszuleihen. Wir fahren nach Stuttgart. Felix Magath ist clever, also überaus freundlich. Er sagt, er holt mich für rechts hinten, eine Position, auf der beim VfB Andreas Hinkel spielt, ein Nationalspieler. Aber du kannst ja auch rechts im Mittelfeld spielen, sagt Magath, oder Hinkel spielt im Mittelfeld und du in der Verteidigung. Ich höre immer nur »spielen«. Nichts anderes will ich. Regelmäßig Bundesliga spielen, wenn möglich als Stammspieler. Ein Traum für einen 19-Jährigen wie mich. Nach dem Gespräch mit Magath stehe ich auf und bin überzeugt davon, dass er mich wirklich, wirklich haben will. Dass ich spielen werde. Regelmäßig. Nachdem ich mich zuerst noch einmal mit Roman beraten habe und mit meinen Eltern, sage ich zu.
Am ersten Trainingstag beim VfB Stuttgart muss ich von Mann zu Mann gehen und mich vorstellen. Niemand kennt mich, außer drei jungen Spielern, mit denen ich bereits in der Jugendnationalmannschaft gespielt habe.
»Hallo, ich bin Philipp Lahm …, hallo, ich bin Philipp Lahm …«
Ich habe jetzt einen eigenen Spind. Links von mir sitzt Timo Hildebrand, der schon in der Nationalmannschaft gespielt hat, rechts von mir Silvio Meißner. Ich darf mir eine Rückennummer aussuchen, ich nehme die 21.
In der Kabine ist der Umgang noch ein bisschen steif. Jemand fragt mich, ob der Umzug gut geklappt hat. »Ja«, sage ich. Viel mehr fällt mir nicht ein.
Aber auf dem Trainingsplatz fällt die Beklommenheit von mir ab. Ich weiß ja, dass ich Fußball spielen kann, und ich will wissen, ob ich mit den erfahrenen Spielern mithalten kann.
Das Training ist straff. Die erste Mannschaft spielt gegen die zweite. Ich stehe in der zweiten. Es dauert ein bisschen, bis ich orientiert bin, aber da höre ich schon den Trainer: »Philipp!«
Felix Magath, der ohnehin schon von Beruf Respektsperson ist, lässt mich vortreten und faltet mich vor versammelter Mannschaft zusammen. »Beweg dich mehr«, befiehlt er in bestem Kasernenhofton, »nimm mehr am Spiel teil.«
Mit eingezogenem Kopf renne ich zurück aufs Spielfeld. In meinem Kopf ein dumpfes Gefühl. Ist da eine Dampfwalze über mich drübergefahren? Aber nach dem Training sagen mir die Kollegen: »Nimm das nicht zu ernst. Der Trainer will dir helfen, und er macht das eben so.« Okay, denke ich, okay. Er scheißt mich zusammen, weil er mich wie jeden anderen Spieler behandelt. Er sieht kein Nachwuchstalent in mir, sondern ein echtes Mannschaftsmitglied. Er will nur, dass ich mich am Riemen reiße. Okay. Okay.
Ich reiße mich am Riemen und haue mich im Training voll rein. Der Trainer sagt nichts mehr zu mir, also muss die Leistung, die ich abliefere, in Ordnung sein. Bald beginnen die Kollegen mit mir kleine Witze zu machen. Witze sind das Konversationslexikon des Fußballprofis. Wenn du einem Mitspieler den Ball durch die Beine gespielt, ihn getunnelt hast, gibt es Anerkennung in Form eines durch die Zähne gepressten »Supertunnel!«. Nach ein paar Tagen auf dem Trainingsplatz ist das Fremdeln vorbei. Jetzt wird frei von der Leber geredet, meistens über Fußball. Einer nach dem anderen kommt zu mir und will wissen, wie es beim FC Bayern so zugeht.
Die Saison 2003/04 beginnt am 3. August, wir spielen auswärts gegen Hansa Rostock. Ich stehe im Kader, aber nicht in der Startaufstellung. Auf meiner Position, der des rechten Verteidigers, ist Andreas Hinkel gesetzt. Er spielt souverän, was ich von der Bank mit gemischten Gefühlen beobachte. Klar, ich will, dass die Mannschaft gewinnt. Aber ich will auch meinen Teil zum Gewinnen beitragen.
Zu meinem Bundesligadebüt für den VfB komme ich dann wegen einem Paar Schienbeinschützern. Zu Beginn der zweiten Halbzeit schickt der Trainer einen ganzen Schwarm Spieler zum Aufwärmen, auch mich, und gegen Mitte der Halbzeit gehen wir durch ein Tor von Imre Szabics 1:0 in Führung. Jetzt will der Trainer den Vorsprung absichern. Er holt Silvio Meißner vom Feld, aber der Spieler, der ihn eigentlich ersetzen soll, hat seine Schienbeinschützer noch nicht richtig in den Stutzen und trottet dem Trainer zu langsam Richtung Ersatzbank.
Also sagt Magath: »Nein, du nicht« und zeigt stattdessen auf mich.
Ich bin fertig. Silvio hat mir schon vor dem Spiel gesagt, dass ein Einsatz blitzartig kommen kann und dass ich besser meine Schienbeinschützer in den Stutzen habe, sobald ich mich auf die Bank setze. Danke für den Tipp, Silvio.
Der Platzsprecher meldet Vollzug: »Aus dem Spiel geht die Nummer 7, Silvio Meißner. Für ihn kommt mit der Nummer 21, Philipp Lahm.«
Hört sich gut an. Ich spiele links im Mittelfeld, nicht unbedingt meine Position, aber dann läuft sofort eine gute Aktion über meine Seite, ich erobere den Ball vom Gegner, spiele ihn weiter, schneller Angriff, und Imre Szabics macht sein zweites Tor, 2:0, jetzt lassen wir den Gegner nicht mehr kommen, und dann ist das Spiel auch schon vorbei. Alle sind zufrieden, nur der Kollege mit den Schienbeinschützern hat an seinem verpassten Einsatz zu knabbern.
In den nächsten Spielen habe ich immer wieder kurze Einsätze, meistens rechts im Mittelfeld vor Andreas Hinkel. Bei einer Partie im Ligapokal verletzt sich Timo Wenzel, der links hinten gespielt hat, und der Trainer fragt: »Philipp, kannst du auch linker Verteidiger spielen?«
Ich zögere keine Sekunde und sage: »Kein Problem.«
Das ist gewagt, denn ich habe in all den Jahren als Fußballer noch nie auf dieser Position gespielt. Aber hätte ich sagen sollen, das mache ich nicht? Hätte ich die Chance auf einen Einsatz willkürlich vergeben sollen? Ich spiele also eine Halbzeit linker Verteidiger, nicht brillant, aber ganz ordentlich.
Zwei Spieltage später stehe ich als linker Verteidiger in der Startaufstellung gegen Borussia Dortmund. Was ich noch nicht weiß: von nun an werde ich fünf Jahre lang auf dieser Position spielen.
Der VfB hat eine starke Mannschaft. Felix Magath weiß, wie er ein Team zusammenstellen muss. Kompakte Abwehr, Aljaksandr Hleb als fantastischer Individualist und viele Junge, die sich für die Mannschaft die Seele rausrennen: solche wie ich.
Parallel zur Meisterschaft beginnt die Champions League. Wir spielen in einer starken Gruppe mit Manchester United, den Glasgow Rangers und Panathinaikos Athen. Bei der Auftaktniederlage in Glasgow hatte ich noch nicht gespielt, aber als das Heimspiel gegen Manchester United vor der Tür steht, habe ich schon meine ersten beiden Spiele in der Startformation hinter mir.
Aber Bundesliga und Champions League, das sind zwei Paar Schuhe. Manchester United kommt mit allen Stars, Scholes und Giggs im Mittelfeld, Rio Ferdinand in der Verteidigung, Cristiano Ronaldo und Ruud van Nistelrooy im Sturm. Ich bin nicht sicher, ob der Trainer sich traut, mich gegen den besten Sturm Europas auflaufen zu lassen.