Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


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Dazu wurde in zwei Umfragen die Wahrnehmung prosodischer Phänomene anhand von aktuellen Aufnahmen rezitierter Gedichte, Slam-Versionen und verschiedener aktueller Musikrichtungen (Chanson und Rap) bei Personen getestet, deren Muttersprache Französisch ist oder für die das Französische eine mehr oder weniger gut bekannte Fremdsprache darstellt. Durch den Vergleich von theoretischen Konzepten und praktischer Überprüfung ergibt sich ein fruchtbarer Austausch, der zum Ziel hat, die Geschichte der Prosodie des Französischen in einer großen Bandbreite darzustellen.

      Ich danke allen, die mir während der Arbeit an dieser Forschung Hilfe und Anregung vermittelt haben. Besonders ein Forschungsstipendium der Stiftung Fritz Thyssen in den Jahren 2020–2021 hat es mir erlaubt, meine Zeit ganz dieser aufwändigen Studie zu widmen.

      Mein Dank gilt den Mitgliedern des Forschungsinstituts Praxiling in Montpellier, in dessen Rahmen die Forschung durchgeführt werden konnte. Die verschiedenen Gespräche und Diskussionen haben diese Arbeit maßgeblich gefördert. Besonders möchte ich hier Agnès Steuckardt erwähnen, die dieses Projekt unterstützt und wissenschaftlich betreut hat.

      In einem Buch, in dem es um klingende Worte, Töne und Laute geht, wäre es schade, völlig auf akustische Beispiele zu verzichten. Um Lesern und Leserinnen Zugang zu einem Teil des reichen praktischen Materials zu geben, das in einer Buchausgabe nur bedingt Platz hat, wurden daher eine digitale Beilage mit zusätzlichen Materialien, Bilder und Verweisen auf Aufnahmen erstellt. Sie ist zugänglich unter

       https://praxiling.cnrs.fr/livres/Die_Musik_der_Sprache.pdf

      oder

       www.meta.narr.de/9783823384939/Die_Musik_der_Sprache.pdf.

      Im Text verweisen die durchnummerierten Beispiele („Bsp. 1“ …) auf ein sich in dieser Beilage befindliches Ton-, Bild- oder Textdokument.

      1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte

      Die Etymologie des Wortes Prosodie weist bereits auf seine interdisziplinäre Ausrichtung hin: Im Altgriechischen bezeichnete ôdê einen Gesang mit Instrumentalbegleitung (Dodane, 2003: 28), prosôidia (griechisch) bezeichnet die melodische Akzentuierung des Altgriechischen und bezieht sich damit gleichermaßen auf Sprache und auf Musik. Die Musikwissenschaft spricht vom „Hinzusingen“ (Pöhlmann, 2016) und verweist damit ebenfalls auf beide Bereiche (je nach Auslegung ist der Text der Melodie hinzugefügt, oder umgekehrt). Der Begriff Intonation, der auf das lateinische Verb intonare zurückgeht, wurde laut Mario Rossi (1999) bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts ausschließlich verwendet, um vom Anstimmen einer musikalischen Melodie zu sprechen. Aufgrund einer falsch verstandenen etymologischen Verwandschaftsbeziehung mit dem Wort tonus wurde der Begriff intonation in Frankreich mit Beginn des 19. Jahrhunderts als Synonym für musicalité und für die mélodie der Stimme gebraucht. Damit bahnte sich eine Bedeutungsverschiebung an, die dazu geführt hat, dass in der Linguistik der Begriff Intonation heute als das Zusammenwirken von Akzent (Intensität) und Tonhöhenverlauf verstanden wird. 1993 erklärte Flo Menezes die prosodische Intonation zum deutlichsten Element, an dem sich die Verwandtschaft von Sprache und Musik unverzüglich einem jeden Hörenden erschließt.1

      Jahrhundertelang waren Rhythmus und Silbenlänge Hauptthema der Poeten, und die Beschäftigung mit der antiken Poesie hat zur Herausbildung eines raffinierten metrischen Systems geführt, in dem zahlreiche Kombinationen von langen und kurzen Silben katalogisiert sind. Die ursprünglich griechischen Namen dieser Metren, wie iambe ( ᴗ – ), trochée ( – ᴗ ), spondée ( – - ), tribraque ( ᴗ ᴗ ᴗ ), anapeste ( ᴗ ᴗ – ), dactyle ( – ᴗ ᴗ ), amphibraque ( ᴗ – ᴗ ), crétique ( - ᴗ - ), péon ( – ᴗ ᴗ ᴗ ), choriambe ( – ᴗ ᴗ – ) und pyrrhique ( ᴗ ᴗ ᴗ ᴗ )2 werden heute noch in französischen musiktheoretischen Texten zur Bestimmung der Sequenzierung musikalischer Grundrhythmen verwendet.

      Prosodie und Musik blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück. Diese kommt heute allerdings hauptsächlich zwischen den Zeilen zum Ausdruck, zum Beispiel durch die Wahl musikalischer Notationen zur Verdeutlichung verschiedener Intonationsmuster.

      1.1 Prosodie und stimmlicher Ausdruck

      Wer von Prosodie spricht, denkt an Melodie, an Rhythmus, an Tempo, Intonation, Akzentuierung und/oder an Intensität. Diese Parameter sind untrennbar von (praktisch jeder) menschlichen vokalen Äußerung. „Betrachtet man die alltägliche Konversation, ist doch die Art und Weise wie eine Person etwas sagt – die Prosodie – oft ein scheinbar besserer Spiegel ihres Inneren, ihrer Einstellungen, Absichten und Emotionen, als der eigentliche Wortlaut selbst“, so Daniela SammlerSammler, Daniela (2014). Eine Stimme, der es an Variationen eines oder mehrerer der genannten Parameter mangelt, wird als ausdruckslos empfunden. Der Diskurs wirkt statisch und der Sprecher oder die Sprecherin machen einen unbeteiligten Eindruck, denn die Prosodie übermittelt „nicht nur wesentliche sprachliche Informationen, sondern ist auch Ausdruck der emotionalen und sozialen Befindlichkeit des Sprechers oder der Sprecherin“ (SammlerSammler, Daniela, 2014). Heute existiert eine reiche Literaturauswahl1 mit Erläuterungen und Übungen um zu lernen, ausdrucksvoll (und überzeugend) zu sprechen, das heißt, seine Stimme, und damit die prosodische Gestaltung des Gesagten, zu beherrschen und so den Eindruck, den der Hörer oder die Hörerin haben wird, zu beeinflussen.

      Diese Bemerkungen gelten für jegliche Art stimmlicher Äußerung wie freies Sprechen, Vorlesen, Rezitieren, Deklamieren oder Singen gleichermaßen. Damit ist die Prosodie ein von Grund auf interdisziplinäres Phänomen.2 Diese Tatsache spiegelt sich deutlich in der Definition wider, die der Trésor de la langue française informatisé (TLFI) zu diesem Terminus gibt und in der drei Disziplinen angesprochen werden: Metrik oder Poesie (verstanden als die Regeln der Verskunst, das heißt, Vokallängen, Akzentuierung und Intonation), Linguistik (in der französischen Schule verstanden als Studie der prosodischen Parameter wie Melodie, Intonation und Dauer) und Musik (im Rahmen der Wort- Tonbeziehung).3

      In allen Bereichen dient die Prosodie zum Ausdruck von linguistischen wie von extralinguistischen Elementen. Zur ersten Kategorie zählen Variationen, die typisch für eine bestimmte Sprache sind (wie der Wortakzent oder die Sprachmelodie im Allgemeinen, Versmuster, oder auch musikalische Floskeln, die für einen ganz bestimmten Stil typisch sind). Die zweite Kategorie umfasst all die Stimmvariationen, die zum faktischen Inhalt der Äußerung einen affektiven oder emotionalen Gehalt hinzufügen, wie zum Beispiel der Sprachduktus oder das spontan – bewusst oder unbewusst4 – gewählte Tempo eines deklamatorischen oder musikalischen Vortrags. Der französische Grammatiker Jean-Baptiste MontmignonMontmignon, Jean-Baptiste (1785) erwähnt im 18. Jahrhundert bereits diese beiden Dimensionen, wenn er Prosodie mit der Ordnung und Struktur des Diskurses ebenso in Verbindung setzt wie mit seinem Ausdrucksgehalt.5 Daniela SammlerSammler, Daniela (2014) weist der Prosodie sogar drei sprachliche Funktionen zu: Die erste ist linguistisch und betrifft die semantische, syntaktische und lexikalische Struktur der Aussage. Die zweite ist „selbstexpressiv“ und von den Emotionen und Einstellungen der Person sowie von der Sprechsituation bestimmt. Die dritte schließlich ist pragmatisch und an bestimmte Sprechakte in einer Kommunikationssituation gebunden (Kritik, Vorschlag, …).

      All die Parameter, die unter dem Oberbegriff Prosodie zusammengefasst werden, machen eine Information zu dem, was wir wahrnehmen: Die Prosodie erlaubt es uns, anhand des melodischen, intonatorischen, rhythmischen und akzentuellen Verlaufs eine mit der menschlichen Stimme zum Ausdruck gebrachte Nachricht zu interpretieren, und dies aus inhaltlicher wie auch aus emotionaler Sicht.6 Damit kann die Prosodie als das musikalische Element der (gesprochenen) Sprache bezeichnet werden, als die Musikalität, die einer jeden Sprache, einem jeden Sprecher und einer jeden Sprecherin eigen ist.

      Gemeinsamkeiten von Sprache und Gesang

      Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts taucht das Wort