Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


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Niveau 2 - 3 Nicht-integrierende Weiterweisung Continuation mineure Niveau 4 - 4 Hohe Nichtverweisung Écho Niveau 1 - 1 Tiefe Nichtverweisung Parenthèse Niveau 2 - 1 Aussage Finalité Niveau 4 - 1 Ergänzungsfrage Interrogation Niveau 4 - 1 Befehl Commandement Niveau 4 - 1 Ausruf Exclamation

      Tabelle 2:

      Die 10 Basis-Intonationen des Französischen nach Pierre DelattreDelattre, Pierre (1966). Deutsche Übersetzung nach Wunderli (1981)

      Ergänzungsfrage, Befehl und Ausruf durchschreiten dieselben Niveaustufen (4–1), haben aber verschieden ausgeprägte Melodieverläufe (vgl. Bsp. 9a). Die vier Linien entsprechen bei DelattreDelattre, Pierre nicht mehr bestimmten Einzeltonhöhen, sondern Sprechniveaus. Sie bieten weiterhin einen Bezugspunkt und helfen beispielsweise, ähnliche Melodieformen, wie etwa die Aussage (abfallend von Niveau 2 auf Niveau 1) vom Ausruf (abfallend von Niveau 4 auf Niveau 1) zu unterscheiden (vgl. Bsp. 9b). Es handelt sich damit um eine „kombinierte Kontur-Niveau-Darstellung“ (Wunderli, 1981). Der visualisierte prosodische Parameter ist vor allem intonatorischer Natur.

      Die melodische Bewegung der von DelattreDelattre, Pierre stilisierten Intonationsfloskeln ist auf den ersten Blick verständlich und interpretierbar. So entsprechen zum Beispiel in der Folge „Jean-Marie/va manger? malgré tout?“ sowohl die erste als auch die zweite Einheit („Jean-Marie/va manger?“) Aufwärtsbewegungen, während die dritte Einheit („malgré tout?“) auf einem hohen Niveau beharrt. Damit ist der melodische Verlauf annäherungsweise vorstellbar. Das genaue Studium zeigt anhand der Formen und angegebenen Sprechniveaus, dass es sich zunächst um eine continuation mineure oder nicht-integrierende Weiterweisung (2–3) handelt, die im Text durch den Slash ( / ) verdeutlicht ist. Das zweite und dritte Element sind durch eine continuation majeure oder integrierende Weiterweisung (2–4) verbunden und die Folge schließt mit einer hohen Nichtverweisung (écho, 4–4).3

      Wenn die Diagramme und Schaubilder, wie sie die gängigen Programme wie Praat, Prosogramme, Winpitch oder ToBI zur Analyse von Grundfrequenz und Intonation generieren, auch deutlich an Abstraktion gewonnen haben, so bleibt doch die Assoziation einer Tonfolge, wie sie in einer musikalischen Partitur dargestellt wird, lebendig.4 Sie kommt übrigens automatisch zum Einsatz, wenn die generierten Skripte, wie von Jörg Mayer (2017) gefordert, mit dem Höreindruck verglichen werden („Stimmt der Höreindruck (steigender/fallender/gleichbleibender Stimmton) mit der ermittelten F0-Kontur überein?“ Mayer, 2017: 93).

      2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte

      Wenn wir heute die Musik verschiedener Jahrhunderte hören oder praktizieren, so entdecken wir, dass jede Epoche und jeder Stil eine eigene Ausdrucksweise haben, von denen jede unser neuronales Netz auf eine andere Art angeregt. Die Musik ist von den Komponisten nicht als eine kognitive Stimulation konzipiert worden, aber sie wird ganz natürlich zu einer solchen, da sie Gefühle mobilisiert, so Emmanuel BigandBigand, Emmanuel und Barbara TillmannTillmann, Barbara (2020).1

      Wir kennen Musikgattungen, in denen Rhythmus und Akzentuation wichtige Bezugspunkte bilden, zum Beispiel durch die Hierarchie der Taktzeiten in Barock und Klassik, aber auch im modernen Rap. Andere Gattungen wie das romantische Lied sind weitaus mehr von Melodie und Phrasierung bestimmt oder spielen vorrangig mit stimmlichen Klangfarben oder der Nähe und den möglichen gleitenden Übergängen zwischen Sprech- und Gesangsstimme. Dies ist beispielsweise der Fall in den französischen Chansons des 20. und 21. Jahrhunderts oder im Sprechgesang. Doch selbst wenn in einer Kompositionsform bestimmte prosodische Parameter im Vordergrund stehen, bleiben die Übrigen immer präsent: Sie treten lediglich in den Hintergrund. Man kann somit von verschiedenen Modellen sprechen, nach denen die musikalischen Sprachparameter in Musik umgewandelt werden. Die Zusammenhänge dieser praktischen und bis heute zugänglichen prosodischen Spuren in musikalischen Werken zeigen sich auch in der Denkweise der Sprachforscher.

      Die folgende chronologische und auf den musikalischen Epochen in Frankreich beruhende Darstellung der Entwicklung ästhetischen Denkens und Handelns in Bezug auf die Verbindungen von Sprache und Musik soll helfen, die Ausführungen der nächsten Kapitel besser zu verstehen. Dabei werden nur die musikalischen Gattungen berücksichtigt, in denen die Wort-Ton-Beziehung im Französischen eine deutliche Rolle spielt.

      2.1 Der Begriff „Ästhetik“

      Ästhetik wird hier in einem weiten, auf Alexander Gottlieb BaumgartenBaumgarten, Alexander Gottlieb (1714-1762) und seine Schrift Aesthetica (1750-1758) zurückgehenden Sinn verstanden:1 Die von BaumgartenBaumgarten, Alexander Gottlieb begründete Wissenschaft betrifft die sinnliche Erkenntnis, die Lehre vom Schönen und die Lehre von der Kunst. Schönheit kann gefühlt, erkannt, gedacht, verstanden und erklärt werden. Angeborene Fähigkeiten können durch Schulung der Sinne und des Gedächtnisses gefördert und stimuliert werden, so dass sich bestimmte Erwartungshaltungen (und somit die Grundlage eines bestimmten stilistischen Geschmacks) entwickeln können. Damit greift BaumgartenBaumgarten, Alexander Gottlieb zwei antike Traditionen auf.

      Die Platoniker behandeln das „Schöne“ im Kontext der Metaphysik. Die Liebe zum Lebendig- und zum Sittlich-Schönen wird zum Antrieb der Suche einer Idee des Schönen und damit der Liebe zur Weisheit. Dabei spielen sowohl die Komposition des Kunstwerkes als auch seine Präsentation eine Rolle: Kunst dient einer sinnlichen Darstellung der Wahrheit. Klare Linien und Formen werden nicht nur als „immer an und für sich ihrer Natur nach schön“ betrachtet, sondern sie „führen gewisse ganz eigentümliche Lustgefühle mit sich“ (Platon,Platon [1869]: 51). Mathematik ist ein bedeutendes Kriterium zur Bestimmung des Schönen; Symmetrie, Rhythmus, Geometrie und Proportion werden zu bestimmbaren und erlernbaren Parametern: „Maß und Ebenmaß“ ist laut PlatonPlaton ([1869]: 64) „doch wohl überall das, woraus Schönheit und alles Edle entsteht“.

      Die Aristoteliker entwickeln den Kunstbegriff in den Disziplinen Poetik und Rhetorik, den Wissenschaften, der Komposition (oder Produktion) und des Schaffens (epistéme poietiké). Kunst hat bei AristotelesAristoteles eine besondere Verbindung mit der Natur: Sie ist die konkrete Vorlage des Schönen. Zur Nachahmung bedienen sich die verschiedenen Künste, Dichtung und Musik, „bestimmter Mittel […] und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils zugleich“ (AristotelesAristoteles, [2012]: 1447a). Weiterhin führt AristotelesAristoteles ([2012]: 1447b) aus: „Es gibt nun Künste, die alle die oben genannten Mittel verwenden, ich meine den Rhythmus, die Melodie und den Vers“. Prosa, Poesie, Musik und Tanz sind die von dieser Aussage betroffenen Künste, wobei die Dichtung aufgrund ihrer Nähe zum Wort und zur Idee den höchsten Rang einnimmt.2 Rhetorik hat das Schöne zwar nicht zum eigentlichen Zweck (dieser liegt vielmehr in der Qualität eines argumentierten Vortrags auf der Grundlage seiner Überzeugungskraft), ihre Techniken können aber nach denselben Mustern bewertet werden wie die Kunstsprache.

      Kirchenväter wie Augustinus fragen sich einige Jahrhunderte später nach dem Recht der Sinnesfreuden an schönen Dingen. Das Schöne der Klänge, der Farben oder der Formen darf keinen eigenen Wert beanspruchen, sondern alle Schönheit muss als auf Gott hinweisend gewertet werden (Konfessionen, X, 33 und 34). Sie kann mit den