Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


Скачать книгу

interessieren. Dabei handelt es sich zunächst einmal nicht um freies Sprechen, sondern um die vorbereitete – und damit in einem gewissen Sinne wiederholbare – Realisierung vorformulierter Sätze und Texte.3 Claire Blanche-Benveniste (2010) bezeichnet das hier gemeinte Sprechniveau als eine sorgfältig kontrollierte und zivilisierte, für das öffentliche Reden bestimmte Sprache.4 Lange Zeit bleibt die Prosodie in Frankreich eng mit der art de (bien) parler verbunden.

      Pierre de Ramée, genannt RamusRamus, Pierre de, ist der erste französische Grammatiker, der 1572 in seiner Grammaire das Wort prosodie verwendet. Dies geschieht in Gegenüberstellung zur Orthographie: Die Prosodie betrifft die Kunst des Sprechens und die Orthographie diejenige des Schreibens. Beide zusammen bilden die Grammatik.5 Rhythmus und Akzent sind lange Zeit die hauptsächlichen, die Theoretiker der verschiedenen Disziplinen interessierenden Themen. Dabei ist der Begriff rythme, Rhythmus, zunächst einmal gleichbedeutend mit quantité, Quantität, das heißt der Silbenlänge, wohingegen der Akzent eine hauptsächlich melodische Interpretation erfährt. Grammatiker wie Rhetoriker stehen hier in der antiken Tradition: Ein mit einem accent aigu gekennzeichneter Vokallaut wird in Analogie mit der in der griechischen Sprache üblichen melodischen Aufwärtsbewegung als aigu (hoch) bezeichnet, ein Vokal mit einem accent grave markiert infolge seiner melodischen Abwärtsbewegung im Griechischen einen Vokal, dessen Klang grave (tief) ist, und der accent circonflexe entspricht melodisch einer Kombination der beiden vorhergehenden Akzente und benötigt dazu eine Silbe mit einer gewissen Grundlänge oder quantité longue. Doch gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist eine Umdeutung des Adjektivs aigu, hoch, spürbar, und der konkrete musikalische Anklang des Begriffspaares hoch–tief wird allmählich von einem Transfer in den Bereich des Vokaltimbres überlagert. Ein Vokal mit einem accent aigu (und besonders der Vokal e) wird nunmehr auch als fermé (geschlossen) und/oder masculin (männlich) bezeichnet und derjenige, der einen accent grave trägt, als ouvert (offen). Diese Tendenz, die sich bei den Autoren der Grammaire générale et raisonnée (ArnauldArnauld, Antoine & LancelotLancelot, Claude, 1660) anbahnt, ist bei François-Séraphin RégnierRégnier-Desmarais, François-Séraphin-Desmarais (1706) und Claude BuffierBuffier, Claude (1709) deutlich spürbar.6 Abbé BoullietteBoulliette, Abbé erklärt schließlich 1760 unmissverständlich, dass der französische Akzent nur in Namen und Schriftbild Ähnlichkeiten mit dem griechischen aufweise, keinesfalls aber in der Ausführung.7 Doch melodisch oder klanglich,8 der Akzent ist in jedem Fall als ein linguistisches, sprachtypisches Element betrachtet.

      Zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestätigt Jean-Léonor Le Gallois GrimarestGrimarest, Jean-Léonor Le Gallois die Verbindung von sprachlichem und musikalischem Ausdruck in seinem Traité du récitatif (1707). Der Terminus récitatif ist hier nicht mit der Gesangsgattung des Rezitativs zu verwechseln: Er ist direkt von dem Verb réciter (rezitieren) abgeleitet. Laut GrimarestGrimarest, Jean-Léonor Le Gallois bilden die Konversationssprache, das laute Lesen im privaten Kreis, das Sprechen in der Öffentlichkeit (Redner, Anwalt …), die Theaterdeklamation und der Gesang eine Art von Kontinuum. Stufenweise werden die ausdrucksstarken und expressiven Elemente wie das Volumen, die Betonung oder die Akzentuierung gesteigert, so dass der Gesang als letzte Stufe alle vorherigen Sprecharten enthält, aber durch die ihm eigenen zusätzlichen Ausdrucksfähigkeiten in besonderer Weise Gefühle übermittelt und hervorruft. Vokalmusik ist damit laut GrimarestGrimarest, Jean-Léonor Le Gallois „eine Art von Sprache“.9 Der Komponist kann als ein traducteur, ein Übersetzer angesehen werden, der Gedanken und Gefühle mittels seiner Kunst auszudrücken versteht.

      Dass diese Bemerkung durchaus wörtlich zu nehmen ist, zeigt der bekannte Bericht, nach dem der Komponist Jean-Baptiste LullyLully, Jean-Baptiste seine Melodien genau nach der Sprechart der berühmten Schauspielerin Marie Desmares (1642-1698), genannt La Champmeslé, formte.10 Noch am Ende des 18. Jahrhunderts bestätigt André-Ernest-Modeste GrétryGrétry, André-Ernest-Modeste (1789) die Effizienz eines derartigen Kompositionsverfahrens: Für ihn gehört das Studium der Deklamation zum unabdingbaren Handwerkszeug des Komponisten.11

      Knapp achtzig Jahre nach GrimarestGrimarest, Jean-Léonor Le Gallois und etwa zur selben Zeit wie GrétryGrétry, André-Ernest-Modeste bezeichnet Etienne de LacépèdeLacépède, Etienne de (1785: 32) die Musik als „la vraie langue des passions“, die wahre Sprache der Gefühle, eine Sprache, die mehr berührt als die gesprochenen Worte,12 und dies, da sie die klingenden und musikalischen Laute – das heißt die Vokale – in den Vordergrund stellt. Der gesangliche Anteil der Sprache ist damit der Kontinuität der Klänge gleichgesetzt. Noch der Grammatiker Napoléon LandaisLandais, Napoléon betont zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass die prononciation soutenue, der gewählte und eingeübte Vortrag, eine „Art von Gesang“ ist, in dem Stimmmodulation und Silbenlänge notiert sind.13

      Mischformen

      Heute erinnert an diese Gemeinsamkeit die Technik des 1897 von Engelbert Humperdinck begrifflich eingeführten und besonders seit der Wiener Schule (zum Beispiel bei Arnold Schönberg und Alban Berg) entwickelten Sprechgesangs,1 bei der sich Sprech- und Gesangsstimme einander annähern. Dazu werden feste Parameter wie ein exakter Rhythmus oder eine genaue Tonhöhe für die Sprechstimme fixiert, die damit Allusionen an die Gesangsstimme erhält. Für den Vortragsstil der Grande Dame des französischen Chansons, Juliette Gréco (1927-2020), sind effektvoll eingesetzte Passagen im Sprechgesang typisch (Wicke, 2016). Bei einer im März 2021 durchgeführten Umfrage zum französischen Chanson, an der sich 35 Personen mit französischer Muttersprache und 53, für die das Französische nicht ihre Muttersprache darstellt, beteiligten, bezeichneten die Befragten ihre Eindrücke der Stimme französischer Chansonniers wie folgt (Tabelle 1, vgl. auch Bsp. 1):

Gesangsstimme Beinahe gesungen Zwischen Singen und Sprechen Eher gesprochen
Georges Brassens („Le bricoleur“, 1956) 23 21 33 8
Léo Ferré („Les Corbeaux“, 1964) 9 17 33 24
Maxime Le Forestier („San Francisco“, 1972) 65 12 2 5
Alain Bashung („Jamais d’autres“, 2002) 1 3 62 16

      Tabelle 1:

      Eindrücke zur verwendeten Stimmart in französischen Chansons (Umfrage März 2021)

      Ein signifikanter Unterschied der Wahrnehmung bei den muttersprachlichen und nicht-muttersprachlichen Personen ist nicht festzustellen. Neben klaren Tendenzen (gut 77 % bewerten die Stimme Maxime Le ForestierLe Forestier, Maximes2 als Gesang und weitere 14 % als „beinahe gesungen“, während nur eine Person für Alain BashungBashung, Alain3 von Gesang und drei Personen von „beinahe gesungen“ sprechen) ist auffällig, dass oftmals eine genaue Zuordnung schwierig erscheint, und dies unabhängig von der jeweiligen Muttersprache oder der Tatsache, dass Sänger und/oder Chanson bekannt oder unbekannt sind. Georges BrassensBrassens, Georges4 spricht nicht, aber wie weit seine Stimme sich dem Gesang nähert, scheint nicht eindeutig zu sein: 21 Personen bezeichnen seinen Chansonvortrag als „beinahe gesungen“ und 33 als „zwischen Singen und Sprechen“. Bei Léo FerréFerré, Léo5 und Alain BashungBashung, Alain tendieren die Befragten zu einer von der Sprechstimme zumindest deutlich geprägten Ausdrucksweise: Für FerréFerré, Léo wählen insgesamt 69 % die Antwort „zwischen Singen und Sprechen“ und „eher gesprochen“,6 bei BashungBashung, Alain sind