unseres Fußballplatzes, der Geruch der Kabinen, der Spaß, den ich mit den Jungs habe – kriege ich beim FC Bayern etwas, was mir genauso viel wert ist? Wird das Training dort ein Kampf statt dem vertrauten Spaß in Gern? Und: bin ich überhaupt gut genug für den großen FC Bayern?
Als mich die Mama zum Probetraining fährt, schaut sie mich vom Fahrersitz aus prüfend an. Sie merkt, dass ich nervös bin. Aber sie will mir die Peinlichkeit ersparen, es abzustreiten, deshalb schweigen wir.
Ich weiß nicht, was ich mir erwartet habe, aber die Schülermannschaft des FC Bayern ist voll in Ordnung. Ein Spieler, der ein halbes Jahr älter ist als ich, nimmt mich sofort unter seine Fittiche. Er heißt Enzo. Sein kleiner Bruder Diego Contento wird Jahre später mit mir bei den Profis des FC Bayern spielen.
Enzo ist sofort so was wie ein Verbündeter. Außerdem hat er die Aufgabe übernommen, mit mir ins Olympiastadion zu fahren und mich dort in die Pflichten eines Balljungen einzuweisen.
Auf der Rückfahrt nach Gern habe ich das Gefühl, dass ich auch beim FC Bayern sehr schnell Freunde finden werde. Das Gefühl ist stärker als die Traurigkeit, dass ich meine Freunde von zu Hause in Zukunft nicht mehr so oft sehen werde. Als ich darüber nachdenke, merke ich, dass ich mich bereits entschieden habe. Ja, ich werde zum FC Bayern wechseln.
Zum ersten Mal begreife ich, was Ordnung auf dem Platz ist. Unser Trainer Jan Pienta unterbindet alle Versuche, wie in Gern draufloszubolzen, mit einem Pfiff seiner Trillerpfeife. Er schärft jedem Spieler ein, die Position zu halten, die ihm zugewiesen ist, und sich an das Grundmuster zu halten, das unserem Spiel zugrunde liegt.
Ich spiele auf der Position des Achters. Defensives Mittelfeld mit ein bisschen Spielraum nach vorn. Liegt in der Familie, auch der Papa hat immer mit der 8 gespielt. Zum ersten Mal höre ich den Begriff »Stellungsspiel« in Verbindung mit verständlichen Anweisungen. Zum ersten Mal begreife ich den Zusammenhang zwischen den Zeichnungen, die der Trainer in der Kabine an die Wand pinnt, und dem Lauf des Balls auf dem Feld. Ich wittere Fußball. Ich ahne Niveau.
Aber ich muss viel lernen, um ganz in der Mannschaft anzukommen. Ich muss zum Beispiel lernen, von zu Hause fort zu sein. Ich habe bis jetzt noch nie auswärts geschlafen, und jetzt fahren wir zu einem Turnier nach Berlin, wo wir bei Gasteltern untergebracht werden. Ich muss lernen, auf meine Freunde zu verzichten, denn ich habe drei Mal in der Woche Training an der Säbener Straße, und am Wochenende wird gespielt.
Meistens gewinnen wir, das macht Spaß.
Als wir in der Münchner Olympiahalle den Hertie-Cup spielen, treffen wir im Finale auf 1860. Unentschieden nach der regulären Spielzeit, und als ich in der Nachspielzeit das Golden Goal erziele, bin ich in dem Knäuel von Spielern, die dieses Tor feiern, ganz unten. Alle anderen liegen auf mir.
Am Abend merke ich, dass ich ganz dicke Stellen am Hals habe. Wir gehen zum Arzt. Der Doktor untersucht mich und stellt schnell fest, dass ich eine geschwollene Milz habe, vermutlich durch eine Infektion, die ich bis dahin nicht bemerkt habe. Bloß nicht stark draufdrücken, sagt der Doc, die Milz könnte reißen. Gut, dass er mir das jetzt schon sagt.
Beim FC Bayern spielen die besten Nachwuchsspieler Münchens. Eine zusätzliche Herausforderung besteht darin, dass die U12 in den Wettbewerben der U13 antritt, die U13 in denen der U14, die U14 in denen der U15. Erst die U17 misst sich wieder mit gleichaltrigen Gegnern.
Als wir 14 werden, beschließt der Verein, eine neue U15 ins Rennen zu schicken. Wir müssen ganz unten anfangen, gegen die schlechtesten Klubs. Alle regen sich darüber auf, nicht über die zweistelligen Packungen, die wir den Gegnern verpassen, aber über die roten Staubplätze, auf denen wir in diesem Jahr spielen müssen.
In der U14 werde ich für die Münchner Auswahl nominiert: meine erste Berufung in ein Auswahlteam. Zwei Jahre später folgt die Berufung in die Bayern-Auswahl, und als ich 16 bin, werde ich von Uli Stielicke in die U17-Nationalelf eingeladen. Wir spielen gegen Finnland, ich bringe nichts Besonderes auf die Reihe, und Uli Stielicke lässt ein Jahr lang nichts von sich hören.
In Duisburg gewinne ich mit der U16 der Bayern-Auswahl meinen ersten Titel, die Deutsche Meisterschaft im Ländervergleich. Auf der Rückfahrt lassen wir die Sau raus. Der Bus muss bei einer McDonald’s-Raststätte ranfahren, und die Mannschaft stößt mit Sekt auf den Titel an: in Plastikbechern, versteht sich.
Der Gedanke, Profi zu werden, ist in jeder Schüler-, in jeder Jugendmannschaft zu Hause. Jeder Junge, der fünf Mal die Woche trainiert und am Wochenende spielt, hat den Traum, irgendwann Bundesliga zu spielen oder Champions League. Nichts ist reizvoller als der Gedanke an das Trikot deines Klubs, wo unter einer super Nummer dein Name steht.
Natürlich träume auch ich davon. Aber ich habe auch einen anderen Plan in Reserve. Vielleicht will ich Banker werden wie mein Opa und mein Onkel. Zahlen liegen mir. In der Schule zählt Mathematik zu meinen Lieblingsfächern. Noch belastet mich der Gedanke an Entscheidungen, die in der Zukunft fallen, nicht.
Am spannendsten wird es immer zu Saisonende. Zu Saisonende sagt der Trainer, wen er nächstes Jahr noch in der Mannschaft sehen möchte. Das bedeutet das Ende mancher Träume. Drei, vier, fünf Spieler müssen gehen, einen anderen Verein suchen, manche hören mit dem Fußball überhaupt auf.
Ich rutsche von Jahr zu Jahr in die nächste, höhere Mannschaft. Andere Spieler, vor denen ich großen Respekt hatte, werden nicht mitgenommen.
In den Mannschaften bin ich immer einer der Jüngsten. Ich habe im November Geburtstag, und da die Jugendmannschaften nach Geburtsjahr zusammengestellt werden, spiele ich oft gegen Jungs, die fast ein Jahr älter sind als ich. Das ist für Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige oft ein Unterschied von einiger Tragweite.
Weil ich nicht besonders groß bin, muss ich mein Spiel so anlegen, dass ich das durch besonders fixes Denken ausgleiche. Dass ich schon am richtigen Ort stehe, bevor der Ball dorthin gespielt wird. Dass ich vorausahne, was der Gegner als Nächstes tun will, und ihm den Weg abschneide.
Die Trainer stellen mich zuerst als Achter auf, dann als Rechtsaußen und schließlich als rechten Verteidiger.
Das Training wird zum Motor meines Alltags. Zuerst drei, dann vier, dann fünf Mal die Woche quer durch die Stadt fahren, trainieren, zurückfahren. Meine Freunde aus Gern gehen am Nachmittag schwimmen, ich gehe trainieren. Wir lernen Mädchen kennen. Die Freunde gehen am Samstag in die Disco, ich gehe schlafen: wir spielen ja am nächsten Tag.
Es sind die Jahre, wo viele Jungs, die gut Fußball spielen, beschließen, mit dem Fußball aufzuhören. Das heißt, sie beschließen es gar nicht. Aber sie bleiben zuerst einmal, dann öfter dem Training fern, rufen den Trainer an und sagen, dass sie erkältet sind, um mit den Mädels ausgehen zu können, und irgendwann sind sie so weit von der Seele des Spiels entfernt, dass sie nicht mehr zurückfinden.
Ich kann diese Unsicherheit verstehen. Ich möchte auch gern zum Schwimmen gehen. Aber ich will auch am Fußball dranbleiben. Wenn ich heimlich überlege, ob ich einmal das Training schwänzen soll, muss ich nur bei meinem Ehrgeiz nachfragen. Bleib dran, sagt der Ehrgeiz, wenigstens dieses Jahr, wenigstens, bis du weißt, dass du von der U14 in die U15 mitgenommen wirst.
Den Rest erledigt der Fußball selbst. Sobald ich auf dem Platz stehe, sobald der Trainer uns in zwei Mannschaften aufteilt und in ein Spiel schickt, sieben gegen sieben oder elf gegen elf, ist auch der Spaß wieder da, der Spaß am Spiel, am Trick, am Gefühl, wie herrlich es ist, den richtigen Pass zu spielen und der Stürmer tunnelt den gegnerischen Torwart. Fußball ist so ein Vergnügen.
Ich glaube, Ehrgeiz allein genügt nicht, um Fußballprofi zu werden. Disziplin allein genügt auch nicht. Es braucht diesen Spaß am Spiel, dieses erfüllende Gefühl, sobald du auf dem Platz stehst, das Nicht-mehr-an-die-Freunde-Denken, die jetzt beim Schwimmen sind, der Ball, du, das Tor, deine Welt.
Ich spiele jetzt in der U17 des FC Bayern. Ich brenne für die Mannschaft. Als wir das Finale um die Deutsche Meisterschaft in Berlin gegen Hertha BSC 0:1 verlieren, sitze ich in der Kabine und heule vor Zorn, und es ist mir nicht einmal peinlich. Neben mir sitzen ein paar andere, denen es genauso geht. Selbst in diesen bitteren Momenten merke ich, wie großartig es ist, Teil einer Mannschaft