ein qualvoller Ablauf. Eine Bereitschaft des Menschen, ihn durchzustehen, ist ganz und gar nicht selbstverständlich, denn er ist unweigerlich mit dem schweren Preis des Verzichts auf bekannte Pattern, mit der Loslösung von der beschützten Geborgenheit einer infantilen Verantwortungslosigkeit und mit der Beschreitung eines unbekannten neuen Weges verbunden. So besehen gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der individuellen Neurose und dem, was Marx als »Opium für die Massen« und Freud als »das süße – oder bittersüße – Gift« verurteilen54, wenn sie vom kollektiven Phänomen der Religion sprechen:
»Religion ist ein Versuch, die Sinnenwelt, in der wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen, die wir infolge biologischer und psychologischer Notwendigkeiten in uns entwickelt haben. Aber sie kann es nicht leisten. Ihre Lehren tragen das Gepräge der Zeiten, in denen sie entstanden sind, der unwissenden Kinderzeiten der Menschheit. Ihre Tröstungen verdienen kein Vertrauen. Die Erfahrung lehrt uns: Die Welt ist keine Kinderstube. […] Versucht man, die Religion in den Entwicklungsgang der Menschheit einzureihen, so erscheint sie nicht als ein Dauererwerb, sondern als ein Gegenstück der Neurose, die der einzelne Kulturmensch auf seinem Wege von der Kindheit zur Reife durchzumachen hat.«55
Emanzipation bedeutet also die leidvolle Wegbeschreitung des Reifungsprozesses, samt der ihm immanenten notwendigen Auflehnung gegen die beschränkende Autorität und des schweren Verzichts auf Illusionen, die das Bewußtsein und somit die Öffnung zur Realität versperren. In dieser Hinsicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem den Weg zur »vaterlosen Gesellschaft« bahnenden Freudianer Alexander Mitscherlich und dem Jung-Schüler Erich Neumann, der den Helden als den »Feind des alten Herrschaftssystems, der alten Kulturwerte und des herrschenden Gewissens« sieht, der somit »notwendig in Gegensatz zu den Vätern und ihrem Repräsentanten, dem persönlichen Vater, der im Umkreis des Sohnes das herrschende Kultursystem verkörpert«, trete.56 Neumann unterscheidet zwar zwischen dem Archetypen des transpersonalen Vaters und der Gestalt des persönlichen Vaters und behauptet, es sei die »Stimme« des ersten, die den Sohn zur Auflehnung treibe und ihm die Mission der Weltveränderung auferlege, aber auch er gelangt zur Schlußfolgerung, daß obgleich in historisch soziologisch verschiedenen Situationen »der transpersonale Faktor auf verschiedene Objekte projiziert« werde, so erfolge doch in jedem Fall eine Auseinandersetzung mit diesem transpersonalen Faktor, »denn ohne ›Vater‹mord ist keine Bewußtseins- und Persönlichkeitsentwicklung möglich.«57
Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Hinrichtung des Königs als traumatisches Schlüsselereignis, stellt sich also heraus, daß es eine Übereinstimmung gibt zwischen zentralen Erkenntnissen der Freudschen Lehre und jenen Begriffen, die wir als Hauptkodes der der historiographischen Rezeption der Französischen Revolution unterlegten Matrix beschrieben haben.
Allein schon der Umstand, daß es sich bei dem hingerichteten Monarchen um einen König »von Gottes Gnaden« gehandelt hat, weist darauf hin, wie unerhört dreist die in dieser Tat verkörperte Übertretung des Tabus erscheinen mußte. Die Institution des europäischen Königtums durchlief viele Wandlungen bis es zu einer Form gelangt war, dergemäß die Autorität des Königs aus der ihm von Gott übertragenen Macht resultierte. Die theologische Basis für diese Entwicklung läßt sich zwar schon in den Paulinischen Postulaten, daß es keine Macht außer der Macht Gottes gebe, und daß alles, was der Mensch sei, er infolge der Gnade Gottes sei, finden; Zeugnisse von dem Ausdruck »von Gottes Gnaden« gibt es zwar schon im sechsten Jahrhundert für die lombardischen und im siebten für die angelsächsischen Könige; aber erst im achten Jahrhundert – so Walter Ullmann – wurde dieser Ausdruck zum Titel standardisiert:
»Der König, der bislang durch das Volk oder durch die ihn repräsentierende Körperschaft gewählt worden war, machte es mit dieser Betitelung eindeutig klar, daß sein Königtum auf dem Wohlwollen, der Gunst und der ›Gnade‹ Gottes beruhe. Der wesentliche Punkt ist, daß somit die engen Beziehungen, die er mit dem Volk unterhalten hatte, abgebrochen wurden; das Volk verlieh ihm ja keine Macht mehr, konnte sie ihm demgemäß auch nicht mit legalen Mitteln absprechen, und es war ihm lediglich [zu Gehorsam] verpflichtet.«58
Ab dem 8. Jahrhundert begann sich also der König allmählich vom Volk zu lösen. Darin lag durchaus eine Umkehrung der ursprünglichen Grundsätze, und es verging doch noch eine recht lange Zeit, ehe sich die papistisch-monarchistische Auffassung durchsetzte, die jegliches Recht der Untertanen, sich der Autorität des Königs zu widersetzen, endgültig untergrub. Die von Ullmann in diesem Zusammenhang erörterten rivalisierenden Theorien der monarchischen Machtvollkommenheit – nach deren ersten das Volk dem König die Macht verleiht (ascending theory), nach der zweiten indes der König seine Autorität der von Gott übertragenen Macht entnimmt (descending theory) – spiegeln jenes ambivalente Verhältnis gegenüber der Institution der Herrschaft wider, welches Freud in den Grundsätzen verkörpert sieht, daß man den König beschützen, sich gleichwohl vor ihm aber auch schützen solle. Das Volk, das seinen König krönt, beschützt ihn, um sich seiner Schirmherrschaft zu versichern; demgegenüber muß man sich vor einem König von Gottes Gnaden hüten, denn er besitzt eine übermenschliche Kraft, und die Berührung mit dem Göttlichen ist verboten: Die Loslösung des Königs vom Volke gerade zu dem Zeitpunkt, als er sich die himmlische Autorität zulegt, wird so verständlich. Die latente Funktion dieser Trennung liegt jedoch im prophylaktischen Schutz vor der potentiellen Aggression der Untertanen, denn gerade die Steigerung der herrschaftlichen Autorität bringt die mögliche Pervertierung des »christlichen Fürsten« zum repressiven Tyrannen mit sich. Nicht von ungefähr tauchten im Laufe der Zeit mannigfaltige Theorien über das Recht zur Auflehnung und zum Tyrannenmord auf.59
Andererseits wird der König aber auch als wohlwollender Beschützer aufgefaßt. Kraft seiner göttlichen Attribute bekämpft er das Böse, seine Aufgabe ist es, für Frieden und Wohlstand seiner Untertanen zu sorgen. In bestimmten Epochen wird seiner physischen Berührung heilende Wirkung zugeschrieben, und seine Erscheinung erweckt eine fast sakrale Ehrfurcht.60 Der Wille des Königs ist unumstößlich, der Gehorsam der Untertanen geheiligte Pflicht. Die Legitimatonsbasis solcher patriarchalischer Beziehungen steht in engem Zusammenhang mit der göttlichen Legitimation des Herrschers und mit einer Auffassung, wonach das Volk ein einem Kind vergleichbares Kollektivsubjekt darstelle:
»Das Volk selbst, weit davon entfernt, mit autonomer oder angeborener Macht ausgestattet zu sein, wurde sowohl praktisch als auch theoretisch von Gott der Herrschaft des Königs anvertraut bzw. übergeben. Angesichts seiner Unfähigkeit, seine eigenen Angelegenheiten zu meistern, sollte nicht nur die Doktrin das Volk des Königreiches in den juristischen Stand eines minderjährigen Unmündigen versetzen, sondern die köngliche Praxis und Doktrin […] behandelte das Volk bezeichnenderweise als unter dem Munt des Königs befindlich. Der Munt […] drückte also die Idee des Schutzes in der eindrucksvollsten Weise aus. Es war dieselbe Art von Schutz, die der Vater seinem Sohn zuteil werden läßt, in keiner Weise verschieden von dem Schutz, den der Vormund dem Mündel gibt oder im angelsächsischen England der Gatte seiner Frau zu geben pflegte. Der Beschützer wußte angeblich am besten, wann die Interessen seines Mündels Aktion erforderten. […] Dadurch, daß der Beschützer im Besitz des Munt war, unterstand das Mündel, mittelalterlichen Auffassungen gemäß, dessen Gerichtsbarkeit.«
Ein Überbleibsel dieses hierarchischen Verhältnisses findet sich im deutschen Begriff »Vormund«, und Reste seines symbolischen Ausdrucks (wie etwa des erhöhten Throns) lassen sich an Begriffen wie »Royal Highness« oder »Obrigkeit« ablesen.61
Wir können also behaupten, daß sich in der Entwicklungsgeschichte der monarchischen Institution die Ambivalenz in den Beziehungen zwischen dem König-Vater und den Untertanen-Kindern sowohl in der Sphäre theoretischer Legitimation als auch in der kollektiv-psychischer Introjektion widerspiegelt. Der Rahmen dieser Untersuchung ermöglicht es nicht, den langsamen, evolutionären historischen Prozeß zu verfolgen, der zuletzt dazu führte, daß die Theorie über das Recht der Untertanen zum Tyrannenmord als »häretisch, schimpflich und aufrührerisch«, folglich also »religiös und moralisch irrig« sigmatisiert wurde.62 Es sei indes angemerkt: Am Ende mündete dieser Prozeß im Absolutismus, der in der Gestalt Ludwigs XIV. seinen prägnantesten Ausdruck erhielt. Die Macht des Königs war nunmehr »unbegrenzt«, unter anderem deshalb,