Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


Скачать книгу

des gesetzlosen Terrors sich immer dann nähert, wenn besagte Legitimation bedroht ist oder tatsächlich zusammenbricht: »Die Furcht, die den Tod eines Königs begleitet, besonders wenn er plötzlich und gewaltsam eintritt, zeugt von der Möglichkeit solchen Terrors. Oberhalb und jenseits aller Sympathiegefühle und pragmatischer politischer Belange, bringt der gewaltsame Tod eines Königs das Chaos in die Reichweite des Bewußtseins.«104 In diesem Sinn wirkt Robiquets Bemerkung, man sei nach Ludwigs Tod schnell zur Tagesordnung übergegangen, simplifizierend; und in eben diesem Sinn scheint uns die Schlußfolgerung von Furet und Richet, jenes »Schweigen eines ganzen Volkes beim Tod seines Königs« beweise, »wie tief der Bruch mit der jahrhundertealten Empfindungen der Menschen« schon gewesen sei, vorschnell zu sein.105 Wir sind der Auffassung, daß »sogar die Montagnards […] sich um die Zukunft [ängstigten]«, wie Bouloiseau herausstreicht, und daß also Vovelles erkenntnisreicher Deutung zuzustimmen sei: »Die Franzosen haben den Tod ihres Königs/Vaters/Helden auf verschiedenen Ebenen des Bewußtseins und der Wahrnehmung erlebt. […] Nach dem Verschwinden dieses schicksalsträchtigen Mannes sind zunächst Ersatzidole aufgetaucht, auf die sich die Sicherheitsbedürfnisse der revolutionären Bourgeoisie und von Teilen des Volkes projiziert haben.«106

      Fügt man Stackes Bemerkung, daß drei Tage nachher niemand mehr »von dem schrecklichen Morde« gesprochen, Maurins Behauptung, daß sein Tod nicht einmal Mitleid hervorgerufen habe, und daß man nur noch von ihm rede, »um ihm die Ermordung des wackeren Pelletiers vorzuwerfen«, und die Einschätzung Philippe Pinels, daß man das »große Ereignis« entstellen werde, »so daß die Wahrheit bald aus dem Bewußtsein verschwunden sein wird«107, zusammen, so läßt sich die Komplexität der intensiven Verdrängung des traumatischen Erlebnisses, mit deren Hilfe sich viele der Zeitgenossen gegen die mit der Königstötung verbundenen Schwierigkeit der Ambivalenz wehren, widerspiegeln. So wird dem Abgeordneten Lepeletier, der wegen seiner Befürwortung der Hinrichtung des Königs am 20. Januar ermordet wurde, der Rang eines Sühneopfers beigemessen. Ulrich Gumbrecht erörtert dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Untersuchung der Marats Heiligung durch die Revolutionäre einwohnenden Logik: »[…] wenn als historisches Gesetz die Annahme gelten konnte, daß bedeutunde Ereignisse der Revolution […] stets durch den Tod eines Revolutionärs ›bezahlt‹ werden mußten, wie die Exekution des Königs durch die Ermordung des im Sommer 1793 bereits zum Märtyrer kanonisierten Lepeletier, dann war Marats Größe durch die seinem Tod vorausgehende ›Säuberung‹ des Konvents und durch die Verabschiedung einer neuen Konstitution erwiesen.«108 Es erhebt sich freilich die Frage: Wem muß man den Preis des »bedeutenden Ereignisses« bezahlen? Die Antwort ist: Dem Gewissen, dem Über-Ich, in dem sich jene Autorität, gegen die sich die Revolutionäre auflehnen, eingenistet hat. Paradoxerweise wird so Lepeletier zum Opfer, durch das die Revolutionäre/Söhne den »Mord« am König/Vater »sühnen«. Es stellt sich heraus, daß es leichter ist das königliche Haupt in der Wirklichkeit zu guillotinieren, als sich von ihm in der psychischen Realität zu trennen. Maurin, der junge Soldat, drückt demnach wohl am eindringlichsten sowohl die Schwierigkeit als auch die Hoffnung, die sich aus der neuen Situation ergeben, aus; im selben Brief, in dem es heißt, der König sei kein Gesprächsthema mehr, bemerkt er auch, daß das Volk, »das kräftig die Freiheit begehrt«, die mit dieser Freiheit einhergehenden Sitten noch nicht kenne und noch alle Male an sich trage, »die ihm seine alte Sklaverei gelassen habe«, um dann aber hinzuzufügen: »[…] die Mehrheit, die den Mut gehabt hat, von all den Gefahren umstellt, die ihr zu drohen schienen, für den Tod zu stimmen, ist imstande, etwas zu schaffen. Ich setze die größte Hoffnung auf sie.«109

      In ihrem Versuch, die kollektiv-psychische Funktion der Revolutionsfeste und -feiern zwischen den Jahren 1789 und 1799 zu ergründen, unterscheidet Mona Ozouf zwischen »erlebtem Sinn« (sens vécu) und »gewolltem Sinn« (sens voulu). Ihre zentrale These hierbei ist, daß diese Einrichtungen den Sieg des durch Wunschvorstellungen der Realität beigemessenen Sinns über den durch die Einwirkungen objektiver Erlebnisse geprägten Sinnzuspruch ermöglicht und symbolisiert hätten.110 Gumbrecht bemerkt in diesem Zusammenhang, daß die Notwendigkeit hierfür aus dem Grunderlebnis der Revolutionäre resultiert habe, wonach die Zukunft nicht voraussehbar und demnach die Kontingenz der Aktivität der »anderen« zur Quelle der Furcht und Angst geworden sei, welche widerum zur Steigerung der Kontingenz selbst geführt habe.111 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß das Revolutionsdrama mit so vielen Geschehnissen und Begebenheiten von weitreichender Auswirkung angefüllt war, daß das Bedürfnis nach Bildung mentaler Mechanismen zur Auseinandersetzung mit der Dimension des in ihm verkörperten »Bruchs« zur Notwendigkeit werden mußte. Die Ungewißheit der Revolutionäre hatte die Entwicklung bestärkender Glaubenspattern zufolge, damit sie den kollektivpsychischen Stürmen der Ereignisse standhalten konnten.

      Die Hinrichtung des Königs war in dieser Hinsicht ein archetypisches Ereignis, weil das mit ihm verbundene Verlusterlebnis an jene atavistischen Elemente rührt, die Freud als Quelle für die historische Werdung zivilisatorischer Einrichtungen (wie etwa der Religion) begreift. Wie oben, im Rahmen des komprimierten Abrisses der phylogenetischen Kulturtheorie, dargestellt, sieht er die Entstehung der Religion in der »Vatersehnsucht« und im von dessen gewalttätigen Beseitigung herrührenden Schuldbewußtsein begründet. In diesem Sinn ist die Religion als ein Mechanismus zu verstehen, der die irrationale Sühne jener Erbsünde ermöglicht, welche widerum der Befriedigung eines aus dem ungelösten Ambivalenzkonflikt entstandenen, ontogenetisch konstituierten Bedürfnisses nachkommt. So besehen verkörpert die Französische Revolution einen doppelten »Vatermord«: Nicht nur wird die traditionelle politische Autorität gestürzt, sondern es wird auch der Versuch unternommen, jene Institution zu entmachten, der die Funktion zukommt, die psychische Auseinandersetzung mit dem aus dem antiautoritären Akt hervorgehenden Schuldbewußtsein zu ermöglichen. Mehr noch: Da der exekutierte Herrscher ein »König von Gottes Gnaden« ist, symbolisiert das am 21. Januar 1793 geköpfte Haupt die Übertretung eines zweifachen Tabus: das gleichzeitige Vergehen gegen den König und gegen Gott selbst.

      Viele Schichten des durch eine lange katholische Tradition geprägten französischen Volkes konnten eine Wende mit solch weitreichenden mentalen Implikationen nicht ertragen. Robespierre verstand dies wohl und bekämpfte die revolutionären atheistischen Strömungen, wobei er den Kult des Höchsten Wesens als eine Art Ersatz für die althergebrachte Religion zu etablieren versuchte. Auch dies half indes nichts. Die Französische Revolution schaffte es zwar, die Aureole der Monarchie von Gottes Gnaden zu zerstören, aber nicht Gottes Gnade Monarchie in den Sehnsüchten des einfachen Menschen zu beseitigen112; sie schaffte es nicht, jenen »Massenwahn«, wie er von Freud genannt wird, jene Sehnsuchtsüberbleibsel des Menschen nach einem erhöhten Vater, zu eliminieren.113

      »Kann es einen überraschen, daß die Erklärung der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte durch die französische Konstituante am 26.August 1789 eine solche Verheerung anrichtete?« fragt Ullmann und fügt hinzu: »Der Boden war noch nicht reif für ein solches Denken, das vorläufig nichts mehr war, als akademische Spekulation: Der Einfluß der vorhergehenden rechtlichen und politischen Ideologie verwandelte solche weitreichende Erklärungen zu Instrumenten der Revolution, welche mit Gewalt eine Ordnung schuf, die keine historischen, sozialen oder politischen Wurzeln in der Vergangenheit hatte.«114 Demgegenüber vertreten wir die Auffassung, daß die Schlüsselereignisse der Revolution sehr wohl in der »Vergangenheit« verankert seien, daß sie gar die dramatischste Reproduktion der »Vergangenheit« in der Neuzeit darstellten; es kommt halt nur darauf an, von welcher »Vergangenheit« die Rede ist. Ullmann meint die evolutionäre Werdung des sich seit dem Mittelalter entwickelnden Europas; wir beziehen uns auf jenes prä- bzw. metahistorische revolutionäre Ereignis, das die Beseitigung der Vaterherrschaft und die Konstituierung der Brüdergemeinschaft zeitigte. Ullmann behauptet, die Brüder seien im Jahre 1789 für eine solche Umwälzung noch nicht reif gewesen, und daß die »Verheerung« demgemäß unabdingbar gewesen sei; wir behaupten, daß die Reife der Brüder nicht im Entscheidungsbereich des Historikers liegen könne – die Brüder erheben sich immer dann, wenn sie sich der unumwundenen Notwendigkeit einer Auflehnung bewußt werden. Das soll nicht besagen, daß dieser Prozeß leicht wäre; im Gegenteil: Es handelt sich um einen dermaßen gewaltsamen und elemantaren Vorgang, daß er an den psychischen Grundfesten des