Moshe Zuckermann

Das Trauma des "Königsmordes"


Скачать книгу

      Es handelt sich hierbei weder um die Schrift eines frustrierten Exil-Aristokraten noch um die eines erbitterten Konservativen aus dem 19. Jahrhundert, sondern um eine Anfang der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts publizierte Darstellung von einem deutschen Liberalen, der im Vorwort zu seinem Buch feststellt, »unsere demokratischen Ideale« fußten in einer Tradition, welche durch »die große Revolution, die Frankreich erfaßte und umwandelte«, bestimmt worden sei.145 Gleichwohl hievt die dramatische Szene der Ermordung Marats Göhring in eine Assoziationssphäre, aus der sowohl ein verdichtetes ideologisches Paradigma eines der Höhepunkte der Revolutionskämpfe als auch ein eklektisches Konglomerat von Aussagen, welche augenscheinlich wenig mit dem eigentlichen historischen Ereignis zu tun haben, erwächst:

      Marat (»Volksfreund«, wie er von seinen Anhängern genannt wird, und Vertreter der unteren sozialen Schichten) wird als ein häßlicher, sich in Schmutz wälzender, in seinem Körper von Krankheit, in seiner Seele von Haß zerfressener Verworfener dargestellt. Corday, Vertreterin des reichen und gebildeten Bürgertums, ist nichts als Schönheit und Reinheit. Solche Gegensätze müssen den Kampf auf Leben und Tod auslösen; stellt sich doch hier das »Göttliche« unentrinnbar dem »Dämonischen« entgegen, gleichsam wie in Miltons »Verlorenem Paradies« die himmlischen Scharen Satans Truppen entgegentreten müssen. Konkret: Wir sind Zeugen einer symbolisierten Konfrontation zwischen den sansculottischen Massen der Jakobiner und der girondistischen Bourgeoisie. In dieser Weise wird die Botschaft übermittelt, daß Marat, jakobinische Personifikation einer Herrschaft der »Masse«, vernichtet werden müsse, wenn das »Gute« siegreich aus dem Konflikt hervorgehen soll. Dies ist (laut Göhring) auch der Grund dafür, daß sich viele Franzosen mit Charlotte Corday identifizierten, und daß ihnen die Mordtat neue Hoffnung einflößte: »So gewannen sie das Vertrauen in die guten Kräfte zurück, und die Tat Charlotte Cordays wirkte bei ihnen versöhnend.«146

      Die Angst des Bürgertums vor der Masse, die sich in Göhrings Beschreibung als Angst vor Marat, dem »Motor der Revolution«147, darstellt, drückt sich auch in der Dialektik der Symbiose beider Gestalten aus: Göhring neutralisiert die im Motiv »der Schönen und des Tieres« enthaltene latente Sexualität, indem er Marats Leidenschaften als zerstörerisch begreift und seine Häßlichkeit an seine Verworfenheit heftet; so erhalten Sensualität und Affekte negative Vorzeichen, und als Charakteristika der Masse werden sie gar in den Stand von Feinden des gesitteten Bürgertums erhoben. In Wahrheit sind diese Gegner aber untrennbar aneinander gekettet: Beide sind Republikaner, Produkte der bürgerlichen Gesellschaft mit gleichen »geistigen Vätern«; hatte doch schon Engels festgestellt: »Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehen ohne Lohnarbeiter […]«148. In der von Horkheimer und Adorno durchgeführten Odysseus-Parabel entfaltet sich dann das Symbiose-Motiv in der umfassenden Tragweite einer geschichtsträchtigen allegorischen Verdichtung:

      Odysseus hat die Prüfungen Kirkes, der Gottheit, in deren Macht es liegt, den Menschen in ein Tier rückzuverwandeln, bestanden. Dafür hat sie ihm Kraft eingegeben, damit er anderen Mächten der Auflösung standhalte. Die Lockung der Sirenen bleibt jedoch übermächtig; niemand kann ihrem Gesang widerstehen. »Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war.« Odysseus kennt nur zwei Wege, um der Zwangssituation zu entrinnen. Den einen trägt er seinen Männern auf: Er verstopft ihre Ohren mit Wachs, und sie müssen nach Leibeskräften rudern. »Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt.« Die Arbeitenden müssen konzentriert nach vorne blicken, ohne das auf der Seite Liegende zu beachten. »DenTrieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren.« Den anderen Weg wählt der die Gefährten für sich arbeiten lassende Odysseus selber:

      »Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker läßt er sich fesseln […]. Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es ist zu spät, die Gefährten, die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Liedes, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn und sich zu retten. Sie reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten.«149

      Göhring sieht weder die Sansculotten noch eine der anderen radikalen Bewegungen der Revolution als Proletariat an, er weiß jedoch sehr wohl, daß sich mit ihnen eine historische Herausnahme des Wachses aus den Ohren paradigmatisch andeutet. Das Ende der Girondisten betrauert er demgemäß: »Das Ethos des gehobenen Bürgers, der in der Republik die Freiheit zu begründen hoffte, hat keinen Künder mehr; es ist in der Seele getroffen.«150 Dieser Umstand scheint dermaßen bedrohlich zu sein, daß er selbst im nachhinein das Wesen der Begegnung zwischen Marat und Corday durch nichts anderes zu erfassen vermag als durch eine quasi-rassistische Polarisation (»blonde Tochter des Nordens« der »zerfressenen Hülle des Südländers« gegenübergestellt) bzw. durch einen pseudo-religiösen Manichäismus (»das Göttliche« gegenüber »dem Dämonischen«).

      Es sei indes wiederum angemerkt: Weder um Göhring noch um einen anderen der erwähnten Historiker persönlich geht es in der vorliegenden Untersuchung. Sie alle gelten uns lediglich als Vermittler historiographischer Botschaften, als Vertreter ideologischer Positionen. Als solche genießen sie jedoch keine Exklusivität, denn wenn schon »die Eule der Minerva […] erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginnt151, so erwachen Kleos Bären für gewöhnlich erst nach einem ausgiebigen Winterschlaf: Gerade im Fall der Französischen Revolution – jenes offenbar noch keineswegs abgehakten historischen Ereignisses – ist die Beteiligung des Historikers an der Gestaltung des kollektiven Gedächtnisses beschränkten Maßes. Ist er doch selbst (geschweige denn sein Lesepublikum) weitgehend von den positiven wie negativen, oft durch außerwissenschaftliche Kulturinstitutionen vermittelten Mythen der Revolution in seinen Anschauungen »geformt«, in seiner Rezeptionsausrichtung gewissermaßen vorgeprägt. Nicht von ungefähr behauptet Peter Stadler, es sei die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, »daß Werke wie Victor Hugos ›Notre Dame de Paris‹ oder Meyerbeers ›Hugenotten‹ (wie auch viele historische Prunkgemälde) die Vergangenheitsvorstellungen eines breiteren Publikums weit nachhaltiger gefärbt haben, als manches repräsentative Geschichtswerk.«152 Eine von G.P. Gooch überlieferte Anekdote kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten: Er berichtet vom außergewöhnlichen Erfolg der Revolutionsgeschichte Lamartines bei dessen zeitgenössischen Lesern. Der französische Dichter, angesichts einer solchen Räsonanz selber verwundert, wandte sich an Dumas mit der Frage, was wohl der Grund für diesen Erfolg des Werkes sei. »Weil Sie Geschichte auf die Ebene des Romans gehoben haben«, soll dieser geantwortet haben.153

      Mehr noch: Man kann bezweifeln, ob zu viele Franzosen wußten, was sich im Jahre 1789 tatsächlich auf der Bastille zugetragen hatte, als im Jahre 1881 der 14. Juli zum Nationalfeiertag und die Marseillaise zur Nationalhymne erklärt wurden. »Die differenzierende Erklärung des Revolutionsgeschehens wurde zwar den Fachleuten und Historikern überlassen,« meint Diwald, »aber der Revolution selbst wurde durch die Republikaner ein für allemal der höchste Stellenwert in Frankreichs Selbstverständnis verliehen.«154 Das sogenannte »breite Publikum« scheint da also im Besitze einer eigenen Revolutionsmatrix gewesen zu sein. So ist denn der Historiker, soweit er sich nicht im esoterischen Diskurs mit seinen Kollegen einschließt, vor allem Indikator, wenn man will: Symptom des Rezeptionsprozesses. Denn die stürmische historiographische Kontroverse über die Interpretation der Revolution repräsentiert die anhaltende Debatte um das Wesen der Gesellschaft und die in ihr wirkenden Antagonismen. So besehen ist Eberhard Schmitts Wunsch nach einer »abschließenden Geschichte der Französischen Revolution155 illusionär. Die Französische Revolution ist noch immer nicht beendet.

      2. KAPITEL

      Die Französische Revolution im Spiegel der Kode-Matrix

      Der im vorigen