Claudia Schweitzer

Die Musik der Sprache


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ohne Schreie oder Klagen zu imitieren.“1

      Die Forderung, die Natur nachzuahmen, bleibt vorherrschend in der Musik wie in den anderen Künsten, ein Paradigmenwechsel ist jedoch spürbar. Charles BatteuxBatteux, Charles stellt in Les Beaux-Arts (1746) eine Theorie der Poesie vor, in der die Nachahmung der Natur das verbindende Element aller Künste darstellt. Die Nachahmung betrifft aber nicht einen realen Moment, sondern das Wesen der Dinge, das den Sinnen normalerweise auf direktem Wege unzugänglich bleibt.2

      Das Ideal BatteuxBatteux, Charles ist klassisch, da die Suche nach dem Wesen der Dinge das Übersteigen des Gewöhnlichen und das Streben nach Vollkommenheit mit sich führt. Musik ist nicht mehr an die Sprache einer linguistischen Gemeinschaft gebunden, wie dies im Barock der Fall war und wie es das Beispiel der Kompositionsweise LullyLully, Jean-Baptistes zeigt, sondern wird immer mehr zu einer universellen Sprache der Gefühle. In diesem Sinne erwähnt Christoph Willibald Gluck (1714–1787) im Jahre 1773 ausdrücklich eine den Menschen aller Nationen verständliche Musik.3

      Sprache und Universalität

      Auch in den Grammatiken ist das Thema der universellen Verständlichkeit ein Thema. Diese kann durch Einsatz der prosodischen Mittel erreicht werden: Es geht hier nicht um lexikalische Fragen, sondern um das Verständnis des von der Prosodie zum Inhalt und Ausdruck der Worte und Satzkonstruktionen beigetragenen Sinns.1 In den verschiedenen Texten kristallisiert sich das Thema um die Frage des Akzents als besonders wichtig heraus. Die Autoren trennen nunmehr deutlich zwei Akzenttypen: Der erste, accent prosodique oder auch accent tonique genannt, ist melodisch, das heißt mittels Tonhöhenveränderung realisiert. Er interveniert auf Silbenniveau und entspricht dem accent de grammaire von ArnauldArnauld, Antoine & LancelotLancelot, Claude (siehe oben). Der zweite, accent oratoire genannt, beeinflusst die Intonation, den Rhythmus und die Intensität ganzer Satzteile und wird von den Gefühlen der sprechenden Person bestimmt.2 Die Prosodie gilt als art de regler [le] chant de la voix, die Kunst, den Gesang in der Stimme zu modulieren (D’AlembertD’Alembert, Jean Le Rond & Diderot, 1751).

      Das Ideal, die Natur oder vielmehr ihr Wesen zu imitieren, beeinflusst ebenfalls die Denkweise der Grammatiker und Rhetoriker. Dies zeigt sich in dem von ihren Arbeiten anvisierten Sprachniveau. Im Gegensatz zum 17. und zum frühen 18. Jahrhundert beginnt man nun, sich für die spontane Ausdrucksweise des Volkes, das heißt, seine natürliche Redegabe zu interessieren (auch wenn die technischen Mittel noch keine in heutigem Sinne befriedigende Forschung erlauben). „Weniger zivilisierten Völkern“ wird eine natürliche Beredsamkeit zugestanden, die auch ohne Beachtung der zahlreichen Regeln der Rhetorik ausdrucksstark ist (vgl. Siouffi & Steuckardt, 2021).

      Pierre-Paul DorfeuilleDorfeuille, Pierre-Paul Gobet, dit (1799/1800: 9) rät dem zukünftigen Akteur „d’observer la scène du monde“. Diese Weltbühne stellt für den Lernbegierigen die beste Schule der Passionen und des menschlichen Herzens dar. Ihr Studium kann ihm helfen, zu lernen, wie er dem Publikum gefallen und, vor allem, dessen Herz zum Klingen bringen kann.

      2.5 Die Romantik: Traumwelten und wissenschaftliche Genauigkeit

      Trennung von Kunst und Wissenschaft

      Mit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt sich eine neue Kunstästhetik. Die Schreckensherrschaft Robespierres und die Napoleonischen Kriege veranlassen die Romantiker, die die gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Aufklärung anlasten, zu einer heftigen Kritik an der vernunftbetonten Welt ihrer Vorfahren. Naturbegeisterung und Faszination für das Irrationale und Fremde, aber auch Vergangene, kennzeichnen die Künstler. Die das Herz ansprechenden Künste und die die Vernunft proklamierenden Wissenschaften gehen fortan getrennte Wege.

      Eine der Folgen dieser Trennung ist zunächst eine ästhetische Aufwertung der Künste, die für viele Romantiker beinahe ein Religionsersatz, ein Zufluchtsort vor der ernüchternden Gegenwart, wird. Der Künstler wird zum ausführenden Organ seines Genies: Ihm obliegt es, das Schöne im Kunstwerk spürbar zu machen. Die Musik wird im Rahmen der Schönen Künste in einem Atemzug mit Poesie, bildender Kunst und Architektur behandelt:

      Schön im Kunstwerk ist nur, was der Künstler darin hineinlegt. Es ist das eigentliche Ergebnis seiner Anstrengung und die Bestätigung seines Erfolgs. Wann immer ein von einem beliebigen – körperlichen, seelischen oder geistigen – Eindruck zutiefst getroffener Künstler diesen Eindruck mithilfe eines beliebigen Verfahrens – Gedicht, Musik, Statue, Gemälde, Gebäude – so zum Ausdruck bringt, dass er in die Seele des Betrachters oder des Hörers dringt, ist das Kunstwerk schön, und zwar nach Maßgabe der Intelligenz, die es voraussetzt, der Tiefe des Eindrucks, den es ausdrückt, und der Ausdruckskraft, die ihm vermittelt wird. Das Zusammentreffen dieser Bedingungen bildet den vollständigen Ausdruck des Schönen. (VéronVéron, Eugène, 1878 [2010])

      Die Begabung oder das „Genie“ für die musikalische Komposition definiert der Komponist Anton ReichaReicha, Antoine (1814:1) mit vier Eigenschaften:

      1 Eine große Kunstleidenschaft (das heißt, die Leidenschaft für die Musik),

      2 Das Bedürfnis zu schaffen, und das Geschaffene zu präsentieren,

      3 Die Begabung, Ideen zu konzipieren und auszuführen, und

      4 Eine ausgeprägte Sensibilität und Urteilskraft für die (musikalische) Kunst.

      Diese Eigenschaften sind naturgegeben und können nicht durch das Studium von Lehrwerken der Poetik, Rhetorik oder Komposition ersetzt werden, die allerdings unentbehrlich sind, um das vorhandene Talent zu entwickeln.

      Die Ausdruckskraft der Melodie

      Poetik, Rhetorik und Musik werden hier in einem Atemzug genannt und Anton ReichaReicha, Antoine (1814) empfiehlt das Studium seines Werkes ausdrücklich allen lyrischen Poeten, um zu begreifen, dass der Rhythmus das die Poesie und die Musik verbindende Element bildet. Der poetische Rhythmus des Textes ist nunmehr der Melodie übergeordnet.1 Damit rückt auch die ausdrucksstarke und empfindsame Melodiebildung ins Zentrum der Überlegungen und ReichaReicha, Antoine zeigt sich verwundert, dass diese bislang so wenig studiert worden sei.2

      Charles Darwin führt die Überlegungen RousseauRousseau, Jean-Jacquess zu einer ursprünglichen Verbindung von Sprache und Gesang weiter aus und erklärt nicht nur, dass „musikalische Laute eine der Grundlagen für die Entwicklung der Sprache abgeben“ (Darwin, 1875: 317), sondern unterstreicht auch die Nähe der melodischen Ausdruckskraft von Sprech-und Gesangsstimme:

      Der leidenschaftliche Redner, Barde3 oder Musiker hat, wenn er mit seinen abwechselnden Tönen und Cadenzen4 die stärksten Gemüthserregungen in seinen Hörern erregt, wohl kaum eine Ahnung davon, dass er dieselben Mittel benutzt, durch welche in einer äußerst entfernt zurückliegenden Periode seine halbmenschlichen Vorfahren ineinander die glühenden Leidenschaften während ihrer gegenseitigen Bewerbung und Rivalität erregten. (Darwin, 1875: 318)

      Die Rolle der den Gesang imitierenden Sprechstimme wird hier deutlich hervorgehoben: Die Musik der Sprache übermittelt einen Sinn.

      Melodie und Phrasierung

      In diesem Zusammenhang gewinnt die Einteilung und Gestaltung der Phrasen in der Musik einen wichtigen Platz. Poeten und Grammatiker beobachten für verschiedene Satzzeichen bestimmte melodische Schlussfloskeln und Pausenlängen, und bei den Musikern bildet die Phrasierungskunst ein nunmehr wichtiges Studienobjekt. Schauspieler, Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen müssen lernen, ihre Atmung genau der Struktur der Komposition anzupassen und immer genügend Luft zur Verfügung zu haben, um die jeweilige Phrase bis zum Ende gut gestalten zu können (vgl. Bsp. 17).

      Louis DubrocaDubroca, Louis (1802: 321) unterscheidet generell die repos de la respiration (die Atempausen) von den repos des objets (den inhaltsbestimmten Pausen). Vor allem die zweite Kategorie kann studiert und systematisiert werden. Das Komma erlaubt nur eine fast unmerkliche Atempause und markiert einen kleinen Abschnitt im Verlauf des Satzes. Vor dem Semikolon markiert die Stimme einen leichten