Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


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Grenoble (1904), sondern auch noch in ganz aktuellen Arbeiten. Zu nennen wären beispielsweise die Veröffentlichungen von Aniruddh D. Patel und Joseph R. Daniele (2003) zum Einfluss der jeweiligen Muttersprache auf die Formung musikalischer Themen englischer und französischer Komponisten, oder auch diejenigen von Emmanuel BigandBigand, Emmanuel und Barbara TillmannTillmann, Barbara (2020) zur Verarbeitung von Musik und Sprache im menschlichen Gehirn.

      In jeder der angesprochenen Perioden können Einflüsse von Musiktheorie und –praxis sowie von ästhetischen Fragestellungen auf die Entwicklung der Richtung der Überlegungen in der Prosodieforschung festgestellt werden. Dieser Aspekt dient im vorliegenden Buch als roter Faden, um die Tradierung und Weiterentwicklung des Wissens um die französische Prosodie (in Frankreich) sowie die damit verbundenen Integrations- und Transformationsprozesse im Laufe der Jahrhunderte nachzuvollziehen. Angesichts der großen Menge des verfügbaren Materials kann dabei keine Vollständigkeit angestrebt werden. Es geht vielmehr darum, die interdisziplinären Konzepte, die jahrhundertelang die französische Ideengeschichte zur Prosodie charakterisiert haben und deren Spuren sich auch heute noch in den Arbeiten zur Prosodie der französischen Schule finden, verständlich zu machen.

      Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen

      Seit Beginn des 19. Jahrhunderts nehmen geschichtliche Untersuchungen einen – mehr oder minder breiten – Raum in den Sprachwissenschaften ein. Wissen um die Vergangenheit hilft, Sprachentwicklungen zu beschreiben und zu verstehen. Aber ist nicht jedes Wissen im Grunde genommen historisch? Wissen selbst kann nicht definiert werden, nur der Moment, in dem ein Autor es tradiert (AurouxAuroux, Sylvain, 2006). Damit besitzt jeder Wissensakt nach Sylvain AurouxAuroux, Sylvain (1992) sowohl einen Retrospektions–, als auch einen Projektionshintergrund. Jedes neu gefundene und entwickelte Wissen organisiert den bisherigen Wissenskanon, es setzt Akzente, lässt Teilaspekte in der Vergessenheit verschwinden, idealisiert und/oder setzt Impulse. Um die Entwicklung linguistischer Theorien und Ideen zu begreifen, die uns nicht nur das Verständnis unserer Sprachgeschichte, sondern auch unserer heutigen Denkmodelle ermöglichen, ist es daher wichtig, über lange Zeiträume zu arbeiten.

      Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben ideengeschichtliche Forschungen in den Sprachwissenschaften immer mehr Fuß gefasst. Sie reflektieren die Notwendigkeit der Linguisten, Objekte, Orientierungen, Grenzen und Geschichtlichkeit ihrer Disziplin zu hinterfragen. Epistemologische Forschungen geben die Möglichkeit, die Relevanz tradierter und in Vergessenheit geratener geschichtlicher Entwicklungen und historischer Konzepte für gegenwärtige Sprachtheorien zu ermessen. Die Variationsbreite der Bezeichnungen und Denkrichtungen kann nicht nur onomasiologisch und semasiologisch, sondern vor allem in ihrer Bedeutungsbreite und Tragweite über die Jahrhunderte hinweg bis heute untersucht werden. Hier sei nur kurz auf Dietrich Busse verwiesen, der in seinen Arbeiten über das Verhältnis von Sprach-, Kultur- und Kognitionswissenschaften nachdrücklich darauf hinweist, dass – in seinem Falle – „eine Diskursanalyse auch in einer linguistisch reflektierten Weise, als eine Methode und ein Forschungsziel einer kulturwissenschaftliche (bewusstseinsanalytisch) orientierten – nicht nur von Historikern, sondern auch von Linguisten betriebenen – Historischen Semantik durchgeführt werden kann“ (Busse, 2008).

      In Deutschland gliedern sich Untersuchungen zur französischen Sprache und Sprachgeschichte konsequent und folgerichtig in die Romania-Forschung ein. Der Rahmen der romanischen Sprachen ist sicherlich geeignet, um sprachfamilientypische Prozesse zu verstehen und zu bewerten. Dies Verfahren setzt allerdings einen gemeinsamen systematischen Rahmen für alle behandelten Sprachen voraus, der länderspezifische Eigenheiten nicht immer auffangen kann. Dieses Buch möchte dazu beitragen, heute in Frankreich betriebene epistemologische Forschungen zur französischen Prosodie für die deutsche Romania-Forschung zugänglich und nutzbar zu machen. An die Stelle der Sprachfamilie tritt dabei eine interdisziplinäre Einbettung der historischen epistemologischen Fragestellung, die nicht nur die Erweiterung des Blickwinkels einer einzelnen Disziplin ermöglicht, sondern auch eine neue Ausrichtung und Gewichtung der Fakten nach dem Modell der global history (vgl. Maurel, 2013). Die Geschichtsschreibungen verschiedener Disziplinen werden zusammengeführt und für ein breiteres Verständnis nutzbar gemacht (Bertrand, 2013). Dieses Vorgehen ist im Wesen der Prosodie selbst angesiedelt: Sie ist in mehreren Disziplinen verankert und folgerichtig im Laufe der Geschichte von Forschern, Theoretikern und Praktikern verschiedener Richtungen (Linguisten, Dramatiker, Rhetoriker, Musiker, Komponisten…) behandelt worden. Eine Wiedereinbettung der Prosodietheorien in einen interdisziplinären Rahmen bedeutet einen neuen Impuls für die heutigen, auf segmentale Fragen konzentrierten Sprachtheorien und kann ein tieferes Verständnis für die Beschreibung der emotionellen Vorgänge, die durch prosodische Mittel ausgelöst werden, geben.

      Die enge Verbindung, die die Prosodie zwischen Sprache und Musik/Gesang herstellt, wurde zu keinem Zeitpunkt im Verlauf der Geschichte grundsätzlich in Frage gestellt, hat aber im Laufe der Jahrhunderte ihre bedingungslose Auslegung verloren. Wenn Jean-Léonor Le Gallois GrimarestGrimarest, Jean-Léonor Le Gallois (1707) den Gesang noch als eine Art besonders deutlich modulierten (und daher besonders ausdrucksstarken) Sprechens beschreibt, so manifestiert sich die Sicht auf die Verbindung der beiden Ausdrucksformen der menschlichen Stimme in der Folge deutlich romantischer und imaginärer, wie es das folgende Zitat von Romain Rolland aus dem Jahre 1908 zeigt: „Si la musique nous est si chère, c’est qu’elle est la parole la plus profonde de l’âme, le cri harmonieux de sa joie et de sa douleur“ – „Dass die Musik uns so teuer ist, liegt daran, dass sie eine Sprache ist, die aus den Tiefen unserer Seele kommt, ein harmonischer Schrei ihrer Freude und ihres Schmerzes“. Was unverändert bleibt, ist das Bewusstsein, dass Gesang und Sprache nichts Anderes sind als zwei verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten menschlicher stimmlicher Äußerung. Mit der veränderten Konzeptualisierung geht im Laufe der Jahrhunderte eine geänderte – jeweils modernisierte – Ausdrucksweise einher. Jede Epoche besitzt ihre eigenen Konzepte, Denkmodelle, Ausdrucksarten und Bilder, die für Leser und Leserinnen der entsprechenden Kultursphäre und -epoche sprechend sind, aber nicht unbedingt für uns heute. Die Inhalte dieser Texte müssen daher oftmals „übersetzt“ werden, um sie verständlich zu machen und mit denen anderer Jahrhunderte, Zielrichtungen und Horizonte vergleichen zu können. Hinzu kommt, dass mit Fortschreiten in der Geschichte die Forscher und Forscherinnen immer spezialisierter arbeiten. Wir verfügen heute nicht mehr über das disziplinübergreifende, oft beinahe enzyklopädische Wissen der Autoren und Forscher früherer Zeiten und müssen eine reiche Literatur und mehrere Kollegen hinzuziehen, um die Aussagen der alten Texte in ihrer vollen Bandbreite zu erfassen.

      Die Texte verschiedener (sprachgeschichtlicher, kultureller und soziologischer) Epochen und Disziplinen (Linguistik, Kunst, Rhetorik) müssen daher zunächst gesichtet, interpretiert und homogenisiert werden, um sie in ihrer vollen Aussagekraft auswertbar zu machen (AurouxAuroux, Sylvain, 1980). Parallelen, Transmissionen, aber auch Vergessensprozesse werden so zu Tage gebracht. Nur ein umfangreicher Korpus kann gewährleisten, dass auch zu bestimmten Zeiten wichtige und einflussreiche, heute aber vergessene Texte berücksichtigt werden (Fournier & Raby, 2008). Eine Auflistung mit den nach Fächern geordneten Texten des für die vorliegende Studie verwendeten Korpus, ergänzt durch kurze bibliographische Erläuterungen, findet sich am Ende des 2. Kapitels.

      In dem etablierten Arbeitskorpus müssen die wichtigen Objekte und Ideen identifiziert und „neutralisiert“ werden, da selbst die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfassten Texte oft noch stark von der Persönlichkeit, den Erfahrungen, Erwartungen und dem linguistischen und kulturellen Hintergrund des jeweiligen Forschers geprägt sind. Es gilt also, diese Eigenheiten zu berücksichtigen, zu bewahren, und doch vergleichbar zu machen. Dabei gilt das Interesse nicht nur dem Wissen selbst, sondern auch den entwickelten Arbeits- und Denkstrategien, die mit bestimmten Kenntnisständen einhergehen: Die Rekonstruktion ermöglicht die Identifikation der Theorien und die Verbindung der unterschiedlichen Forschungsobjekte, die zu verschiedenen Zeitpunkten prosodisches Wissen darstellen (AurouxAuroux, Sylvain, 1980). Durch dieses Verfahren wird nicht nur die innere Logik der chronologischen Abläufe und Entwicklungen verständlich, sondern die Ideen und Konzepte können auch kontextualisiert und in den verschiedenen ästhetischen Richtungen situiert werden.

      Erst an dieser Stelle setzt der praktische Aspekt der Forschung ein. Eine Auswahl an Texten zu