Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


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Kodes erscheinen mag, in ihrer Bedeutung als psychologischem Faktor sind jedoch die Prädispositionen ihres Bestehens und ihrer Wirkung als vorgegeben anzusehen. Wir begreifen sie demnach als integralen, sozusagen »gleichwertigen« Bestandteil der Kode-Matrix der Französischen Revolution.

      Die entscheidende Bedeutung der Hinrichtung des Königs findet ihren historiographischen Ausdruck sowohl in der Rezeption ihrer unmittelbaren Ergebnisse als auch in der ihrer langfristigen Auswirkungen. »Ein König, der auf so gewaltsame Weise stirbt, wirkt, wie es nicht anders sein kann, mächtig auf die Einbildung ein. Und doch ist es im Grunde nicht der König, der stirbt, sondern der Mensch!«13 sagt Carlyle im Jahre 1837. Demgegenüber meint Pierre Gascar: »Den König töten: Das ist für die meisten Franzosen dieser Zeit weit schlimmer als der Mord an einem Menschen. Es bedeutet, das Bild zu zerstören, das sich auf den kleinen Geldstücken befindet, die man täglich in der Tasche mit sich herumträgt; es bedeutet, eine Institution zu vernichten, die dem nationalen Leben so integriert ist wie das Gold dem Taler«.14 Eine solche Trennung zwischen dem menschlichen und dem politisch-institutionellen Aspekt scheint indes rein technischer Natur zu sein. Gaxotte z.B. gibt zwar vor, sich auf die »politischen Beweggründe« für den »Leidensweg« des Königs zu konzentrieren, aber er tut dies doch nicht ohne den Leser vorher ausdrücklich wissen zu lassen, daß der Prozeß gegen den König »eine der ergreifendsten Geschichtstragödien« darstelle: »Eines der schönsten und menschlichsten Bücher, die je geschrieben wurden, könnte aus der schlichten Schilderung der Gefangenschaft und der letzten Augenblicke Ludwigs XVI. zusammengestellt werden.«15

      Der »tiefe Eindruck«, den der Tod des Königs hinterließ, entwickelte sich sehr bald zu einem Bürgerkrieg im Innern Frankreichs und führte zur Erklärung eines »Vernichtungskrieges« des übrigen Europas gegen die »Königsmörder«.16 Jedoch, so Mathiez, der Tod des Monarchen »traf das traditionelle und mystische Ansehen des Königtums ins Herz. Mochten die Bourbonen wiederkommen, nie wieder werden sie im Herzen der Völker von der Aureole des Gottesgnadentums umstrahlt sein«17; der Königsgedanke erschien seitdem »fast nur noch als Anhängsel aristokratischer oder klerikaler Strömungen oder als Deckmantel bourgeoiser Klassenbestrebungen«18, wie Griewank bemerkt. Nach Walter Grabs Auffassung kennzeichnet der Tod des Königs den endgültigen Bruch zwischen dem der konstitutionellen Monarchie anhängenden Liberalismus und der nach der Republik strebenden Demokratie; von gesamtfranzösischer Warte aus gesehen, bedeutet er den Riß der »Bande des Landes mit seiner Vergangenheit und mit Europa«, ohne einen Weg zurück.19 Eine solche dramatische Interpretation ist es wohl auch, die Alex Karmel gar folgern läßt, die Revolution habe mit dem Tod des Königs »begonnen«, da mit ihm das Legitimitätsprinzip auf politischer Ebene für immer eingestürzt sei: »Eine tausendjährige Geschichte wurde ignoriert.«20 Historiker, die die Revolution als sozialen Prozeß begreifen, widersprechen gemeinhin dieser Auslegung. Schon Mitte des letzten Jahrhunderts erklärte Lorenz von Stein, nach dem Sturz der Monarchie hätten der Prozeß und die Hinrichtung des Königs keinerlei Einfluß auf den weiteren Verlauf der Revolution gehabt, und Karmel selbst weist darauf hin, daß in der herkömmlichen marxistischen Interpretation der Umwälzung der König kaum erwähnt werde: »Die Monarchie wird lediglich als ein Bestandteil des feudalen Systems und der König als Oberhaupt der Aristokratie angesehen.«21 Karmels Behauptung ist zweifelsohne übertrieben; wie dem aber auch sei, es genügt, an die verärgerte Kritk Kropotkins an den vielen »pathetischen Worten« und »Tränen« der Historiker, wenn sie vom Prozeß des Königs berichteten, zu erinnern, um einzusehen, daß es sich hierbei um ein sowohl für die Revolution als auch für deren historiographische Rezeption höchst bedeutsames Ereignis handelt.22 In dieser Hinsicht bleibt es sich gleich, ob Louis Blanc zur Schlußfolgerung gelangt, die Hinrichtung des Monarchen sei »ein gewaltiger Mißgriff, wenn auch kein unberechtigter« gewesen, denn »das Ziel der Revolutionäre war, die monarchische Idee zu töten, das Schafott aber hat sie erhöht und veredelt«23, oder ob sie Griewank lobt, weil sie »den Schimmer der Unverletzlichkeit, […] der bis dahin das Königtum immernoch für das einfachste Empfinden umgeben hatte«, zum Verschwinden gebracht habe.24 Beide Bezugnahmen enthalten die für unsere These relevanten Elemente: den Kode der Auflehnung gegen die Autorität (die Tötung der monarchischen Idee), den Kode der Gewalt (die Hinrichtung selbst), den Kode der Emanzipation (Liquidierung des Schimmers der Unverletzlichkeit) und den Kode der Ambivalenz, der sich in den Folgen des Ereignisses manifestiert, zumindest nach der Interpretation Louis Blancs.

      Wie schon gesagt, ist aus diesen Kodes das fundamentale Netz der Matrix gewoben, durch welche die Revolution rezipiert und interpretiert wird. Wir vertreten daher die Ansicht, daß die nun folgenden Worte Aulards, gesprochen am 12. März 1886 anläßlich der Einweihungsfeier des Lehrstuhls für die Geschichte der Französischen Revolution an der Sorbonne, eine mehr als nur politische Bedeutung aufweisen. Mit Bezug auf auf die Wichtigkeit des Revolutionsereignisses für das französische Volk erklärt er:

      »Unser ganzer Charakter mit seinen guten und schlechten Eigenschaften ist dabei in Erscheinung getreten, und für den Zurückblickenden erscheint die Französische Revolution wie ein Spiegel, in dem Frankreich sich wiedererkennt, sich seiner selbst bewußt wird, sich seine Gewissensbisse, seine Freuden, seine Befürchtungen und seine Hoffnungen erklärt. Die Revolution kennen heißt für dieses Volk: sich selbst in der Tiefe seiner Instinkte kennen, sich seiner Stärke und seiner Schwäche bewußt werden und entdecken, wessen es in einer Stunde höchsten Lebenskampfes fähig ist.«25

      Gerade die zweiwertige Tendenz in den Worten Aulards und der ihnen anhaftende verallgemeinernde Charakter – dies zu einer Zeit, da die Französische Revolution sozusagen offiziell zum bestimmenden Maßstab für das französische Selbstbild aufgewertet und zum unteilbaren »Block« deklariert wird – lassen die zunächst unzusammenhängend erscheinenden Fragen aufkommen: Welchen Ursprungs ist diese durch die Revolutions-Kodes hervorgerufene Zweideutigkeit? Was ist so sehr revolutionär an der Zerstörung der Gottesgnadentum-Aureole und an der Übertretung des »Unverletzlichkeits«gebots? Was bedeutet der Bürgerkrieg nach der Hinrichtung des Königs? Was steckt hinter der auf das Kollektivsubjekt »Frankreich« bezogenen Zusammenfügung von »Freuden«, »Befürchtungen«, »Gewissensbisse« und »Hoffnungen« in den Worten Aulards, und in welcher Verbindung steht diese Zusammenfügung mit den ebenfalls erwähnten »Instinkten« des besagten Subjekts?

      Es gibt scheinbar einfache Antworten hierauf. Wie wir im komprimierten historiographischen Abriß des ersten Kapitels angedeutet haben, lassen sie sich ohne weiteres in den antagonistischen Klasseninteressen oder in den politisch-ideologischen Kämpfen, welche (den verschiedenen Interpretationsschulen zufolge) den gesamten Revolutionsverlauf kennzeichneten, verankern. Einer verwandten Denkweise gemäß, nimmt es auch kein Wunder, wenn ein blutiges Ereignis, wie es die Französische Revolution nun mal war, die Moral alarmiert und das Gewissen peinigt; andererseits überrascht es nicht, wenn es Freuden und Hoffnungen erweckt – haftete ihm doch eine emanzipatorische Verheißung an. Das Revolutionäre und das Neue am Ereignis ist also in der Auflehnung gegen die historischen Institutionen und im Schlachtruf gegen menschliche Konventionen zu sehen. Alle diese Erklärungen sind richtig und bewahren auch weiterhin ihre Gültigkeit; unserer Ansicht nach erfassen sie jedoch nicht mit erforderlicher Tiefe die Bedeutung der dem Tode des Königs einwohnenden traumatischen Dimension und die aus ihr resultierende Idiosynkrasie in allen Phasen der nunmehr fast 200 Jahre währenden Rezeptionsgeschichte der Revolution. »In seiner Monumentalität« behauptet Hermann Bortfeldt, »war dieser Tod ein Faktor der Beunruhigung für alle. Hundert Zusammenstöße innerhalb und außerhalb des Parlaments zwischen Gironde und Jakobinern, bei denen es immer um mehr Freiheit oder mehr Gleichheit ging, zeigten in ihrer Form, die schärfer und schließlich tödlich wurde, die Sensibilisierung der Nation im Punkte Königsmord, gesehen als Beseitigung eines Phallussymbols oder als Vatermord.«26

      Die Feststellung Bortfeldts ist, unserer Auffassung nach, von gewichtigster Bedeutung; indem er den »Königsmord« einem »Vatermord« gleichsetzt, verleiht er dem historischen Ereignis der Tötung des Königs gewissermaßen einen »ahistorischen« Rang und somit eine für die Klärung des mentalen Aspekts der Hinrichtung Ludwigs XVI. sehr nützliche archetypische Dimension. Seine Analogie lehnt sich an einen der Schlüsselbegriffe der