Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


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auf Augustinus zurückgeführte Slogan durchzieht das gesamte Mittelalter: Musik ist eine vom Verstand geführte Operation (vgl. Favier, 2017: 46).

      Boethius,3 der als einer der Ersten in seinem musikalischen Lehrwerk De istitutione musica (ca. 500) die Aufteilung der sieben freien Künste in Trivium und Quadrivium definierte, übernimmt die Idee, Schönheit mit mathematischer Ordnung gleichzusetzen. Der gelehrte Musiker (musicus) steht in Opposition zum Dilettanten, der keine theoretischen Kenntnisse besitzt, sondern ausschließlich zu seinem Vergnügen auf seinem Musikinstrument spielt.

      Die Musik, die mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie das Quadrivium der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen bildet, wird als „höhere Rechenkunst“ angesehen (Keil, 2014: 59), da sie sich mit Proportionen beschäftigt: „Musik war gewissermaßen klingende Bruchrechnung und insofern auf ähnliche Weise höhere Arithmetik, wie die Astronomie als höhere Geometrie angesehen wurde“ (Keil, 2014: 60).

      Augustinus und Boethius sind die wichtigsten Theoretiker für die Übermittlung antiken Musikwissens während des gesamten Mittelalters bis ins 16. Jahrhundert: Beide wurden immer wieder gelesen, kopiert und kommentiert.

      2.2 Die Renaissance: Rückkehr zur Antike

      Die „vers mesurés à l’antique“

      In die gegen 1420 beginnende, musikalische Epoche der Renaissance fallen nicht nur die Veröffentlichung der ersten Grammatiken für die französische Sprache, sondern auch die Dichtungen der Autoren der Pléiade und die von Jean-Antoine BaïfBaïf, Jean-Antoine de (1532–1589) ins Leben gerufene Académie de poésie et de musique. BaïfBaïf, Jean-Antoine de initiierte, vor allem in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Claude Le JeuneLe Jeune, Claude (1525/1530–1600), einen fruchtbaren Austausch von Poeten und Musikern. Die Beziehung von Poesie und Musik erhält eine neue Bedeutung durch die Antikenbegeisterung, die diese Epoche so maßgeblich charakterisiert, dass sogar ihr Name, Renaissance, auf diese Leidenschaft zurückzuführen ist.

      Der Norden Frankreichs und das heutige Belgien entwickeln sich in der Renaissance zum wichtigsten europäischen Musikzentrum. Die musikalischen Hauptgattungen, Messe1, Motette2 und Chanson3, sind vokal. Das neuerwachte Bewusstsein der französischen Dichter für ihre eigene Sprache, das sich beispielsweise in der Abfassung der ersten Grammatiken zeigt, führt zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema der Verbindung von Poesie und Musik. Dabei sind besonders die vers mesurés à l’antique (siehe unten) von Bedeutung. Der Terminus mesuré verweist auf Ordnung und Regelmäßigkeit. Das Maß für den französischen Vers wird die Anzahl der Silben pro Zeile, im Gegensatz zur griechischen Metrik, in der die Quantität, das heißt die Länge der Silben, die Struktur des Versmaßes bestimmt. Darüber hinaus bildet der Reim ein klangtragendes und farbiges Element und gibt dem französischen Vers, so Joachim Du BellayDu Bellay, Joachim (1549), auf natürliche Weise einen musikalischen Charakter.4

      Der Reim bildet in der Struktur der Poesie einen Fixpunkt. „Die ‚poetische Zeit‘ des französischen Verses ist bemessen, mesuré, bis zum Auftreten des Reimes“, so Myriam Suzanne RionRion, Myriam Suzanne (2001: 82). Die Autorin zitiert dazu einen Passus aus dem Abrégé (1565) von Pierre de RonsardRonsard, Pierre de, in dem der Autor fordert, „lange und kurze Verse in verschiedenen Variationen (wie er vorschlägt: lang – kurz, lang – kurz – kurz) miteinander zu kombinieren und diesem Phänomen besonderen lyrischen Charakter zuspricht“5 (2001: 83). RionRion, Myriam Suzanne unterstreicht den musikalischen Denkansatz RonsardRonsard, Pierre des folgendermaßen: „Er hebt auf eine Qualität des Rhythmischen, der rhythmischen Variation ab, wie sie schon in seiner Forderung nach dem regelmäßigen Abwechseln männlicher und weiblicher Verschlüsse [i. e. Reime] durchscheint. Das prägt seine Vorstellung von musikalischer Qualität“ (idem).

      Musiktheorie und musikalische Praxis

      Die Varietas (Vielfalt oder Abwechslung) ist auch ein der Musik der Renaissance zugrundeliegendes ästhetisches Prinzip. Zahlensymbolik und melodische, voneinander unabhängige Einzelstimmen, die zu weitgespannten Sätzen verschmelzen, sind typisch für die mehrstimmigen Vokalkompositionen, wie wir sie von Johannes Ockeghem (1430–1495) oder Josquin Desprez (1440–1521) kennen (vgl. Bsp. 10).

      Im Gegensatz zu unserem heutigen Notensystem haben die Noten in der Renaissance keine absoluten Werte: Das sogenannte Mensurzeichen (vgl. Bsp. 11), das an der Stelle des heutigen Taktzeichens1 steht, bestimmt das Verhältnis der Notenwerte untereinander. In der Komposition können die verschiedenen Abschnitte und sogar unterschiedliche Stimmen in einem einzigen Abschnitt mit unterschiedlichen Mensuren notiert sein. Einziges verbindendes Element ist in diesem Fall der Tactus, ein gemeinsamer Grundschlag. Trotz Mehrstimmigkeit ist der Höreindruck linear. Strukturbildendes Element ist neben der Klausel2 vor allem die gemeinsame Atmung der Sänger.

      Eine wichtige Gattung bildet im 15. und 16. Jahrhundert die Chanson, ein mehrstimmiges, weltliches, in französischer Sprache gesungenes „Lied“.3 Besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeichnen sich viele Chansons durch eine syllabische Textverteilung und einen durchgehend homorhythmischen Satz aus: Alle Stimmen singen zur gleichen Zeit denselben Text. Dies Verfahren ist nicht nur der Textverständlichkeit, sondern auch der neuen Verbindung von Text und Musik zuträglich. Der Theoretiker Pontus de TyardTyard, Pontus de (1555) unterstreicht ebenso wie Pierre de RonsardRonsard, Pierre de das (neu-) platonische Ideal einer engen und klar geregelten Verbindung von Wort und Musik. Die Präzision der Verse RonsardRonsard, Pierre des, die, wie oben geschildert, metrische Regeln und Varietas miteinander in Einklang bringen, erleichtert die Vertonung des Textes mit einer Musik, die durch die Regelmäßigkeit des Phrasenbaus und durch die Schlichtheit der Satzstruktur die als wichtig erachteten prosodischen Elemente perfekt widerspiegelt.4

      Quantität und Akzent

      Die gute, richtige und natürliche Ordnung der Dinge ist ein wichtiges Thema für die Autoren der Renaissance. Die Rhetorik von Louis de LesclacheLesclache, Louis de (1648) beispielsweise ist laut Michel Le Guern (Lesclache, 2012 [1648]) von einer wahren Ordnungsbesessenheit durchzogen. Diese zeigt sich im dem folgenden, dem 9. Kapitel des 2. Teils entnommenen Zitat: „Alle Dinge haben ihre Ordnung. Alle Handlungen werden in der richtigen Reihenfolge ausgeführt. Es ist offensichtlich, dass die Ordnung uns das perfekte Wissen aller Dinge gibt.“1

      Die Quantität, das heißt die Länge der Silben, ist einer dieser von der Natur gegebenen, die Welt ordnenden und Zugang zur wahren Erkenntnis der Dinge ermöglichenden Faktoren. Sie stellt ein die Disziplinen verbindendes Element dar. Neben Poeten und Musikern beschäftigen sich auch die Grammatiker mit diesem Thema. Wenn der französische Vers auf der Anzahl der Silben beruht, so heißt dies nicht, dass die französische Sprache in den Augen der Theoretiker nicht über unterschiedliche Quantitäten verfüge.2 Oft wird Silbenlänge mit Akzentuierung gleichgesetzt – eine Intuition, die zwar nicht grundsätzlich falsch, aber doch bei Weitem nicht vollständig ist (vgl. Kapitel 6). Der Akzent, den Myriam Suzanne RionRion, Myriam Suzanne in der Poesie RonsardRonsard, Pierre des durch die Häufigkeit der Reime identifiziert hat (siehe oben), entsteht in der Vokalmusik der Renaissance durch die den gleichmäßigen Melodiefluss unterbrechenden langen Noten oder durch die Verwendung bestimmter, das Phrasenende ankündigender Formeln (der Klauseln).

      In der Renaissance hat die Verbindung von Sprache und Musik eine theoretisch-philosophische Grundlage. Sie ist von der Antikenrezeption der Autoren bestimmt und manifestiert sich vorwiegend in den Parametern Rhythmus (Quantität) und Klangqualität. Poesie, Musik und Philosophie vereinen sich in dem gemeinsamen Ziel der Erkenntnis, das heißt insbesondere der Kenntnis des Universums und der Erhebung der Seele zu einem Zustand vollkommener Ruhe (His & Vignes, 2010: 255).

      2.3 Der französische Barock: Eine musikalische Deklamation

      Musik und Deklamation

      Die für die Renaissance so typische Linearität der Komposition steht im Zentrum der großen Umwälzungen, die das Barockzeitalter mit sich bringt. Die moderne Takthierarchie mit konsequenter