7 Die Zunahme von Gewaltübergriffen mit Dienstunfähigkeit zwischen 2005 und 2009 ergibt sich insbesondere bei Einsätzen im Rahmen von Veranstaltungen, Störungen der Öffentlichen Ordnung und (versuchten) Straftaten, also Situationen im öffentlichen Raum. Zudem haben sich Übergriffe bei innerfamiliäreren Streitigkeiten nahezu verdoppelt. Letztgenanntes kann als Folge des im Jahr 2002 in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetzes bewertet werden kann (Ellrich et al., 2010, S. 34f.).
8 Die Auswahl erfolgte anhand zweier Kriterien: es wurde jeweils der schwerste Übergriff auf einen Beamten, operationalisiert über die Dauer der Dienstunfähigkeit, bzw. der am kürzesten zurückliegende Übergriff für eine detaillierte Beschreibung ausgewählt (s. Ellrich et al., 2010a, S. 10 ff.).
9 Im Fragebogen wurde nicht nach der Staatsangehörigkeit der Täter gefragt, sondern nach der Herkunft, wobei der Herkunftsbegriff nicht explizit definiert wurde. Insofern bleibt offen, ob ein vermuteter oder festgestellter Migrationshintergrund angegeben wurde. Davon ist allerdings aufgrund des hohen Anteils nichtdeutscher Täter auszugehen.
Stress
Christian Pundt
Kriminologe M. A., Diplomverwaltungswirt (FH), Polizeiakademie Niedersachsen
Die Fragestellungen, die in diesem Kapitel bearbeitet werden, sind:
1. Was ist Stress? Wie kann man das Phänomen Stress definieren?
2. Was bedeutet Stress für Polizeibeamte?
3. Welcher Stress ist für Polizeibeamte zu erwarten? Wie kann man darauf konkret reagieren?
Einführung
Der Polizeidienst ist geprägt durch eine Vielzahl von Einwirkungen und Belastungen, die etymologisch dem Begriff Stress zuzuordnen sind. Stressoren wie Wechselschichtdienst, eine relativ starre Hierarchie und eine hohe individuelle Anforderung an die Flexibilität des Einzelnen seien hier freilich ebenso genannt, wie starke persönliche Belastungen. Als persönliche Belastungen werden u. a. das Anwenden und Erleben von Gewalt, die Aufnahme schwerer Verkehrsunfälle sowie die Betreuung von Opfern und Angehörigen angesehen.1 Allgemeine Stressoren, die zusätzlich zum Einsatzgeschehen auf Polizeibeamte einwirken, sind aufgrund der Thematik des Fachbuches aus dieser Betrachtung auszuschließen und werden in einem weiteren Fachbuch „Grundwissen Stress“ ausführlich erläutert.2 Ein wichtiger Aspekt dabei ist jedoch, dass alle Stressoren, seien sie privater oder dienstlicher Natur, auf das Arbeitsverhalten, die Konzentration und damit auf die Einsatzbewältigung Einfluss haben können.3
Abbildung 1
In der Psychologie werden die auftretenden Stressoren jedoch differenzierter eingeteilt. Unterschieden wird grundsätzlich in physische, psychische und soziale Stressoren (Abbildung 1).
Grundsätzlich sind jedoch nicht alle Einflussfaktoren negativ zu bewerten sondern können je nach individueller Sichtweise auch als Schutzfaktoren die Arbeit des Einzelnen erleichtern. Zu nennen sind eine gute Teamarbeit, ein gutes Arbeitsklima sowie ein gutes soziales Umfeld.
Der Einsatz- und Streifendienst, aber auch Ermittlungstätigkeiten außerhalb der Dienststelle, orientieren sich zum Großteil an der Bewältigung und Bearbeitung polizeilicher Standardlagen. Bei der Aufnahme polizeirelevanter Sachverhalte können die eingesetzten Beamten meist nur reagieren, anstatt selbst zu agieren. In jeder Standardlage entsteht somit immer ein „blinder Fleck“, der nicht vorausgesagt werden kann. Mit zunehmender Berufserfahrung entstehen bei der Aufnahme von Standardlagen Handlungsroutinen, die positiv wie negativ bewertbar sind. Die Auswertungen dieser „polizeilichen Standardlagen“ (Ruhestörung, innerfamiliäre Streitigkeiten und Gewalt) zeigen deutlich, dass gerade bei diesen scheinbaren Routineeinsätzen Polizeibeamte angegriffen und mit extrem aggressivem Verhalten konfrontiert werden.4 Dabei müssen sie trotzdem handlungsfähig und professionell bleiben. Betrachtet man die Stressbelastung, ist besonders hervorzuheben, dass sich Einsatzsituationen innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde ändern und der Stresslevel von absoluter Ruhe auf ein Höchstmaß ansteigen kann. Es ist gerade im Polizeialltag umso wichtiger, die Einsatzsituation und den auftretenden Stress entsprechend bewerten zu können, um handlungsfähig zu bleiben. Deshalb sollte jede/r Polizeibeamte/-in wissen, was für ihn/sie persönlich Stress bedeutet, wie er/sie sich innerpsychisch zeigt und welche Reaktionen für den Einzelnen zu erwarten sind.
Beispiel
Verden
19.07.2009
Messereinsatz gegen Polizeibeamten
Durch den Rettungsdienst wurde der Polizei in Verden/Osterholz ein polizeirelevanter Sachverhalt gemeldet, bei dem eine verletzte Person vor einer Gaststätte stehen sollte. Die Verletzungen seien eventuell durch ein Messer zugefügt worden. Als die beiden Polizeibeamten vor Ort eintrafen, standen zwei Personen vor einem Kaffee. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um Vater und Sohn. Der jüngere von beiden wirkte aufgrund seiner Kleidung (Schlafanzughose, Shirt und barfuß mit Blut an der Körperseite) wie ein Opfer. Der Polizeibeamte (30) erkannte aufgrund seiner Bewertung der Situation keinerlei Gefahrenmomente und ging auf die beiden Personen zu. Ohne eine Ansprache durch einen der beiden Beamten an die Personen „wirbelte“ der Täter (19) plötzlich herum und stach dem Polizeibeamten mit einem Messer in den Hals. Der Polizeibeamte sah den Angriff nicht voraus und war völlig überrascht. Der Kollege sprach den Täter mit gezogener Waffe zu Boden und hielt die Lage statisch, bis der Rettungswagen eintraf. Sein Kollege berichtet später, dass der Angriff wie ein ausgeholter Tennisschlag aussah. Erst bei der Verletzung habe der Polizeibeamte gemerkt, dass etwas im Argen ist. Er konnte nicht mehr funken und sich auch nicht mehr auf den Beinen halten. Die Gefahrensituation sei für ihn nicht erkennbar gewesen. Eigene Anmerkung: Mittlerweile ist Herr Biernath glücklicherweise wieder im Dienst.
Quelle: Auszüge aus einem Interview mit dem lebensgefährlich verletzten Kollegen Mirko Biernath, welches im Rahmen einer Bachelorarbeit (2010) geführt und mir durch den Kollegen Biernath freundlicherweise für weitere Projekte in der Polizeiwissenschaft zur Verfügung gestellt wurde.
Stress
Das Wort Stress hat seinen Ursprung aus dem lateinischen strictus, was so viel wie straff bedeutet. Im englischsprachigen Raum wird das Wort Stress mit Anspannung oder Druck übersetzt.
Die Schwierigkeit des Terminus Stress ist die unterschiedliche Möglichkeit der Interpretation. Das Wort Stress wird häufig als Synonym für Belastung, Krankheit und dem Burnout Syndrom verwendet. Es ist ein universeller Begriff, der in der Alltagssprache unspezifisch verwendet wird und eine Vielzahl von körperlichen und seelischen Zuständen in einem Wort zusammenfasst. In der konkreten Situation sollte also hinterfragt werden, was genau als Stress angesehen und bewertet wird.
In der Literatur (u. a. Krampl, (2007); Nitsch (1981); Sapolsky (1998)) werden neben den unterschiedlichen Stressoren („Psychisch, Physisch und Soziale Stressoren“) vier Kategorien von Stress unterschieden. Die erste Kategorie beinhaltet den „normalen“ Alltagsstress, der alle üblichen Belastungen (Arbeit, Freizeit, Verkehr etc.) zusammenfasst. Die zweite Kategorie ist der kumulative Stress. Hierunter werden zusammen auftretende Stressoren aus dem Alltagsstress als erhöhte Belastung bewertet. Eine weitere, die dritte Kategorie, ist der chronische bzw. Dauerstress. Hierbei kommt es zu starken Belastungen über einen andauernden Zeitraum. Als vierte und gravierendste Stresskategorie wird der Terminus „Traumatischer Stress“ verwendet. Als traumatische Stresssituationen werden die Belastungen definiert, die das Grundvertrauen bzw. eigene Grundannahmen erschüttern oder bedrohen können. Zu dieser Stresskategorie werden grundsätzlich u. a. massive Angriffe, Schusswaffengebräuche und Katastrophen gezählt, die jedoch nicht immer eine traumatische Belastung