Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


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Subjekt, trotz ihres offensichtlichen Widerspruchs zu seinen sozialen, ökonomischen und politischen Interessen, verschreibt.55 Dies bedeutet, daß die deterministische Dimension des autoritären Charakters als ihrem Wesen nach relativ zu begreifen ist und nicht als eine a priori gegebene alternativlose Unumgänglichkeit. Die Alternative manifestiert sich im Bewußtsein des Subjekts, im Bewußtsein seiner objektiven Lebensbedingungen und der zu deren emanzipierenden Veränderung aufzubringenden Opfer.56 Wenn das Subjekt es vorzieht, in seinen herkömmlich vorgegebenen Lebensbedingungen zu verharren, um sich deren Veränderung zu entziehen, trifft es eine Entscheidung, wenn es sich ihrer auch nicht immer bewußt ist. Die »Rechtfertigung« (d.h. die »logische« Erklärung für das Verharren in Bedingungen, die den eigenen Interessen widersprechen) nennen wir beim Individuum »Rationalisierung« und beim Kollektiv »Ideologie«.57 In diesem Sinne können wir also behaupten, daß jene typische Ideologiestruktur, welche sich in der Beziehung der Gebildetenschicht des Vormärz zur Revolution als politischem Mittel überhaupt und zur Französischen Revolution als historischer Vorgabe ausmachen läßt, ihre Quelle in einem für sie aufgrund einer historischen Entscheidung charakteristisch gewordenen autoritären Pattern hat.58

      Die inhärente Verbindung zwischen dem autoritären Pattern und der politischen Ideologie des Bürgertums ist in der hier zur Debatte stehenden historischen Epoche besonders eng, und zwar gerade wegen der eigentümlichen Rezeption der Französischen Revolution. Hatte doch diese Revolution die mit der Zügellosigkeit der unteren Schichten einhergehende »Gefahr« und »Bedrohung« deutlich bewiesen, indem sie deren von der »Freiheit« sozusagen sanktionierten »triebhafte Wildheit« konkret veranschaulichte. Es kann freilich von einer etablierten, auf die Kaschierung von Klasseninteressen ausgerichtete Ideologie, wie etwa die des Kapitalismus, noch nicht die Rede sein, denn der Industrialisierungsprozeß und die aus ihm resultierenden polaren Klassengegensätze waren im Vormärz-Deutschland noch nicht weit genug fortgeschritten und entwickelt. Es lassen sich gleichwohl erste Blüten dieses Prozesses nachweisen, und in jedem Fall bestand schon seit längerem die Neigung des Bürgertums, sich selbst »nach unten« hin zu bestimmen und abzugrenzen, und sei es mittels der Konzeption der »Bildung«, welche (genau genommen) zu einer Art politischen Parole dieser Klasse geworden war59; in dieser Situation symbolisieren die unteren Schichten die »Unordnung«, die »Anarchie« und das »Chaos«. Diese Bedrohung ist deutlich genug, denn, wie gesagt, hatte die Französische Revolution die »Massen« als aktives Kollektivsubjekt mit konkret artikuliertem Willen und zielgerichteten Aspirationen auf die Bühne der Geschichte gehievt. Zwar läßt sich daher die ständig lauernde Gefahr der Gewalttätigkeit nicht aus der Welt schaffen, aber man kann ihr zumindest eine Schranke in der Gestalt der herkömmlichen politischen Autorität setzen, um wenigstens ihren akuten Ausbruch zu verhindern; gegen einen König erhebt man sich nun mal nicht so ohne weiteres, er garantiert daher die Erhaltung der althergebrachten sozialen Ordnung.60 Nach unserem Dafürhalten wurzelt das Streben des deutschen Liberalismus nach der konstitutionellen Monarchie und seine Bekämpfung der Republik in diesem für Deutschland eigentümlichen Zusammentreffen einer Verehrung »nach oben« und einer Angst »vor unten«, d.h. in der affirmierenden Verknüpfung des autoritären Charakters mit der politischen Ideologie.

      Diese enge Verbindung zwischen dem kollektiv-psychischen Pattern und der ideologischen Struktur ist der Schlüssel zum Verständnis der Tragweite der Französischen Revolution in ihrer Bedeutung als ein die politische Kultur des Bildungsbürgertums im Vormärz und in der Folgezeit prägender Faktor. Wir haben oben dargelegt, daß der Revolutionsrezeption eine emotionale Matrix unterlegt ist, welche sich kognitiv in einem ideologischen System artikuliert.61 Es erhebt sich nun die Frage, durch welche in der Französischen Revolution auftauchenden Motive die beide Beziehungsebenen, nicht nur während des aktuellen Geschehens, sondern auch noch vierzig oder fünfzig Jahre später aktiviert werden. Die Beantwortung dieser Frage hängt mit einer prinzipiellen Klärung des Begriffs »Rezeption« zusammen, wie wir ihn hier verwenden. Wir gehen von der Grundannahme aus, daß historische Ereignisse gemeinhin kodifiziert erfaßt werden: Der Gesamtkomplex historischer Tatsachen enthält Schlüsselworte, Namen und Begriffe, deren Gebrauch eine bestimmte Assoziationsstruktur erweckt. Die Assoziationen können sich mit den Tatsachen verbinden oder gar decken, sie können sich aber auch – und das ist im anstehenden Zusammenhang besonders wichtig – vom eigentlichen historischen Ereignis loslösen, um sich als quasi autonome Gedankengebilde zu verselbständigen. Wir nennen solche Schlüsselbegriffe »Kodes« und schreiben ihnen die Funktion der Symbolisierung von Gestalten, Dingen, Ideen oder Prozessen zu. Unserer Ansicht nach ist es die jedem historischen Ereignis innewohnende »Kode-Matrix«, welche die Rezeption eben dieses historischen Ereignisses erst eigentlich ermöglicht.

      Die Französische Revolution assoziert sich, beispielsweise, wie von selbst mit Begriffen und Namen wie »Menschenrechte«, »Guillotine«, »Terror«, »Robespierre«, »Danton« u.s.w. Es ist klar, daß der Begriff »Menschenrechte« (zumindest bei uns heute) eine emanzipatorische Assoziation hervorruft, wohingegen »Guillotine« und »Terror« die von Gewalt und Unterdrückung. »Robespierre« kann sowohl die Gewalt als auch die Befreiung der »Massen« repräsentieren – es hängt ganz vom ideologischen Ansatz ab62; im Grunde kann sich der Begriff »Revolution« selbst sowohl mit »besserer Welt« als auch mit »Zerstörung und Chaos« in Verbindung setzen lassen. Oft erscheint eine solche Zweideutigkeit nicht unbedingt als dichotomische Möglichkeit der Wahl, sondern als untrennbare Einheit (z.B. »Menschenrechte« und »Terror« oder »Mirabeau« und »Marat«). Dies hängt mit der Ambivalenz zusammen, welche sich gemeinhin mit der Idee der Revolution verbindet; sie wird begriffen als ein Etwas, das sowohl die Verheißung einer besseren Zukunft als auch den Preis der Zerstörung und des Chaos für die Verwirklichung eben dieser Verheißung zum Inhalt hat. So lassen sich denn die spezifischen Kodes der Französischen Revolution in vier Sinnwelten zusammenfassen, welche, aneinandergereiht, ihre Kode-Matrix darstellen: »Auflehnung gegen die Autorität«, »Gewalt«, »Emanzipation« und »Ambivalenz«. Obwohl sich die Erscheinungsform dieser Kodes von Fall zu Fall ändern kann und obgleich sie nicht immer leicht zu identifizieren sind, meinen wir feststellen zu dürfen, daß sie in dieser oder jener Form in jeder historiographischen (und wohl nicht nur historiographischen) Rezeption der Revolution vorzufinden seien.

      Man kann dagegen einwenden, daß diese Feststellung wohl eine Selbstverständlichkeit sei: Begann doch die Revolution tatsächlich als eine Auflehnung gegen die traditionellen Autoritäten, es gab in ihr wirklich extreme Erscheinungen der Gewalttätigkeit, und sie bewirkte in der Tat die politische Emanzipation der sich auflehnenden Bevölkerung; und weil eben in ihr Freiheit und Tod, Emanzipation und Repression nebeneinander und gleichzeitig auftraten, kann das Gefühl der Ambivalenz als legitim und natürlich erachtet werden. Die Kode-Matrix hat also nichts anderes zum Inhalt als was die historischen Fakten ohnehin zeigen, und es ist von daher nur zu logisch, daß sie sich aus jeder einigermaßen akzeptablen Geschichtsschreibung der Französischen Revolution herauslesen läßt. Darauf muß in zweierlei Hinsicht geantwortet werden:

      Erstens: Nicht der Konnex zwischen den Kodes und dem historischen Ereignis ist im zur Debatte stehenden Zusammenhang relevant, sondern die Tatsache, daß die Kodes zwischen dem, was in dem Ereignis selbst motivisch enthalten ist, und dem Assoziationshorizont, der sich (unabhängig von der Beziehung zum konkreten historischen Geschehen) auf der Grundlage dieser Motive auftut, vermitteln. D.h., wir sind nicht an der Strukturierung der Französischen Revolution zwecks besseren Verständnisses ihrer selbst interessiert, sondern an den in ihr befindlichen Gebilden, welche ihren Rezeptionsprozeß im historischen Zusammenhang dieses Prozesses selbst bestimmen.63

      Zweitens (und dieser Punkt ist entscheidend für unsere These): Die oben dargestellte Kode-Matrix ist nicht nur die der Französischen Revolution. Wie wir im 2. Kapitel noch ausführlich darlegen werden, sind die in ihr enthaltenen Kodes auch Schlüsselbegriffe der Freudschen Konzeption des ödipalen Konflikts. Kodifiziert läßt sich dieser Konflikt beschreiben als emotionales Bestreben des (männlichen) Kindes zur gewalttätigen Auflehnung gegen die Autorität des Vaters (um der Mutter willen); dieses Bestreben ist in der Realität zum Scheitern verurteilt, unter anderem wegen der ambivalenten Gefühle des Kindes seinem potentiellen Opfer gegenüber. Das aus diesem Konflikt resultierende Schuldgefühl ist ein Haupthindernis im langwährenden