Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


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Revolution konstituierenden psychischen Grundlage. Es scheint daher angebracht, die in unserer These zur Anwendung kommenden Grundrisse der Lehre in Kürze darzulegen.

      Auf der Basis der Darwinschen Theorie der »Urhorde« geht Freud von der Annahme einer prähistorischen Existenz solch einer Horde aus, in der ein »gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt«, herrscht. Er postuliert: »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.« Er fügt noch betonend hinzu: »Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich geblieben wäre.«27 Dieses »Ereignis« nun gebraucht Freud als Grundhypothese, von der sich sowohl seine phylogenetische Kulturtheorie der Menschheit als auch seine ontogenetische Persönlichkeitslehre ableiten.28 Beide Sphären sind nicht auseinanderzuhalten, denn laut Freud »handelt es sich hier nicht um ein einmaliges Ereignis. Es wiederholt sich im Verlauf der Geschichte der Menschheit und der Geschichte jedes Einzelnen immer wieder.«29 Wir verfolgen zunächst die phylogenetische These, welche da besagt, der Urmord habe seinen Ursprung in den ambivalenten Gefühlen der Brüder dem Vater gegenüber gehabt: Sie haßten den Vater, weil sie durch sein Monopol zum Verzicht auf Macht und Lust gezwungen wurden, aber natürlicherweise liebten und verehrten sie ihn auch, eben als ihren biologischen Vater. Daher kam in ihnen, nach seiner Beseitigung und nachdem sie ihre Haßgefühle befriedigt hatten, eine Empfindung der Reue und ein Gefühl der Schuld auf. Dieses Gefühl ist es nun, das die Grundlage für alle folgenden Entwicklungen bildet. Der Einfluß des toten Vaters wurde gar größer als der des lebendigen; die Sehnsucht nach ihm brachte den Vaterersatz in der Gestalt des Totemtieres hervor, und nachdem er so wieder auferstanden war, schufen die Brüder »aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes« zwei Tabus, mit denen sie ihr Verbrechen sühnten: Das Tabu, das Totemtier zu töten, einerseits und das Tabu, sich mit den nun freigewordenen Weibchen der Horde zu paaren, andererseits. Im zweiten Verbot sieht Freud den Ursprung des sogenannten Inzest-Tabus. Wichtiger für unsere Darlegung ist jedoch die dem ersten Tabu beigemessene Bedeutung, wonach im Totemismus der erste Versuch vorliege, eine Religion zu schaffen:

      »Die Totemreligion war aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgegangen als Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen Gehorsam zu versöhnen. Alle späteren Religionen erweisen sich als Lösungsversuche desselben Problems, variabel je nach dem kulturellen Zustand, in dem sie unternommen werden, und nach den Wegen, die sie einschlagen, aber es sind alle gleichzielende Reaktionen auf dieselbe große Begebenheit, mit der die Kultur begonnen hat und die seitdem die Menschheit nicht zur Ruhe kommen läßt.«30

      Freud beruft sich hierbei auf Beschreibungen von Totemriten primitiver Stämme in zeitgenössischen anthropologischen Veröffentlichungen. Von besonderer Bedeutung erscheint ihm der Kult der Totemmahlzeit, in dem das Totemtier als Opfer geschlachtet und gemeinsam verzehrt wird. Die kollektive Aktion sei es, welche die Tabuübertretung einer Tötung des heiligen Totemtieres ermögliche, ihre Rechtfertigung müsse darin gesehen werden, daß »nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt werden kann, welches dieTeilnehmer untereinander und mit ihrem Gotte einigt.«31 Die Sitte gebietet eine der Opferhandlung unmittelbar folgende Trauerreaktion der Teilnehmer; der ganze Stamm beweint das Opfer, um sich so der Schuld der durch den Tötungsakt vollzogenen Tabuübertretung zu entledigen. Bald danach jedoch bricht der Stamm in eine ekstatische, alle Triebe entfesselnde Freude aus, mit der das Vergehen gefeiert wird. In dieser Weise wird mit der Opferung des Totemtieres der Vatermord rituell wiederholt und die mit ihm einhergehenden Ambivalenzgefühle zeremoniell formalisiert.

      Diese primitive Form der Religion, die (wie gesagt) als kulturelle Reproduktion der prähistorischen Begebenheit begriffen wird, bildet für Freud die Ausgangsbasis einer Weiterverfolgung der historischen Evolution der religiösen Institution bis hin zu ihrer entwickeltsten Form, der monotheistischen Religion.32 Jeder Entwicklungsphase liegt jenes Urmuster in verschiedenen Varianten zugrunde, in jeder wird die »Vatersehnsucht« deutlich, so daß die Schlußfolgerung unumgänglich scheint, »daß Gott im Grunde nichts anderes ist als ein erhöhter Vater.«33 Im entscheidenden Moment, als sich das Christentum von diesem Urmuster loszulösen versucht, reproduziert es paradoxerweise die verbrecherische Tat: Jesus opfert sein Leben, um seine Brüder von der Erbsünde zu befreien. Mit diesem Akt wird dem Vater vermeintlich die höchste Sühne geboten.

      »Aber nun fordert das psychologische Verhängnis der Ambivalenz seine Rechte. Mit der gleichen Tat, welche dem Vater die größtmögliche Sühne bietet, erreicht auch der Sohn das Ziel seiner Wünsche gegen den Vater. Er wird selbst zum Gott neben, eigetlich an Stelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. Zum Zeichen dieser Ersetzung wird die alte Totemmahlzeit als Kommunion wiederbelebt, in welcher nun die Brüderschar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters, genießt, sich durch diesen Genuß heiligt und mit ihm identifiziert. […] Die christliche Kommunion ist aber im Grunde eine neuerliche Beseitigung des Vaters, eine Wiederholung der zu sühnenden Tat.«34

      Diese »anthropologische«35 Theorie beschränkt sich nicht auf die historische Rekonstruktion einer hypothetischen Entwicklung der religösen Institution. Dasselbe Gefühl der Ambivalenz, aus dem das Schuldbewußtsein hervorgeht, erweist sich auch als relevant für die Erklärung kollektiver Gefühle von Untergebenen in allen von der Zivilisation hervorgebrachten hierarchischen Situationen, Situationen der »institutionalisierten sozialen und politischen Herrschaft«, wie sie Herbert Marcuse nennt.36 In dieser Hinsicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den kollektiven Psychologien der in Kirche und Heer organisierten »künstlichen Massen«.37 Am deutlichsten drückt sich dies aber in der Beziehung der Untertanen zum König aus, wobei die Tabus eine wiederum tragende Rolle spielen.

      Zwei sich ergänzende Grundsätze bestimmen das Verhalten »primitiver Völker« ihren Häuptlingen, Königen und Priestern gegenüber: »Man muß sich vor ihnen hüten, und man muß sie behüten. Beides geschieht vermittels einer Unzahl von Tabuvorschriften.«38 So kann z.B. die Berührung mit dem König einerseits eine gefährliche, ja tödliche, andererseits aber eine beschützende und sogar heilende Bedeutung haben. Solche Vorstellungen und die Notwendigkeit, den König vor den ihn bedrohenden Gefahren zu beschützen, haben eine zunehmende Isolation des Herrschers gezeitigt, und je sakraler die ihm beigemessenen Eigenschaften waren, desto strenger wurden die Isolationsbräuche gehandhabt. So wurden alle Körperteile des Mikados von Japan als dermaßen heilig aufgefaßt, daß man es verhinderte, sie der frischen Luft und den Sonnenstrahlen auszusetzen; es war verboten, sein Kopfhaar, seinen Bart und seine Fingernägel zu schneiden. Ein Nachhall dieses Tabus läßt sich noch in der Beziehung der Römer zum Flamen Dialis, dem Hohepriester Jupiters, finden; nur ein freier Mann durfte sein Haar schneiden, und die geschnittenen Haare sowie seine Nägelabfälle mußten unter einem glückbringenden Baum vergraben werden. Freud erkennt auch in diesem Zusammenhang das gespaltene Verhältnis zum physischen Kontakt mit dem Herrscher: Die vom König ausgehende und in guter Absicht initiierte Körperberührung gilt als schützend und heilend, wohingegen die vom gemeinen Mann am König oder Königlichen verübte Berührung als gefährlich angesehen wird,«wahrscheinlich weil sie an aggressive Tendenzen mahnen kann«. Hieraus ergibt sich die Schlußfolgerung, »daß der Verehrung, ja Vergötterung [der Herrscher] im Unbewußten eine intensive feindselige Strömung entgegensteht, daß also hier […] die Situation der ambivalenten Gefühlseinstellung verwirklicht ist.«39

      Es läßt sich behaupten, daß Freuds Lehre von der Kollektivpsychologie in der Konzeption einer sich zwischen zwei konträr entgegengesetzten Polen bewegenden Gefühlsregung fußt. Der Kampf um die Beilegung dieses Widerspruchs ist es, der die Entwicklung psychischer Mechanismen hervorbringt, in denen die Entstehung zivilisatorischer Institutionen wurzelt, die aber ihrerseits auch wieder ein beredtes Zeugnis von der Fortwirkung der dialektischen Dynamik zwischen den beiden Polen abgeben. In einem solchen umfassenden Sinne gibt es denn auch keinen eigentlichen kollektiv-psychischen Unterschied zwischen den archetypischen Gestalten des Vaters, des Königs und des Gottes. Dieses gesamte theoretische Gebilde würde jedoch ein, wenn auch brillanter, intellektueller Jongleurakt geblieben sein, wäre es nicht mit der ontogenetischen Lehre Freuds verknüpft. Im Grunde bildete sie den Ausgangspunkt für das bisher