Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


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verblaßte. Für unser Anliegen ist indes nicht so sehr die objektive Macht des Königs relevant, als vielmehr die Tatsache, daß die Franzosen des Jahres 1789 wohl eine Revolution begannen, in mentaler Hinsicht jedoch recht stark von der historisch bedingten Verinnerlichung der Monarchie als integralen Bestandteil ihrer nationalen und gesellschaftlichen Identität geprägt waren; den Sturz der Monarchie beabsichtigten die Revolutionäre am Anfang gar nicht. Und dennoch ist in der Antwort Mirabeaus an den Zeremonienmeister die erste Auflehnungstat der Revolution gegen die Autorität verkörpert. Unserer Auffassung nach ist es kein Zufall, daß sich dieser symbolische Akt gerade im zeremoniellen Kontext abspielte; stellt sich doch gerade in den Formen des höfischen Zeremoniells jene Tabuvorschrift der Trennung zwischen dem König und seinen Untertanen dar.63 Der Ungehorsam dem Zeremonienmeister gegenüber ist demnach nichts anderes, als eine Übertretung des Tabus und somit ein Akt gegen die Autorität, die es mit diesem Tabu zu schützen gilt. Von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich die Geschehnisse in Versailles am 5. und 6. Oktober 1789 ähnlich interpretieren. Einerseits hebt Lefebvre hervor, die Bevölkerung hätte in den Tagen nach diesen Ereignisse dem König Zeichen ihrer »Zuneigung« und Loyalität gegeben, und Michelet behauptet gar: »Alle meinten, daß man niemals Hungers sterben könnte, wenn man den König bei sich habe. Alle waren noch Royalisten und freuten sich sehr, daß sie diesen ›guten Papa‹ endlich in gute Hände geben konnten«64; andererseits waren jedoch eben diese Ereignisse mit Gewalttaten, bei denen einige von den Leibwächtern des Königs ums Leben kamen, und mit einer schroffen Übertretung der Etikette, in deren Verlauf Leute aus der Menge bis ans Schlafgemach der Königin hervordrangen, verbunden. Das Berührungstabu wurde somit konkret verletzt. Mehr noch, man hat das gesamte Ereignis als einen symbolischen Akt zu begreifen, der einen bedeutungsvollen Wendepunkt schon in den ersten Phasen der Revolution darstellt: Die dem König aufgezwungene Rückkehr zum Zentrum des Geschehens in Paris durchbricht sowohl physisch als auch zeremoniell die traditionelle Trennungsmauer zwischen dem Monarchen und seinen Untertanen – ein Tatbestand, der sich deutlich im grotesken Zug von Versailles in die Hauptstadt manifestiert; von nun an wird der König zwar noch eine Zeitlang »über seinem Volk« stehen, aber er wird unter und mit ihm leben müssen; die so geschaffene physische und mentale Annäherung symbolisiert die ambivalente Bedeutung des gesamten Ereignisses: Das Volk wirbt zwar um die Zuneigung des Königs, es setzt ihn aber auch einer größeren aggressiven Bedrohung als in der Vergangenheit aus. Das Freudengeschrei der hungrigen Fischverkäuferinnen im Laufe ihrer Rückkehr nach Paris, ihre Freude darüber, daß sie »den Bäcker, die Bäckerin und den kleinen Bäckerburschen« heimbringen, enthält demnach zweierlei Botschaften: Wohl kann der König die Not des Volkes lindern, wehe ihm jedoch, man möchte fast sagen: gnade ihm Gott, wenn er es nicht tut.

      Dies soll nicht besagen, daß sich die Revolutionäre und ihre Anhänger im Volk der vollen Bedeutung der Auflehnung gegen die Autorität bewußt waren. Die Parole der Brüderlichkeit (oder wenn man will: der Aufruf zur Konsolidierung der Brudergemeinschaft), die sich zunehmend mit der des Patriotismus (also des Bestrebens, die Stellung des pater zu erobern) verbindet, illustriert im nachhinein den Sinn der sich aus der Auflehnung ergebenden Entwicklungen; es läßt sich aber vermuten, daß die Panikwellen und die kollektive Angst, welche breite Teile der Bevölkerung in den Anfängen der Revolution erfaßten, ein authentischeres Symptom für deren mentale Verfassung in der Auseinandersetzung mit der neuen Situation abgeben. »Der Verlust des Führers in irgendeinem Sinne, das Irrewerden an ihm, bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum Ausbruch« sagt Freud und begründet dies damit, daß »mit der Bindung an den Führer […] – in der Regel – auch die gegenseitigen Bindungen der Massenindividuen« schwänden.65 Vovelle sieht in der »Großen Furcht« (Grande Peur), die in der zweiten Julihälfte des Jahres 1789 die Bauern erfaßte und sich sehr bald über weite Teile Frankreichs verbreitete, ein »verzerrtes Echo der urbanen Revolutionen im ländlichen Raum«. Die Bewohner dieser Gegenden hätten zu den Waffen gegriffen, weil verschiedene Gerüchte über imagnäre Gefahren in Umlauf gekommen seien. Obgleich sich die Furcht bald gelöst hat, sei sie »zum Anstoß für die Agrarrevolte« geworden und »setzte sich in der Plünderung der Schlösser und der Verbrennung der seigneurialen Rechtstitel fort«. Vovelle behauptet, diese Bewegung habe zur Mobilisierung der Bauern geführt und symbolisiere »deren offiziellen Eintritt in den revolutionären Kampf«.66

      Wir vertreten die Auffassung, daß die kurze Zeitspanne zwischen der Bestürmung der Bastille, welche mehr als vieles andere die Auflehnung gegen die Autorität symbolisiert, und dem Ausbruch der »Großen Furcht«, die vermeintlich keiner rationalen Erklärung unterliegt, die Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen beiden Ereignissen suggeriert. Am 17. Juni konstituiert sich die Nationalversammlung, am 20. Juni findet der berühmte Ballhausschwur statt, am 9. Juli erklärt sich die Nationalversammlung zur Konstituante, und am 14. Juli wird die Bastille erobert. Neben dem euphorischen Hochgefühl der Emanzipation mußte eine solche Ansammlung sich der Autorität widersetzender Akte auch die komplementäre Dunkelseite eben dieses Gefühls hervorbringen – das Erlebnis des Verlustes. »Der Verlust ist ein reales Ereignis, zugleich aber auch eine Wahrnehmung, die das Individuum veranlaßt, diesem Ereignis symbolische Bedeutung beizumessen«, behaupten F. Weinstein und G.M. Platt. »Selbst das Aufhören einer gewohnten Form der Unterdrückung kann dann als Verlust empfunden werden, wenn sie einem zuvor das Gefühl der Herrschaft über sie gestattete und falls man einigen sekundären Gewinn aus ihr ableiten konnte […]«.67 Das ist im Grunde der eigentliche Preis der Ambivalenz: Der Emanzipationsprozeß verläuft nie linear. Er ist seinem Wesen nach dialektisch, weil jeder revolutionäre Schritt vorwärts unweigerlich mit der Abschiednahme von bekannten Konventionen verbunden ist; und je größer die Notwendigkeit einer Loslösung durchdringt, desto stärker erweist sich die Empfindung des Verlustes. Die für die Emanzipation unumgängliche Auflehnung gegen die Autorität und das unmittelbare Gefühl des Verlustes, das in Angst oder gar Panik umschlagen kann, hängen engstens miteinander zusammen. Damit soll nicht der Versuch unternommen werden, gängige historiographische Interpretationen zu widerlegen; wir meinen, daß es sich hierbei um verschiedene Erklärungsebenen für ein und dasselbe Geschehen handle. Wenn es so etwas wie den revolutionären Heroismus gibt, so stellt er sich für uns nicht so sehr in der moralisierenden Aufteilung zwischen »guten Unterdrückten« und »bösen Unterdrückern«, sondern eher im Mut, den Leidensweg der Emanzipation einzuschlagen, dar.

      In ähnlicher Weise läßt sich die Panik der »Septembermorde« auslegen; bei diesem Ereignis trat allerdings die Komplementärdimension der Angst, die gewalttätige Aggression, aufs extremste zutage. Die Gefahren und Bedrohungen sind diesmal deutlich faßbar: Fremde Heere sind in Frankreich eingedrungen, und, damit zusammenhängend, ist die Möglichkeit einer aristokratischen Konspiration ungleich wahrscheinlicher geworden; ausgerechnet in einer solchen kritischen Situation schwillt nun das Problem der Autoritätsvakanz zu bis dahin unbekannten Ausmaßen an: Der König ist gefangen, und die Entscheidungsbefugnis liegt in den Händen einer provisorischen Exekutivgewalt. Auch Dantons beeindruckender Auftritt zur Verhinderung der allergrößten Katastrophe zeichnet sich letztlich durch einen eher improvisierten Charakter aus. Die panische Angst, die auch im vorliegenden Fall im relativ plötzlichen Verschwinden der herkömmlich anerkannten Führungsautorität wurzelt, fordert ihren Tribut. Alles hängt von der Einigkeit der Brüderschar ab, und diese »definiert« sie mittels einer Eleminierung der »Abweichler«, einer Liquidierung der Aristokraten, der eidverweigernden Priester und der Kriminellen. Wir sind nicht der Meinung, daß der Auswahl der Opfer eine revolutionäre Dimension – politisch oder sozial – beizumessen sei. Der Haß auf die in den Gefängnissen Assignaten fälschenden Kriminellen und auf die gegen die Revolution konspirierenden Aristokraten oder Priester ist nicht die Ursache, sondern der Anlaß für den gewalttätigen Ausbruch, für die Entladung der schrecklichen im Angesicht der Bedrohung und infolge der panischen Angst entfachten Aggression. »Die panische Angst vor dem Verrat […] vernebelte das Gewissen«, schreiben Furet und Richet68, und wir fügen hinzu: Wo die reale Autorität im Gefängnis sitzt, verliert auch die ins Über-Ich verlagerte Autorität zunächst mal ihre Macht.

      Im nachhinein lassen sich die »Septembermorde« als Bindeglied zwischen dem 10. August, dem Tag der Bestürmung der Tuileries und des Sturzes der Monarchie, und dem 21. September, dem Tag der Errichtung der Republik, begreifen. Die Manifestation der Kode-Matrix ist