Verletzung ans Licht kommen und Heilung finden.
Zwischen Wahrnehmung und Vorstellung gibt es einen großen Unterschied. Die Vorstellung ist unser eigenes Produkt, wenigstens kann sie ohne Beziehung zur Realität existieren. Sie ist im Kopf und gewissermaßen unabhängig von der Realität. 29
Vorstellungen trennen mich von der Realität und wirken wie eine Trennwand. Sie schieben sich zwischen mich und Gott, zwischen mich und den Mitmenschen und zwischen mich und meinen göttlichen Wesenskern. Was hinter der Trennwand liegt, bleibt im Verborgenen und beeinflusst dennoch meine Handlungen, Gedanken und Gefühle.
Bei einer belanglosen Situation wurde mir bewusst, wie sehr Vorstellungen unseren Blick einengen können und uns daran hindern, zu sehen, was ist. Die Teilnehmenden eines Meditationskurses wurden gebeten, vor ihrer Abreise ihr Zimmer zu putzen und den Teppich zu saugen. Eine Frau kam und sagte, dass sie dies gerne machen würde, doch in ihrem Zimmer sei keine Steckdose. Sie habe überall gesucht, sogar hinter dem schweren Kleiderschrank, den sie verrückt hatte. Doch nirgends sei eine Steckdose zu finden gewesen. Die Frau hatte recht. Überall, wo sie gesucht hatte, war tatsächlich keine Steckdose. Sie wohnte in einem modernen Apartment. Dort waren alle Steckdosen im unteren Bereich der Wand angebracht. Doch der Meditationskurs fand in einem alten Kloster statt. Hier befand sich die Steckdose auf Augenhöhe neben dem Türpfosten. Obwohl sie jeden Tag mehrmals an ihr vorbeiging, hatte sie die Steckdose nicht gesehen. Sie hatte sie dort auch nicht gesucht, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass man an dieser Stelle eine Steckdose anbringen kann.
Manche Vorstellungen, die man als Kind entwickelt hat, können bis ins Erwachsenenalter Realitäten hartnäckig verdecken. Eine Frau erzählte mir, dass sie schon als Kind gelernt hatte, alleine zurechtzukommen, wenn es ihr nicht gut ging. Ihr Vater, der sehr liebevoll zu ihr war, musste immer wieder auswärts arbeiten und war deshalb zeitweise zuhause abwesend. Sie entwickelte die Vorstellung, dass ihr Vater immer dann von zuhause wegging, wenn sie Kummer hatte. Diese Vorstellung übertrug sie unbewusst auf ihre Beziehung zu Gott. In den schwierigen Momenten ihres Lebens war Gott für sie ebenso abwesend wie ihr Vater. Sobald sie in der Meditation einen Schmerz spürte oder sich Ängste zeigten, spannte sie ihren Körper an und presste ihre Hände zusammen. Ihre Betroffenheit war groß, als ihr bewusst wurde, dass Gott für sie in diesen schwierigen Momenten so weit weg war, dass es ihr nicht einmal einfiel, ihn um Beistand zu bitten. Ihre Gedanken und Gefühle waren von der Vorstellung bestimmt: „Wenn es mir nicht gut geht, dann ist niemand da, und ich muss alleine schauen, wie ich zurechtkomme.“
Vorstellungen in Bezug auf die Meditation beeinflussen ebenso unser Befinden. Sie können uns unter Druck setzen, frustrieren und deprimieren. Häufig verstecken sich diese Vorstellungen hinter Wenn-dann-Sätzen. „Wenn ich mich nur richtig anstrenge, dann wird die Meditation gut.“ „Wenn ich anders wäre, würde Gott mich lieben.“ „Wenn ich lange genug meditiert habe, dann werden die Gedanken weniger werden.“ „Wenn ich unruhig bin, dann macht es keinen Sinn, dass ich meditiere.“
Vorstellungen wirken auf uns jedoch nicht nur negativ und blockierend. Sie können auch eine lebensbejahende Kraft in uns wecken. Ein herausragendes Beispiel ist das Lebenszeugnis von Viktor Frankl, der vier Konzentrationslager überlebt hat. Er stellte sich vor, wie er nach der Befreiung Vorlesungen über die Auswirkungen des Lagers auf die Psyche halten würde. Diese Vorstellung richtete ihn in all dem unsäglichen Elend auf das Leben aus. Sie war für ihn die entscheidende Kraft, unter widrigsten Umständen weiterzuleben.
Teresa von Avila empfiehlt, sich Christus vorzustellen, um sich in seine Gegenwart zu versetzen. Für sie können alle Schwierigkeiten im Gebet auf die eine Ursache zurückverfolgt werden, dass man so betet, als wäre Gott abwesend. Die Vorstellung, dass Gott liebevoll auf mich schaut, bringt eine Seelenkraft zur Entfaltung, die meine Präsenz weckt und mich von Anfang an auf Gott ausrichtet. Ich darf dann jedoch nicht in die Fantasie gehen, um mir etwas Schönes auszumalen, sondern ich öffne mich entschlossen dem Hier und Jetzt. „Die Meditation ist bodenständig und realitätsbezogen.“30 Ich bleibe also nicht bei einer schönen Vorstellung haften, sondern verbinde mich mit der Realität, indem ich meine Aufmerksamkeit auf die schlichte Wahrnehmung meiner Hände richte und Atemzug für Atemzug den Namen Jesu leise in mir erklingen lasse.
Versuche, wach bei der Wahrnehmung von etwas, wie zum Beispiel der Wärme, zu verweilen, auch wenn nichts Neues kommt. 31
Als mir vor vielen Jahren die Funktionen eines Computers erklärt wurden, musste die Einweisung unterbrochen werden, während ein Programm auf den Computer heruntergeladen wurde. Während dieser Zeit waren die Funktionen des Computers blockiert. Am Bildschirm erschien eine kleine Sanduhr. Ich stellte den Computerexperten die naive Frage, ob wir jetzt so lange warten müssten, bis der Sand durchgelaufen sei. Er lächelte und meinte, dass man an der Sanduhr nichts dergleichen ablesen könne. Sie diene nur zur Beruhigung. Wer warten müsse, würde schnell ungeduldig werden. Es täte dann gut, auf etwas schauen zu können, was sich bewegt. Man bekäme dann den Eindruck, dass die Situation unter Kontrolle sei und etwas voranginge. Im Grunde könne man aber nichts beschleunigen. Man müsse einfach warten. Heute ist die Sanduhr abgelöst durch eine Murmel, die sich beständig dreht und die gleiche beruhigende Wirkung ausüben soll. Einfach „nur“ zu warten, während anscheinend nichts passiert, und noch dazu nicht zu wissen, wie lange man warten muss, löst in der Regel großes Unbehagen, Ungeduld und nicht selten Ärger aus.
In diesen Zustand kann man auch in der Meditation geraten. Ich denke an eine Frau, die mir sagte, dass sie in der Meditation zwar spürte, dass ihre Hände warm geworden waren, dass aber während der ganzen Meditation sonst nichts weiter passierte. Im Laufe der Zeit sei sie dann immer ungeduldiger geworden. Schließlich habe sie nur noch auf den Gong gewartet. Sie erlebte die Wahrnehmung ihrer gleichbleibend warmen Hände als Stillstand, da nichts Neues hinzukam. Es ist zunächst ungewohnt, dass auf dem kontemplativen Weg nichts Neues hinzukommen muss. Hier dürfen wir bei etwas bleiben, auch wenn dieses Etwas schlicht, klein und unspektakulär ist, wie zum Beispiel das Empfinden der Wärme unserer Hände. Franz Jalics gibt klar zu verstehen: „Das Empfinden der Handflächen führt uns direkt in die Gegenwart und damit in die Richtung der Gegenwart Gottes.“32 Im Verweilen-Dürfen, im Nicht-weiter-sein-Müssen nähern wir uns unserem Sein. Unmerklich verändert dies unsere innere Haltung. Wir verzichten auf das eigene Tun und verlassen den eingetretenen Pfad, etwas aus eigenen Kräften erreichen und verändern zu müssen. Stattdessen lassen wir uns von dem, was bereits da ist, berühren.
Die Frau versuchte nun ein Interesse dafür zu entwickeln, was geschieht, wenn sie nur die Wärme ihrer Hände wahrnimmt und nur bei dieser Empfindung verweilt. Sie registrierte nun nicht nur kurz die Wärme ihrer Hände in der Erwartung, was dann als Nächstes passieren würde. Sie ließ jetzt die Empfindung ihrer Hände auf sich wirken. Wenn Gedanken kamen, kehrte sie wieder zu dieser Empfindung zurück. Sie empfand die Wärme als wohltuend und den Hinweis, dass sie dabei nichts erreichen müsse, als entlastend. In diesem schlichten Dabei-Sein und Dabei-Bleiben erlebte sie etwas, was sie sehr berührte: ein Empfinden von Innigkeit. Der Gong kam dann für sie völlig überraschend. Sie konnte kaum glauben, dass bereits eine halbe Stunde vergangen war. Das Verweilen bei der direkten Erfahrung des Augenblicks geht einher mit einer anders empfundenen Zeiterfahrung. Das achtsame Bei-sich-Sein und Bei-sich-bleiben-Dürfen führt uns tiefer in die Verbindung zu uns selbst. Die Wahrnehmung kann sich vertiefen, da wir es uns gestatten, mit unserer Aufmerksamkeit bei etwas Schlichtem und Einfachem zu bleiben. Dies stärkt unsere Fähigkeit zum Verweilen. „Das kontemplative Verweilen gibt Zeit. Es weitet das Sein, das mehr ist als Tätig-Sein. Das Leben gewinnt an Zeit und Raum, an Dauer und Weite, wenn es das kontemplative Vermögen wiedergewinnt.“33
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