Blamage kein bisschen besser.
Wir zeigen gar nichts in diesem Spiel, und die Rumänen zeigen alles. Wir haben verletzungsbedingte Ausfälle in der Innenverteidigung, die sich verheerend auswirken. Aber der Hauptgrund für das Debakel ist eine psychische Eigenart, die jeder großen Fußballnation in Freundschaftsspielen Probleme bereitet. Jeder Spieler hat im Hinterkopf, dass es in dieser Begegnung nicht um alles geht, und selbst wenn er entschlossen ist, trotzdem Vollgas zu geben, bleibt eine winzige Reserviertheit in jedem Zweikampf, in jedem Versuch einer Balleroberung, und das hat unter dem Strich fatale Auswirkungen.
Denn wenn unsere Mannschaft nicht imstande oder bereit ist, hundert Prozent zu geben, wenn sie mit 90 bis 95 Prozent ihres Potenzials auf den Platz läuft, ist sie nicht mehr gut genug, um gegen engagierte Mannschaften, die vielleicht eine Spur weniger Qualität aufbieten können, zu bestehen. So gut sind wir nicht. So gut waren wir noch nie.
90 Prozent reichen vielleicht gegen San Marino, wo der beste Spieler irgendwo in der dritten Liga kickt, aber gegen Profis, die in guten Ligen ihr Geld verdienen und voll motiviert für ihr Land antreten, können wir auf die fehlenden zehn Prozent nicht verzichten. Oder es gibt eine Klatsche wie in Bukarest. Da steht es schon zur Pause 4:0, und Oliver Kahn lässt sich entnervt auswechseln.
Die »Bild«-Zeitung macht uns zu den »Würsten aus Bukarest«. Na bravo. Drittes Länderspiel und schon das Gespött der Nation. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, den Blicken der Menschen daheim in Stuttgart nach der öffentlichen Demütigung zu begegnen. Ich kann nicht unterscheiden, ob sie mich anschauen, weil sie mich als Fußballprofi wiedererkennen, oder sehen sie in mir die Wurst aus der »Bild«? Mein Aufstieg ist abenteuerlich schnell gegangen, aber jetzt lerne ich gerade erste Schattenseiten kennen. Das Spiel ist nicht aus, wenn es in Bukarest abgepfiffen wird. Die Nachspielzeit geht immer weiter, und du bleibst ein Hauptdarsteller.
Nach Siegen gegen Malta und die Schweiz verlieren wir zu Hause gegen Ungarn 0:2. Ungarn wird von einem alten Bekannten gecoacht, von Lothar Matthäus, der in diesem Spiel den bislang größten Erfolg seiner Trainerkarriere feiert. Für uns ist das Spiel der letzte echte Test vor der Europameisterschaft in Portugal. Ich bin zwar erst seit vier Monaten dabei, aber es zeichnet sich ab, dass ich als 20-Jähriger mein erstes großes Turnier spielen darf. Die Position als linker Verteidiger ist dafür eine gute Eintrittskarte: in der Bundesliga drängt sich kein anderer Kandidat groß auf. Das ist vielleicht kein Qualitätsausweis für die Bundesliga – für mich ist es ein großes Glück, denn so komme ich zu einer Karriere in der Nationalmannschaft, von der ich bis dahin nicht einmal zu träumen gewagt habe.
Noch immer sind die Treffen mit der Nationalelf die lockersten Tage meines Profidaseins. Die Entspanntheit, über die ich vor meinem ersten Spiel gegen Kroatien noch gestaunt habe, ist die Regel. Wir trainieren nichts Spezielles, außer vielleicht Flanken von der Seite in die Mitte, wo dann irgendwer unbedrängt den Ball annimmt und aufs Tor haut. Lustig, ja, und völlig unsystematisch. Die Torhüter regen sich permanent darüber auf, wie der Ball links und rechts von ihnen einschlägt.
Pro Tag wird vielleicht eine Stunde trainiert, dann verziehen sich alle wieder auf ihre Zimmer. Ich glaube, dass damals viele Playstations geglüht haben. Es gibt keine taktischen Besprechungen. Es gibt keine Videoanalyse von kommenden Gegnern. Es gibt auch keine Videoaufzeichnungen eigener Spiele, anhand derer man die Spielweise der Mannschaft analysieren und verbessern könnte. Das Einzige, worüber wir reden, sind Fehler, die dem Bundestrainer aufgefallen waren. Da einigt man sich dann darauf, dass man sie in Zukunft nicht mehr machen will.
Aus der Sicht von heute klingt das wie eine andere Epoche von Fußball, und wahrscheinlich stimmt das auch. Ich weiß von keiner Nationalmannschaft des Jahres 2004, die sich anders, professioneller vorbereitet hätte als wir. Wie professionell die Arbeit mit den Nationalspielern überhaupt sein kann, erlebe ich sowieso erst nach dem Debakel bei der EM 2004 in Portugal.
Wir sind in der Gruppe D mit Holland, Lettland und Tschechien, das klingt nach lösbarer Aufgabe. Wir steigen mit dem Schlagerspiel gegen Holland ins Turnier ein, gehen durch einen Freistoß von Torsten Frings in Führung und kassieren erst knapp vor Schluss den Ausgleich durch ein blödes Tor von Ruud van Nistelrooy.
Ich habe meine Position gut im Griff. Das ist im Moment alles, worum es mir geht. Wenn du zwanzig Jahre alt bist, kannst du nicht die ganze Mannschaft im Blick haben, sondern musst vor allem auf dich selbst schauen.
Man kann es auch anders formulieren: ich bin noch nicht in der Situation, Verantwortung für die ganze Mannschaft zu übernehmen. Ich trage schon individuell Verantwortung genug. Für mich ist es in Portugal das höchste der Gefühle, eine anständige Partie abzuliefern und keine groben Fehler zu machen.
Im zweiten Spiel treffen wir auf Lettland und spielen 0:0. Die Mannschaft scheitert an den eigenen Schwächen. Sie ist spielerisch nicht stark genug, um einen defensiven Gegner aushebeln zu können. Das letzte Gruppenspiel gegen Tschechien wird für uns zum Entscheidungsspiel, ob wir das Viertelfinale erreichen oder nach Hause fahren.
Wir verlieren gegen Tschechien 1:2, obwohl wir durch Michael Ballack in Führung gegangen sind. Die EM ist für uns vorbei, bevor sie richtig angefangen hat.
Nach dem Schlusspfiff kommt Rudi Völler von der Betreuerbank aufs Feld, klopft mir auf die Schulter und sagt: »Sehr gut gespielt, Philipp.« Damit ist mein Dilemma perfekt beschrieben. Meine Leistungen waren anständig bis gut, und eigentlich dürfte ich durchaus mit mir zufrieden sein. Aber wie soll ich zufrieden sein, wenn wir, die große Fußballnation, die Deutsche Fußballnationalmannschaft, in der Vorrunde einer EM scheitern? Wenn wir ein Turnier ohne einen einzigen Sieg abliefern?
Bestimmt bin ich als junger Spieler noch nicht der, mit dem dieser Misserfolg persönlich identifiziert wird. Aber ich bin Teil der Mannschaft, die aus dem Turnier geflogen ist. Die Mannschaft ist ein anspruchsvolles Gefüge, alle Spieler tragen ihren Teil zu Sieg oder Niederlage bei. Bei diesem Turnier hat sich die Mannschaft noch einmal zu sehr auf die Impulse Einzelner verlassen, auf die Autorität des Trainers und die Arbeit der sogenannten Führungsspieler, die nun auch in der öffentlichen Kritik stehen, aber mit dem Scheitern der Mannschaft steht auch das Prinzip, einzelnen, starken Figuren die Verantwortung für das ganze Team aufzubürden, vor dem Ende. Es zeichnet sich ab, dass ein neues Denken, ein Bekenntnis zur kollektiven Verantwortung, zu flacheren Hierarchien nötig sein wird, um im modernen Fußball erfolgreich zu sein.
Nach dem Tschechien-Spiel fahren wir gemeinsam zurück ins Hotel. Noch am selben Abend trommelt Rudi Völler die Mannschaft zusammen und teilt ihr mit, dass er zurücktreten wird.
Ich erinnere mich an die fatalistische Stimmung in der Hotelhalle. Mehrere Spieler sprechen davon, dass auch sie ihre Karriere in der Nationalmannschaft beenden werden. Die Mannschaft steht vor einem Umbruch. Ein neuer Trainer wird kommen, und eine neue Generation von Spielern wird in den Ring steigen müssen.
Als am nächsten Morgen der allgemeine Aufbruch stattfindet, kommt Oliver Kahn zu mir, der Titan. Er war bester Spieler der WM 2002 in Japan und Südkorea, wo er die Mannschaft fast im Alleingang bis ins Finale geboxt hat, eine Legende. Obwohl ich jetzt schon ein paar Spiele gemeinsam mit ihm gemacht habe, kenne ich ihn noch immer nicht näher. Wo er ist, ist das Zentrum, und mein Platz ist an der Peripherie.
Ich stehe in den Sommerklamotten da, ohne gepackte Koffer, weil ich noch eine Woche Urlaub in Portugal anhänge. Oliver Kahn legt seine Hand auf meine Schulter, und als ich zusammenzucke, weil ich nicht weiß, was er vorhat, sagt er bloß: »An dir lag’s nicht.«
Dann nickt er mir noch mal zu, schnappt sich seine Koffer und macht sich auf den Weg zum Bus, der die Abreisenden zum Flughafen bringt.
Es ist ja nicht so, dass Oliver Kahn oft Komplimente macht. Aber ich glaube, ich habe gerade erlebt, wie Oliver Kahns Komplimente sich anhören.
Es klingt vielleicht merkwürdig, aber dieser einzelne, knappe Satz aus dem Mund des Mannschaftskapitäns ist mir mehr wert als all die Artikel in den Zeitungen, wo Michael Ballack und ich zu den »heimlichen Gewinnern dieser EM« hochgeschrieben werden. Ich kann mit diesem Lob nichts anfangen: Gewinner einer Mannschaft, die gerade verloren hat. Da ist Oliver Kahns Feststellung doch deutlich präziser, und sie hat sicher mehr Wert für einen jungen Spieler nach seinem