Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


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das heißt zum Sologesang, spürbar. Im Unterschied zu Italien verläuft diese Entwicklung in Frankreich nicht über die Gattung der Oper.1 Dieses neue Kompositionsgenre konnte hier nur schwer Fuß fassen. Der Übergang zu einer neuen Ästhetik vollzieht sich in kleinen Formen wie die der (von der Theorie der musique mesurée à l’antique beeinflussten) Chanson und des Air de Cour. Neben den mehrstimmigen, homorhythmischen Kompositionsformen (vgl. Bsp. 13) entsteht eine neue Gattung, die ebenfalls in Strophenform verfasst, aber für eine Solostimme mit Lautenbegleitung komponiert ist. Diese Form ermöglicht eine sorgfältige Textbehandlung und einen expressiven Gesang, kurz gesagt, eine wahrhafte Deklamation des Textes. Die Beherrschung der Deklamationskunst wird denn auch unabdingbar für jeden barocken Komponisten und Sänger.2

      Rhythmisch gesehen entspricht die lange Silbe einer langen Note. Die betonte Silbe des Taktes befindet sich zudem normalerweise auf dem ersten, betonten Taktschlag. Takthierarchie und ein neues, harmonisches Denken geben der Musik nunmehr eine zusätzliche, vertikale Ausrichtung. Darüber hinaus spiegeln melodische Konturen und Phrasierung des Gesangs diejenigen der Rede wider (vgl. Schweitzer, 2018: 332–334). Die Musik ist der Poesie untergeordnet, und gemäß diesem Ideal muss das Klangmaterial der gesprochenen Sprache genau in präzise musikalische Rhythmen, Intervalle, Figuren und Klangfarben umgewandelt werden. Die Musik kann somit als natürliche Nachahmung der gesprochenen Sprache verstanden werden. Durch diesen Kunstgriff erhält die Musik eine semantische Funktion. Sie kann nicht nur Geräusche der Natur (zum Beispiel Vogelgesang) oder natürliche Phänomene (wie das Hinaufsteigen einer Treppe durch eine aufsteigende Tonfolge) imitieren, sondern Musik wird zu einer eigenen Sprache, wenn sie direkt nach den Prinzipien der gesprochenen Sprache moduliert wird.

      Mehr noch als im deutschen Sprachraum, in dem die musikalische Rhetorik einen wichtigen Platz einnimmt,3 wird vom französischen Komponisten verlangt, mit den Regeln der musikalischen Kunst dieselben Gedanken und Gefühle wie ein Redner auszudrücken.

      Sprachtheoretische Grundlagen

      Das dazu nötige Handwerkszeug findet sich in den Grammatiken, die Silbenlänge (Quantität) und Akzent des Französischen erklären,1 sowie in den Texten zur Rhetorik, die Fragen der rhythmischen Gestaltung, Atmung und Stimmgebung behandeln.2 Die Autoren unterscheiden dabei noch nicht zwischen Vokal- und Silbenlänge. Gemäß der Prämisse, dass ein Konsonant allein nicht klingen – und damit keine Zeit beanspruchen – kann, resultiert die Silbenlänge automatisch aus der Vokallänge (vgl. Fournier, 2007). Ein wichtiger Moment ist die Definition des Akzents als einem zu zwei sprachlichen Disziplinen gehörenden Phänomen: Antoine ArnauldArnauld, Antoine und Claude LancelotLancelot, Claude unterscheiden in der Grammaire générale et raisonnée (1660: 17) einen dem Bereich der Grammatik angehörenden Akzent (ein fester Wortakzent, „naturel, & de grammaire“) von dem rhetorischen Akzent (ein flexibler, dem Ausdruck dienender Akzent, „de Rhetorique“, vgl. Kapitel 6). Das unterschiedliche Zusammenspiel dieser beiden Akzente charakterisiert die verschiedenen Sprachen.

      Zwei Jahre später formulieren Antoine ArnauldArnauld, Antoine und Pierre Nicole in der Logique ou L’art de penser von 1662 die Rolle der Stimme, der Gestik und der Mimik für das Verständnis und den Ausdruck eines Satzes.3 Damit nähern sich die beiden Disziplinen, Grammatik und Rhetorik, einander an.

      Das Rezitativ: Symbiose von textueller und musikalischer Deklamation

      Das Rezitativ bildet die neue Gattung, in der die perfekte Übereinstimmung von Deklamation und Sprache am deutlichsten zu Tage tritt (vgl. Kintzler, 2006: 299). Es nimmt einen bevorzugten Platz in der Tragédie lyrique ein. Im Vergleich zur italienischen Oper ist die Tragédie lyrique deutlich mehr dem Theater und seiner lyrischen Deklamation verhaftet. Sie schöpft ihre Ausdruckskraft aus dieser literarischen Komponente.

      Das Erfolgsduo für diesen Kompositionstyp ist allgemein bekannt: Seit ihrem ersten gemeinsamen Werk Cadmus & Hermione (1673) sind Jean-Baptiste LullyLully, Jean-Baptiste (1632–1687) und Philippe Quinault (1635–1688) für die perfekte Harmonie von Text und Musik berühmt (Bsp. 14). Nach den Aussagen von Jean-Laurent Le Cerf de la ViévilleLe Cerf de La Viéville, Jean-Louis ging LullyLully, Jean-Baptiste wie folgt vor, wenn Quinault ihm eine neue Szene vorlegte:

      LullyLully, Jean-Baptiste las sie, bis er sie fast auswendig kannte. Er setzte sich ans Cembalo und sang und sang den Text, wobei er sich am Cembalo begleitete. Wenn er fertig war, hatte er sich die gesamte Komposition bis zur kleinsten Note hin fest eingeprägt. Lalouette1 oder Colasse2 kamen und er diktierte ihnen die Musik. Am nächsten Tag erinnerte er sich kaum noch an das, was er komponiert hatte. All seine Vokalkompositionen entstanden auf diese Art. (Le Cerf de la ViévilleLe Cerf de La Viéville, Jean-Louis, 1705)3

      Die Schauspielerin, die die Grundlage für die praktischen Beobachtungen LullyLully, Jean-Baptistes lieferte, ist die bereits erwähnte Marie Desmares (1642–1698), bekannt unter dem Namen La Champmeslé (Bsp. 15). Le Cerf de la ViévilleLe Cerf de La Viéville, Jean-Louis (1705) berichtet, dass LullyLully, Jean-Baptiste ihre Intonation und Akzentuierung genauestens verinnerlichte und ihre déclamation chantante, ihre singende Deklamation, wie beschrieben in Melodien verwandelte. Musikalische Praxis und theatralische Deklamation nähern sich einander an mit dem gemeinsamen Ziel einer actio oder prononcio,4 die die Zuhörenden bewegt, indem sie Verstand und Herz gleichermaßen anspricht. Die Rhetorik als Kunst der öffentlichen Rede wird bedeutsam als Lehre eines affektvollen Vortrags, der immer die Regeln des Schönen und der guten Eloquenz (éloquence) berücksichtigt (vgl. Schweitzer, 2020b).

      2.4 Das klassische Zeitalter und die Lumières

      Gemeinsamer Ursprung von Gesang und Sprache

      Der „klassische Stil“ fällt in Frankreich mit dem Zeitalter der Aufklärung, den Lumières zusammen. Die Zusammenhänge von Musik und Sprache erhalten im Rahmen der Sprachphilosophie eine neue Dimension.

      Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques ist heute der bekannteste Vertreter der Theorie, nach der Gesang und Sprache einen gemeinsamen Ursprung in natürliche Empfindungen und spontane Gefühle ausdrückenden Lauten haben. Gesang stellt für RousseauRousseau, Jean-Jacques den Anfang aller menschlichen Äußerung dar: Die Ursprache war gesanglich durch ihre Melodiösität und ihre Akzentuierung.1 Wie RousseauRousseau, Jean-Jacques ausführlich in seinem Essai sur l’origine des langues (1755) darlegt, haben für ihn Akzente eine klangliche wie auch eine semantische Funktion.

      Noch weiter abstrahiert kann Sprache als das perfekte Mittel zur Vermittlung von Gedanken und Theorien, die Melodie dagegen für das (Mit)Teilen von Gefühlen betrachtet werden.2 Sprache (wie auch eine sprachliche Äußerung in einer bestimmten Sprache) ist damit für RousseauRousseau, Jean-Jacques umso ausdrucksvoller, je höher der Anteil ihrer musikalischen Elemente ist (vgl. Kapitel 5). Eine harmonische, und damit vertikal ausgerichtete Musik spricht den Verstand an, während in der Melodie des einstimmigen Gesangs vorwiegend Emotionen zum Ausdruck kommen.3 Wie RousseauRousseau, Jean-Jacques, so bedauert auch Eugène-Eléonore BéthisyBéthisy, Eugène Eléonor de de Mézières die Verarmung der modernen Sprachen:

      Ich frage mich, ob die Menschen nicht zuerst einfach nur Laute gebildet haben, bevor ihr Gehirn begonnen hat, Worte zu formen, und welche unglücklichen Umstände dazu geführt haben, dass ihnen diese weitaus spätere Erfindung nun natürlicher vorkommt als der Ruf der Natur. (BéthisyBéthisy, Eugène Eléonor de, 1760)4

      Im Vergleich mit den natürlichen, zu Beginn der Zeiten gesprochenen und gesungenen Äußerungen der Urväter werden die heutige Sprache und Musik von RousseauRousseau, Jean-Jacques und von BéthisyBéthisy, Eugène Eléonor de als eine Verarmung angesehen: Sie haben Teile ihrer ursprünglichen Ausdruckskraft verloren. Um diese wiederzugewinnen, erscheint Autoren wie RousseauRousseau, Jean-Jacques eine Rückkehr zur ursprünglichen Schlichtheit der Sprachen und des Gesangs unabdingbar.

      Kunst ist Nachahmung der Natur

      Ein melodiöser und angenehmer Gesang ist für RousseauRousseau, Jean-Jacques (1768) nichts anderes als eine Nachahmung