Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


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dem Punkt (1802: 322–325).

      Die musikalische Konnotation ist noch deutlicher bei Louis Becq de Fouquères:

      Die vollkommene Kadenz entspricht einer Rückkehr der Stimme zum Grundton der Tonleiter und man findet sie im Allgemeinen am Ende eines Satzes. Für Ohr und Verstand bildet sie eine endgültige Ruhepause. Die Rückkehr der Stimme zu einem mit dem Grundton harmonischen Ton der Tonleiter wird als unvollkommene Kadenz bezeichnet. Sie steht am Ende von Satzteilen und bedeutet für Ohr und Geist eine relative Ruhepause. (Becq de Fouquères, 1881)1

      Das musikalische Vokabular ist mehr als eindeutig (und erschwert heutigen, musiktheoretisch vielleicht weniger gebildeten Lesern und Leserinnen beinahe die Lektüre):

       Der Grundton der Tonleiter ist der für die Tonart namengebende Ton („C“ in „C-Dur“, usw.).

       Die vollkommene Kadenz besteht in der Harmonielehre aus der Akkordfolge Dominante und Tonika. Die Tonika, das heißt die Grundtonart des Stückes, erscheint dabei mit dem Grundton in der Melodiestimme.

       Die unvollkommene Kadenz besteht ebenfalls aus der Akkordfolge Dominante und Tonika, allerdings endet die Melodie nicht auf dem Grundton, sondern auf einem der anderen Töne des Tonikaakkords.

       Die zum Grundton harmonischen Töne entsprechen den Tönen des Grundakkords (der Tonika) des Stückes.

      Wenn man die musikalische Terminologie in eine leichter verständliche Sprache übersetzen möchte, so könnte die obige Passage wie folgt lauten (vgl. auch Bsp. 18):

      Die für das Satzende typische Tonlage erlaubt der Stimme eine vollkommene Entspannung. Der Hörer (oder die Hörerin) versteht dadurch, dass der Satz hier zu Ende ist. Die für das Ende eines Satzabschnitts typische Tonlage erlaubt der Stimme zwar keine vollkommene, aber doch eine relative Entspannung. Der Hörer (oder die Hörerin) versteht dadurch, dass der Satz hier noch nicht zu Ende ist.

      Wissenschaft und die „Lehre vom Schönen“

      Auf Seiten der Wissenschaft nimmt die Erforschung der Töne ebenfalls eine wichtige Rolle ein. In seiner Lehre von den Tonempfindungen (1863) sucht Hermann von Helmholtz (1821–1894) eine wissenschaftliche Begründung für das Wesen des „Schönen“ in einer dem Hörer und der Hörerin unbewussten realen Vernunftmäßigkeit (das heißt konkret, die Rolle der Frequenzen und verschiedenen Obertöne).

      Aber besonders die ersten Phonetiker haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidenden Einfluss auf eine neue Art, die Musik der Sprache, das heißt die Prosodie, zu untersuchen. Im Gegensatz zu Musikern, Poeten und Rhetorikern verlassen die Phonetiker die Pfade der alten Forschungsmethoden, die vor allem auf Schlussfolgerungen auf der Basis von Höreindrücken bestanden. Genaue Messungen und Berechnungen kennzeichnen die neuen, von den Phonetikern entwickelten Methoden, zu denen in Frankreich Forscher wie Jean-Pierre RousselotRousselot, Jean-Pierre, Hector MarichelleMarichelle, Hector und Léonce RoudetRoudet, Léonce wichtige Beiträge leisteten.1 Der von RousselotRousselot, Jean-Pierre entwickelte Versuchsaufbau erlaubt eine extrem exakte Transkription der melodischen und zeitlichen Entwicklung (Frequenz und Rhythmus) sowie der Geschwindigkeit der Kehlkopfschwingungen.2 RoudetRoudet, Léonce (1899) äußert sich außerordentlich begeistert dazu: „Genau das, und nichts Anderes, ist die Rolle der experimentalen Wissenschaft: Sie deckt Details auf, die unsere Sinne sonst nur gebündelt und anhand der aus ihnen resultierenden Ergebnisse wahrnehmen können!“3

      2.6 Die Moderne: Wissenschaft und Emotionserforschung

      Der Parameterbegriff

      Diese technischen Möglichkeiten erfahren im 20. Jahrhundert bedeutende Weiter- und Neuentwicklung, die den Forschern das vergleichende Studium größerer Datenmengen und oraler Korpora erlaubten. Maurice GrammontGrammont, Maurice, Hélène-Nathalie Coustenoble, Lilias Eveline Armstrong (alle zu Beginn des Jahrhunderts) und Pierre DelattreDelattre, Pierre (Mitte des Jahrhunderts) haben verschiedene Sprachen, zum Beispiel das Französische, das Englische und das Spanische, miteinander verglichen. Dabei konnten sie zeigen, dass ein perzeptiver Unterschied in der Abgrenzung der Worte im Sprachfluss liegt, wobei im Englischen und Spanischen die Aufmerksamkeit auf das Wort, und im Französischen auf die Sinneinheit (groupe de sens) gelenkt wird (vgl. Vaissière, 2006). Die von den Phonetikern des 19. Jahrhunderts definierten drei Parameter Intonation, Rhythmus und Akzentuation werden gesondert und in Kombination studiert.

      Der Parameterbegriff rückt auch bei den Komponisten serieller Musik in den Mittelpunkt. Die betrachteten Elemente sind nicht nur Tonhöhe und Tonlänge, sondern auch akustische Eigenschaften wie Intensität, Klangfarbe oder Stimmregister. Neben Pierre Boulez (1925–2016) ist besonders Olivier MessiaenMessiaen, Olivier eine wichtige (französische) Persönlichkeit auf diesem Gebiet. Verschiedene Reihen mit einer bestimmten Anzahl unterschiedlicher Tonhöhen, Anschlagsarten, Lautstärken, Rhythmen (usw.) werden nach vorab genau festgelegten Kompositionsverfahren (Variationen und Übereinanderschichtungen) miteinander kombiniert. Das Vorgehen ist nicht nur mathematisch (wie man leicht glauben könnte), sondern hat auch eine spielerische Komponente. Die Forderung einer „sprachlichen Melodie“ ist bei MessiaenMessiaen, Olivier (1944) klar ausgedrückt und die Musik ist ausdrücklich als eine Sprache definiert.1

      MessiaenMessiaen, Olivier formuliert ebenfalls eine Ästhetik des Schönen und Edlen und das Streben nach religiösen Gefühlen.2 Diese durchaus traditionellen Werte werden aber bei dem Pariser Komponisten und Organisten mit neuen Mitteln angestrebt. MessiaenMessiaen, Olivier selbst beschreibt sie als eine Art Spannung zwischen den unendlichen Möglichkeiten serieller Berechnung und der mathematischer Begrenzung aufgrund des Materials (der Reihen) selbst.3

      Phonostylistik und Erforschung der Gesangsstimme

      In den 1960ger Jahren sind die technischen Möglichkeiten so weit fortgeschritten, dass großangelegte instrumentale Studien zur Erforschung der Zusammenhänge von perzeptiven Eindrücken und messbaren akustischen Faktoren anvisiert werden können. Damit rückt das Studium der spontanen Sprachäußerung in realen Kommunikationssituationen immer weiter in das Zentrum des Forschungsinteresses. Die Verbindungen zwischen (Norm-) Syntax und Prosodie sind bei dieser Art von Untersuchung weitaus weniger deutlich und andere Funktionen der Prosodie, wie der Ausdruck von Emotionen, Selbstdarstellung und diskursbedingte Stimmmodulationen dominieren. Die Aufteilung des Akzents in de grammaire oder tonique und in d’oratoire oder d’émotion, die sich seit dem 17. Jahrhundert in den französischen Grammatiken gezeigt hatte, spiegelt sich in den Betrachtungen der verschiedenen Parameter wider, die a) zum Verständnis des Codes und der Funktion der Aussage nötig sind, und b) zusätzliche, zum Verständnis ebenfalls wichtige Informationen (wie Stimmfärbung, Intensitätsvariationen, Atmung, usw.) übermitteln.

      Die letzteren werden im Rahmen der von Nicolas Troubetzky ins Leben gerufenen und in Frankreich vor allem von Ivan FónagyFónagy, Ivan und Pierre Léon entwickelten Phonostylistik wichtig, die in diesem Sinne das Erbe der Rhetoriker des 16. und 17. Jahrhunderts angetreten haben. Die lange Zeit im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehenden Intonationsmuster (zum Beispiel DelattreDelattre, Pierre, 1966) werden durch Studien zu den Verbindungen von Emotionen in Musik und in Sprache komplettiert (zum Beispiel FónagyFónagy, Ivan, 1983).

      Bei den Phonetikern wird die Gesangsstimme Objekt eigener Forschungsarbeiten. Dank der genauen Messmöglichkeiten kann die zeitlich unterschiedliche Organisation der Silbe in Sprache und Gesang verglichen werden (Scotto di Carlo & Autesserre, 1992). Die Unterschiede sind auf die bedeutende Verlängerung der Vokale auf Kosten der Konsonantendeutlichkeit zurückzuführen, die bei den im lyrischen Gesang (Opernschule) ausgebildeten Sängern die Regel ist. Diese Veränderung der Silbenstruktur ist auch einer der Gründe, weshalb Opernsänger und Sängerinnen oft schwer – oder gar nicht – zu verstehen sind (Scotto di Carlo, 1978). Im Unterschied zu den barocken Sängern der Lullyschen Tragédie lyrique, von denen absolute Textverständlichkeit erwartet wurde, stellt die auf die romanische Tradition zurückgehende „klassische“ Gesangstechnik die Formung der Stimme in den Vordergrund. Diese muss in erster Linie in