Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


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eine lang anhaltende Revolution glauben, an einen Elan der Zukunft, der seine Kraft aus der Vergangenheit schöpft – ein Grundsatz […], der die Oberhand gewinnen muß, weil in ihm der wahre Sinn der Geschichte verkörpert sei.«137 Es läßt sich natürlich behaupten, daß die Überzeugungen der russischen Revolutionäre für die retrospektiven Betrachtungen des heutigen Berufshistorikers irrelevant seien, daß sie ohnehin lediglich ein weiteres Beispiel für die wirklichkeitsfernen Illusionen historischer Akteure abgeben.

      Ein solcher Einwand erfordert die Erörterung einer grundsätzlichen Frage: Inwiefern ist der dem historischen Ereignis durch den Historiker beigelegte Sinn der dem Ereignis von den historischen Akteuren zugeschriebenen Bedeutung als überlegen zu erachten? Die Antwort hierauf liegt vermeintlich auf der Hand; der Historiker zeichnet sich durch ein höheres Bewußtsein aus, weil er das empirische Kriterium für die nachfolgenden Abläufe besitzt, er entzieht sich gewissermaßen der den historischen Akteur unweigerlich umhüllenden Kontingenz.138 Es sei hierbei zunächst dahingestellt, inwieweit gerade ein aposteriori-Wissen das Bewußtsein solcherart entstellend zu befrachten vermag, daß eine adäquate Erfassung des historischen Ereignisses nahezu unmöglich wird; wir ziehen es vor, die der Argumentation Furets immanente Logik weiter zu verfolgen: Furet kennt die Entwicklungen in der Sowjetunion seit 1917 und postuliert daher die Notwendigkeit einer Wertungsrevision. Somit wird dem Gulag und dem sowjetischen Totalitarismus die Funktion eines Kriteriums beigemessen, mit dessen Hilfe der revidierten Auffassung der russischen Revolution selber Gültigkeit verschafft wird. Eine solche mechanistische Denkweise ist in der unausgesprochenen Annahme einer Zusammengehörigkeit von Revolution und Gulag verankert, und da nach Furets Auffassung schon der Terror in der Französischen Revolution eine »Entgleisung« (derapage) von der ihr ursprünglich vorgezeichneten Bahn darstellte, verknüpft er selber (assoziativ) den Terror der ersten mit dem der zweiten Revolution, um die von den marxistischen Historikern hergestellte Verbindung zwischen den Revolutionen anzugreifen. Der wesentliche Unterschied ist halt der, zwischen welchen Elementen der Revolution man einen Konnex sucht – und eben darin sehen wir das zweite Versäumnis in Furets Argumentation. Es fragt sich nämlich, ob er seine Ablehnung einer »finalistischen« Verbindung zwischen beiden Revolutionen in gleicher Weise begründet haben würde, wenn sich das sowjetische Regime nach der bolschewistischen Revolution nicht zu dem entwickelt hätte, als was es uns heute erscheint. Wenn wir von einer Verneinung dieser hypothetischen Frage ausgehen, so läßt sich behaupten, daß der sowjetische Totalitarismus höchstens ein historisches Veto ad hoc hinsichtlich der Verwirklichung der Revolutionsziele in diesem (und nur in diesem) Land darstelle, nicht aber eine prinzipielle Widerlegung der Idee der Revolution und der ihr zugrunde liegenden emanzipatorischen Verheißung. Geht man hingegen von der Grundannahme aus, daß die bolschewistische Revolution die nachfolgenden historischen Entwicklungen zeitigen mußte, so manifestiert sich darin eine »finalistische« Argumentation, von der Art, gegen die sich Furet wendet. Wenn man aber eine jegliche Verbindung zwischen den Revolutionen in Absprache stellt, also auch diejenige zwischen ihren positiven (d.h. ihrem Wesen nach emanzipatorischen) Aspekten, so läßt sich die Frage nicht übergehen, welche nun die gültigen Variablen zur Determinierung solcher Verknüpfungen im Rahmen der Geschichte menschlicher Kollektive seien. Warum weist die Variable »Franzosen« oder »Frankreich« eine größere Validität auf, als beispielsweise »Revolutionäre« oder »Revolution«? Anders ausgedrückt: Wenn es akzeptabel erscheint, daß die Französische Revolution in der politischen Tradition des alten Frankreich und seiner politischen Archetypen verankert sei, wie es Tocqueville und in seiner Folge Furet postulieren, so gibt es wohl keinen Grund, die Behauptung zurückzuweisen, die russische Revolution fuße auf der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend verdichtendenden revolutionären Tradition von 1789 bzw. 1793 – und sei es, weil es die russischen Revolutionäre selber so empfanden.

      Das diese Revolutionen verbindende Element ist »Freiheit als intentionales Handeln in emanzipatorischer Absicht«139. Dies ist auch die Bedeutung des Sorelschen Begriffs vom »sozialen Mythos«, welcher »den Menschen zum Handeln bringen« will140, und in diesem Sinne akzeptiert ihn sogar ein akribischer Forscher vom Schlage Lefebvres; der Mythos bezieht sich auf die Zukunft unter Berufung auf revolutionäre Tathandlungen der Vergangenheit: »[…] die Einberufung der Generalstände war eine ›frohe Botschaft‹: sie versprach die Geburt einer neuen Gesellschaft, in der Gerechtigkeit herrschen und das Leben besser sein würde. Im Jahre II beseelte derselbe Mythos die Sansculotten; in unserer Tradition lebt er weiter und wie 1789 und 1793 ist er revolutionär.«141 Die Verwirklichung des Mythosgehaltes, welcher die Menschen zur revolutionären Tat antreibt, kann – nach dieser Auffassung – nicht als Kriterium für den Geltungsanspruch dieser Tat oder für die Wahrhaftigkeit der ihr zugrunde liegenden Motivationen aufgefaßt werden. Das revolutionäre Kollektiv stellt die Authentik seines emanzipatorischen Bestrebens nicht zur Diskussion und schert sich selten um die potentielle historiographische Rezeption seines Tuns.

      So wird denn der Historiker der Revolution zu einer Art »Voyeur«. Für gewöhnlich nimmt er keinen Anteil an der Revolution; er kann sich mit dem revolutionären Akt identifizieren oder ihn ablehnen – so oder so wird für ihn die Revolution zur Matrix, die sich ihm durch die sie zusammensetzenden motivischen Kodes vermittelt. Die von diesen Kodes ausgehenden Stimulationen bewirken den »Kontakt« des Historikers mit der Revolution auf der Basis seiner Weltanschauung, seiner politisch-ideologischen Glaubenssätze und der seiner psychischen Regungen; er gestaltet also den (historiographischen) »Charakter« der Revolution, wobei er auf sie seine Anschauungen, Bekenntnisse, seine Ängste und Hoffnungen projiziert. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es zwischen Michelet, der sich »alljährlich« an den »allmächtigen Deuter« seiner Lehre, »den Geist der Revolution«142, wendet, und Cobban, der daran geht, die von ihm so benannten historiographischen Mythen der Französischen Revolution zu zerstören143, keinen eigentlichen Unterschied.

      Diese an sich für jede Geschichtsschreibung gültige Behauptung gewinnt im Zusammenhang mit der Französischen Revolution an besonderer Prägnanz; zwei Gründe seien hierfür angeführt. Erstens: Wir befinden uns mittlerweile in der fünften oder sechsten Generation der Revolutionshistoriographierung. Die Revolution selbst wird nur noch selten als historisches Ereignis, sondern gemeinhin als Problemstellung der Historiographie gehandhabt; wir begegnen fast keiner eigentlichen »Geschichte der Französischen Revolution« mehr, sondern eher historiographischen Diskursen über die Geschichtsschreibung dieser »Geschichte«. Und dennoch – so behaupten wir – haben sich die Hauptkodes der Matrix, hat sich die ursprüngliche Kode-Matrix der Französischen Revolution, auch in ihrer fünften oder sechsten Ableitung, nicht wesentlich geändert. Es ist frappant, wie »gegenwärtig« die Französische Revolution noch immer ist.

      Zweitens: Es läßt sich schwerlich ein historisches Ereignis aufzeigen, das in einem relativ kurzen Zeitraum eine solche Fülle widerspruchsvoller Motive aufweist, wie das französische Geschehen zwischen den Jahren 1789 und 1799. Der diese Zeitspanne behandelnde Historiker trifft auf extrem unterschiedliche Staatsformen, auf fortwährenden Wechsel der Dominanz verschiedener sozialer Schichten und auf historische Auftritte von bis dahin anonymen gesellschaftlichen Gruppen, er begegnet einer intensiven Konzentration organisierten Tötens neben Erscheinungen schier unbezähmbaren Freiheitshungers, und er verfolgt erstaunliche strukturelle und mentale Veränderungen, vehement geführte politische und soziale Kämpfe, sowie eine Ansammlung überaus bemerkenswerter Führungsgestalten. Die Matrix des Historikers der Französischen Revolution ist besonders reichhaltig und mannigfaltig angefüllt, und jeder dieser motivischen Kodes kann sowohl als Grundlage einer polemisch-ideologischen Kontroverse herangezogen als auch als Rohmaterial für die Gestaltung nahezu atavistischer Symbole gebraucht werden – wie sich der von Martin Göhring gelieferten Darstellung der Ermordung Marats entnehmen läßt: Charlotte Corday erreicht das Zimmer Marats.

      »Alles ist von erschreckender Einfachheit, alles starrt vor Schmutz, die Luft des Raumes ist unerträglich; ein Gefühl des Ekels überkommt die Besucherin. Sie steht vor Marat, sieht seinen entblößten, abgemagerten, von Schwären zerfressenen Oberkörper, sieht seine Züge, die Leidenschaften, Haß und Krankheiten verwüstet haben; sie sieht einen bereits vom Tode gezeichneten Menschen. Kaum jemals trafen größere Gegensätze aufeinander: hier die verkörperte Reinheit und Schönheit, die blonde Tochter des Nordens, dort die Verworfenheit