Martin Flesch

Stumme Schreie


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von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen (Emigration, Flucht, Trennungserlebnisse, Verlusterlebnisse) auftreten. Die Symptome sind sehr unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst, Sorge und das Gefühl, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen ein zusätzliches Symptom sein.

      Was uns mit steter Regelmäßigkeit tief beeindruckt, sind der Durchhaltewillen und die Hoffnung der hilfesuchenden Migranten – trotz aller zuvor entwürdigender, unmenschlicher, entwurzelnder und traumatisierender Erlebnisse und Schicksale. Für die meisten Patienten ist Aufgeben keine Alternative. Sehr oft hören wir: „Gegen echte Trauer und Verzweiflung hilft nur Durchhalten und Weitermachen!“

      Zu berücksichtigen bleibt dabei auch der Umstand, dass immer mehr Migranten mit abgelehnten Asylanträgen zu kämpfen haben, oft trotz einer nachgewiesenen und ausführlich gutachterlich dokumentierten schweren psychischen Erkrankung.

      Was macht nun die Resilienz dieser Menschen aus? Hoffnung!

      Hoffnung ist die Quelle für jedes weitere Durchhaltevermögen, im Sinne des Durchtragens sämtlicher Aspekte, an die man glaubt, für die man eingetreten ist, wofür man letztlich verfolgt wurde, sei es der eigene persönliche Glaube, eine persönliche Überzeugung, oder aber der innere und äußere Kampf für eine humanere Gesellschaft.

      Das therapeutische Geheimnis liegt letztlich auch darin, den Patienten zu vermitteln, sich von den negativen Gefühlen und Symptomen nicht auf Dauer beherrschen zu lassen. Die Erinnerungen an die Traumata bleiben oft jahrelang bestehen, nicht wenige fragen sich immer wieder „Warum ich?“, jedoch lassen sich Demütigung, Angst, Entrechtung und ohnmächtige Wut und Zorn mit therapeutischer Hilfe überwinden. Entscheidend ist auch die Sicherung einer empathischen Beziehungsstruktur: Wer die Freude vergeblich sucht, in der Depression oder in der Angst, zieht sich dauerhaft zurück, wer über Beziehungen verfügt, findet auch wieder Quellen der Freude und Hoffnung, oft sehr langsam und kleinschrittig, aber kontinuierlich.

      Viele, die selbst erheblich seelisch verletzt sind, verletzen wiederum andere, auch die eigene Familie, weil sie sich in ihrer Entwurzelung niemandem und nirgendwo mehr zugehörig fühlen können. Hier gilt es, in der Aufbauarbeit nicht nachzulassen, immer wieder begleiten, verstehen, bestärken, Quellen der Freude zu schaffen.

      Entscheidend für das Gelingen der therapeutischen Begleitung, die in vielen Fällen jahrelang andauert, bleibt jedoch die Hoffnung der Betroffenen selbst. Einen derartigen Willen zum Durchhalten, zum Neuanfang und zur Neugründung einer Existenz wie bei unseren Geflüchteten habe ich in den zurückliegenden 25 Jahren meiner ärztlich-psychiatrischen Tätigkeit bei keiner anderen Patientengruppe gefunden.

      Mein psychiatrisches Team sowie die Mitarbeiter der Sektion Mirgrantenmedizin und ich verneigen uns mit Hochachtung sehr tief vor dem (Über-)Lebensmut unserer Patienten, die uns eine tägliche Lebens- und Glaubensschule bleiben werden.

      Bevor es jedoch soweit ist, bevor es soweit sein kann und darf, dass Hoffnung und Resilienz die Oberhand in einem oft jahrelangen Kampf gewinnen, gehen viele Betroffene durch das Tal der Retraumatisierung, durch Situationen, die den traumatisierenden Ursprung wiederbeleben, aktivieren und den oder die Betroffene(n) zurückversetzen. Die Bilder des Traumas werden häufig erneut lebendig, sodann eben nur in anderen Umgebungen, beispielsweise auf der Fluchtroute, in der Gemeinschaftsunterkunft, auf der Asylbehörde oder am Arbeitsplatz.

      Aktivierung der Ressourcen und der Hoffnung auf ein Weiterleben setzt immer voraus, dass Bezugspersonen gefunden wurden, Vertrauen aufgebaut werden konnte, fachspezifische Hilfe angeboten und in Anspruch genommen werden konnte. Der Gipfelbesteigung geht die Durchschreitung des Tals der Tränen voraus.

      Der Weg entsteht unter ihren Füßen …!

       IV.Intermezzo – Perspektivenwechsel

      „Die Entmystifizierung beginnt.

      Du merkst,

       dass Du keine Luft mehr bekommst und sich Deine Augen mit Tränen füllen, während jener Satz in Deinem Gehirn hämmert, (den niemand je öffentlich ausgesprochen hat): „Du bist ein N-icht-s, N-icht-s, N-icht-s …“

       G. Kapllani 5

      Wer die – dem internationalen Journalismus und den einzelnen Presseorganen zu entnehmenden – Informationen und Situationsschilderungen aufmerksam liest, wird feststellen, dass die nationalen und internationalen Berichterstattungen häufig von statistischen Kennwerten und Daten gespeist werden. Dieser Umstand ist zunächst nicht weiter zu beanstanden, benötigen wir doch diese Parameter, um uns über das Ausmaß der jeweiligen Flüchtlingsbewegungen mit ihren Realitäten und Unwägbarkeiten auseinanderzusetzen.

      Natürlich ist es unabdingbar zu wissen, wie viele Menschen in einem Flüchtlingslager leben, um wie viele Personen das Lager bereits überfüllt bewohnt wird, wie viele Millionen sich derzeit im Rahmen der Migrationsbewegungen auf und um den Globus bewegen und wie viele Bewohner eine Gemeinschaftsunterkunft an einem bestimmten Ort hat. Dazu gehören selbstverständlich auch die – eigentlich vermeidbaren – Zahlen der regelmäßig im Mittelmeer und anderen Gewässern Ertrinkenden.

      Dennoch übernimmt im Rahmen solcher Formen der Berichterstattung die – wenn man es so nennen will – Kameraführung eine weit von dem einzelnen Betroffenen entfernte Perspektive, die sich immer weiter davon wegbewegt, je nachdem, ob man der Statistik oder aber dem konkreten Geschehen die entsprechende Gewichtung beizumessen pflegt. Die sogenannte „Vogelperspektive“ beleuchtet – statistisch betrachtet – das ganze Ausmaß der Migrationsprozesse, kann aber, das liegt in der Natur ihres Fokus, damit dem Einzelfall nicht mehr gerecht werden.

      Insofern sei an dieser Stelle dazu eingeladen, den Fokus auf das Schicksal und die Situationsentwicklung ganz konkreter Einzelperspektiven zu lenken. In diesem Moment zeigt sich die Realität, die eigentliche Welt in ihren untrüglichen Dimensionen, verbunden mit zahlreichen Hürden, Problemfeldern und, wiederum bemühen wir diesen Begriff, mit Grenzen, die aus der Sicht des Einzelnen oft undurchdringlich wirken und sich nicht selten auch als unbezwingbar herausstellen.

      Die seelische Substanz, die diese negativ konnotierten Resonanzen in der Regel aufrechterhält, ist die in nahezu jedem Flüchtling grundgelegte Angst auf sämtlichen Erfahrungsebenen. Dieses anhaltende Gefühl, die Kontrolle über die Situation und das Leben verlieren zu können, ist dabei aus der Perspektive der mit den Betroffenen Befassten oft nicht hinreichend zu bemerken bzw. in einem angemessenen Maße zu erspüren.

      Es ist eine Sache, aus der Perspektive einer medizinischen Abteilung zu berichten, die sich breitflächig um die interdisziplinäre ärztliche und pflegerische Versorgung von Migranten kümmert, Untersuchungen vornimmt, Diagnosen stellt, Medikamente verordnet und den weiteren Krankheitsverlauf dokumentiert.

      Eine weitere Erzählperspektive ist die von ehrenamtlichen Helfern, die Zuwendung signalisieren, Kontakte vermitteln, Nähe spenden, Betreuungsangebote organisieren, Sprachvermittlungskurse ermöglichen und einfach Hilfe anbieten.

      Mitunter – weit davon abweichend – steht jedoch der einzelne Betroffene im Fokus ihn umgebender Systeme, behördlicher Strukturen und ehrenamtlich in die Wege geleiteter Hilfs- und Betreuungsangebote.

      Der Migrant selbst, angekommen im Zielland, wird registriert und umverteilt, zugeteilt, aufgeteilt, rationiert, beurteilt und interviewt.

      Registriert und dokumentiert werden die Lebens- und Fluchtgeschichte, sie werden geglaubt oder angezweifelt, hinterfragt oder abgelehnt. Dabei berichten die Betroffenen lediglich ganz konkret, was ihnen auf dem Weg in den Zielstaat widerfuhr, häufig geprägt von Verfolgung, Gewalt, Inhaftierung, lebensbedrohlichen Momenten, Verlusten von Familienangehörigen, Lebensmittelknappheit und weiteren zahlreichen Entbehrungen.

      Nahezu jede und jeder, auf der Flucht