Martin Flesch

Stumme Schreie


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Die Separatisten haben sich in Teilen der beiden Oblaste in den nicht anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk konstituiert7.

      Nach den Angaben der United Nations Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) gab es seit Beginn des Konfliktes von Mitte April 2014 bis zum 15.11.2015 im Konfliktgebiet der Ostukraine mindestens 29.830 zivile und militärische Opfer (9098 Tote und 20.732 Verletzte).

      Von diesen Entwicklungen ahnen Alik und Nure zu diesem Zeitpunkt noch wenig, wohl aber von der ihnen im Frühjahr 2014 zuteil werdenden Bedrohung – sie verändert von jetzt auf gleich ihren gesamten Lebensentwurf.

      An einem Dienstagmorgen befindet sich Alik in seinem Haus, kurz vor Aufnahme seines Arbeitsweges zur Schreinerei, als er auf der zum Anwesen führenden Straße Schüsse vernimmt, kurz darauf auch Einschläge an der Front des Hauses. Als er, noch eben geistesgegenwärtig, auf die Straße späht, sieht er fünf vermummte und bewaffnete Männer auf die Haustür zukommen. Auf Kommando öffnet er, die Männer geben ihre Identität nicht preis, fordern ihn jedoch auf, mit ihnen zu kommen und sich militärisch zu engagieren. Er verweist auf seine Untauglichkeit, gibt an, keinerlei militärische Grundausbildung erfahren zu haben. Das sei unerheblich, teilt man ihm mit, die Ukraine benötige Männer, die für die neuen Republiken kämpften. Angstbesetzt kann er kaum reden, die Stille wird unaushaltbar. Die Bewaffneten verlassen das Grundstück.

      Nure, die zu diesem Zeitpunkt nicht im Hause weilt, berichtet er zunächst nichts von dem Vorfall, will sie von Belastungen und weiteren Ängsten fernhalten. Fortan leidet Alik unter erheblichen Ein- und Durchschlafstörungen, erleidet Zitteranfälle der Arme und Hände, Schweißausbrüche und Angstattacken, fürchtet erneut um sein Leben.

      Zwei Tage später wiederholt sich die annähernd gleiche Prozedur, die Vermummten kündigen an, ab jetzt regelmäßig erscheinen zu wollen. Beim zweiten Mal tragen die Männer Uniformen, die er nicht kennt und nicht identifizieren kann. Nunmehr weiht Alik Nure in die Vorgänge ein. Das Paar verbringt Tage und Nächte der Angst, Alik will und kann seine Arbeitsstelle nicht verlieren. Nure ist wieder schwanger.

      Das Szenario wird bedrohlicher. Alik teilt den in regelmäßigen Abständen vorsprechenden Soldaten mit, dass er als Jeside nicht kämpfen wird. Daraufhin wird er das erste Mal geschlagen. Weitere Schläge werden folgen. Nachdem die Männer einmal seine Frau unsanft zur Seite stoßen und ihren schwangeren Zustand missachten, dann auch das Kleinkind Timur bedrohen, fällt die folgenschwere Entscheidung.

      Da sich die Hoffnung auf ein Ende der Bedrängnis nicht erfüllt, beschließen beide im Mai 2014 ihre Ausreise. Innerhalb der Ukraine wollen sie nicht bleiben. Sie kennen die Berichte ihrer Verwandten, dass Jesiden auch in anderen Teilen der Ukraine benachteiligt würden, von Ausgrenzung und Abwertungen, von Arbeitslosigkeit und Inakzeptanz bedroht.

      Noch im Mai 2014 begeben sie sich in die Hauptstadt der Ukraine und finanzieren sich mit dem letzten zurückgelegten Ersparten und einem von der Familie von Alik genährten Geldbetrag den Flug nach Deutschland.

      Nach ihrer Ankunft in Deutschland werden sie der Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen. Erstmals leben sie auf engem Raum mit Angehörigen zahlreicher Nationen. Die Räumlichkeiten sind beengend, Konflikte sind vorprogrammiert, alles scheint zu zerfließen, die Hoffnung, das Leben, die Zukunft. Alik verliert die Kontrolle, den Boden unter den Füßen, wird von Angstattacken überrollt. Erste medizinische Hilfe muss in Anspruch genommen werden.

      Schließlich werden sie umverteilt, in eine Gemeinschaftsunterkunft mit weiteren 600 Asylsuchenden, es gibt Häuser für Männer, Frauen und Familien. Die Familie stellt einen Asylantrag.

      Vorerst am Zielort, erfährt Alik von den Möglichkeiten der ärztlichen Versorgung in der Unterkunft. Er meldet sich zur psychiatrischen Sprechstunde, der Psychiater kommt 14-tägig zu festen Sprechstundenzeiten in die Einrichtung.

      Endlich kann er sich öffnen, kann mit dem Arzt vertrauensvoll reden, über seine Ängste, seine Schlafstörungen, seine Zitteranfälle, seine Gewichtsabnahme, seine sich kontinuierlich entwickelnde Depression. Nure begleitet ihn manchmal zu den Sprechstunden, wenn sie das Kind versorgt weiß.

      Das wöchentliche Gespräch in der Medizinischen Abteilung wird nun für Alik ein lebensspendender Begleiter. Oft wiederholt sich der gleiche Ablauf. Wird er nach seinem psychischen Befinden befragt, kann er die ersten Minuten stets nur angeben:

      „Ich habe solche Angst … bitte, Herr Doktor, ich habe solche Angst … bitte, ich habe solche Angst!“

      Die verordneten Psychopharmaka helfen nur bedingt, auch die zusätzliche Bedarfsmedikation stabilisiert nur annähernd. Entscheidend bleiben die Gespräche, Alik spricht über die Zukunftsängste und die Hoffnungslosigkeit, die Perspektivlosigkeit und immer wieder über die alles zersetzende Angst.

      Die Verhältnisse in der Unterkunft werden unerträglich, die Familie sieht sich auch ethnischen Konfliktszenarien ausgesetzt. Rangeleien und Beschimpfungen treten auf, Alik gerät an die Grenzen seiner Stabilität.

      Auf Empfehlung des behandelnden Psychiaters darf die Familie schließlich im Jahr 2015 – kurz nach der Geburt der Tochter Alicia – die Unterkunft verlassen und im Einverständnis mit der Asylbehörde in eine winzige, vom Helferteam der Gemeinschaftsunterkunft vermittelte Wohnung umziehen. Der erste Schritt in Richtung einer doch noch lebenswerten Zukunft scheint geschafft. Alik wird eine Arbeit als Hilfskraft in einer Schreinerei vermittelt. Die wöchentlichen Gespräche bei dem Psychiater kann er mittlerweile auf 14 Tage entzerren. Dann kommt es zu einer langsamen, jedoch spürbaren Verbesserung des psychischen Zustandes, Angstattacken treten nur noch selten auf. Der behandelnde Psychiater dokumentiert eine deutliche Stabilisierung.

      Im Jahr 2016 setzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge diesem hoffnungsgeprägten Bild ein jähes Ende. Mit Bescheid der Asylbehörde wird der Familie die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, die Anträge auf Asylanerkennung werden abgelehnt, auch der subsidiäre Schutzstatus wird nicht zuerkannt. Alik wird aufgefordert, mit seiner Familie die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen.

      Die Ohnmacht ist zurückgekehrt, der Kampf beginnt erneut – zunächst in der Seele von Alik. Von Angstattacken und Zitteranfällen gepeinigt, verliert er endgültig den Boden unter den Füßen. Die Ängste steigern sich bis zur Unerträglichkeit. Alik kämpft sich durch Alpträume, in der Nacht ist er davon überzeugt, sogleich von Uniformierten abgeholt zu werden, die Fantasien werden grenzenlos. Er schreit, zittert, weint und bekommt Herzrhythmusstörungen. Der behandelnde Psychiater weist ihn schließlich zur stationären Behandlung in eine psychiatrische Klinik ein. Dort wird 14 Tage behandelt, dann medikamentös eingestellt. Nachdem die Ärzte ihm bescheinigen, nicht suizidal und fremdgefährdend zu sein, wird er entlassen. Alik fühlt sich noch wie betäubt. Er kehrt in die Wohnung zurück.

      Mittlerweile hat der von ihm beauftragte Rechtsanwalt Beschwerde gegen den Bescheid der Asylbehörde eingelegt. Der Psychiater erstellt eine gutachterliche Stellungnahme, legt die überdauernde psychische Störung von Alik dar, geht auf die Zusammenhänge seiner Ängste ein, beschreibt den Krankheitsverlauf und spricht sich aus ärztlicher Sicht für ein Abschiebeverbot aus.

      Nun folgt eine mehrmonatige Odyssee, geprägt von einem Leben zwischen den Welten, Unsicherheiten, Hoffnungen, enttäuschten Szenarien und wieder erneuten Hoffnungen. Die psychische Stabilität kehrt nicht zurück.

      Mehrere Bescheide folgen aufeinander, von Verwaltungsgerichten, vom Verwaltungsgerichtshof, von behördlichen Stellen.

      Die Familie gibt nicht auf, der Rechtsanwalt bleibt bemüht, bleibt aktiv. Der behandelnde Psychiater setzt seine ärztlichen Interventionen fort. Die weiteren Monate sind geprägt von schier unaushaltbaren Zuständen der Ungewissheit. Mittlerweile bildet auch Nure eine anhaltende Depression aus, kann zeitweise die Kinder kaum noch versorgen.

      Das Jahr 2019 bleibt ein Jahr der stetigen Auseinandersetzungen mit den Asylbehörden, dem Einreichen ärztlicher Atteste und Gutachten, Gerichtsterminen und dem Kampf gegen die Ängste, die alle zu verschlingen drohen. Selbst die Reisefähigkeit wird Alik von ärztlicher Seite abgesprochen.

      Im Februar 2020 ereilt die