psychedelisch, andere Erlebniswelten erschließt und somit eher emotional das Erworbene und Gewohnte in Frage stellt.«
Dieser Gedanke entspringt freilich nicht allein der Vorstellungswelt Kaisers. Im Juni 1967 lockt das Monterey Pop Festival an drei Tagen 200.000 Besucher in das kalifornische Städtchen am Pazifik. Eine Pioniertat. Kommuneleben, freie Liebe, Drogenkonsum, Sit-ins – die Befreiungsmechanismen der US-Subkultur werden auch in Deutschland dankbar übernommen. »Er hatte schon so etwas in der Richtung im Kopf«, erinnert sich der Mitorganisator der Essener Songtage und damalige Leiter der Stadtjugendpflege, Horst Stein. »Er wollte Popmusik, aber nicht alleine, sondern auch Protest, aber nicht alleine. Er wollte im Grunde genommen eine möglichst breite Palette zeigen und die ganze Szene damit ein bisschen aus der Schmuddelecke holen.«
Inhaltliche Freiheit und Idealismus:
Die Organisation
Als Träger der Songtage wird eine eigene Arbeitsgemeinschaft des Jugendamtes Essen gegründet, die Kaiser inhaltlich alle Freiheiten lässt. Eine Zensur des Programms findet nicht statt. Es sind ohnehin mehr die praktisch-organisatorischen Fragen, die Probleme bereiten: Ein Musikereignis dieser Dimension stellt in der Bundesrepublik ein Novum dar. Als erste Hürde erweist sich die Finanzierung. Bei Eintrittspreisen von drei bis fünf Mark pro Einzelkonzert müssen die Songtage ordentlich bezuschusst werden. Der begeisterte Kaiser läuft zu Höchstform auf, engagiert immer mehr Gruppen, plant immer mehr Programm. Die Kostenspirale dreht sich mit beängstigender Geschwindigkeit nach oben. Aus geplanten 75.000 werden 100.000 Mark, an anderer Stelle ist sogar die Rede von 300.000. Für die damalige Zeit eine gewaltige Summe.
Kultur-Sponsoring im heutigen Sinne existiert in der Bundesrepublik der späten Sechziger praktisch nicht. Die Lufthansa bietet jedoch an, die Mothers of Invention zum Nulltarif einzufliegen. Allerdings nur die Musiker. Stein: »Den Transport ihres Equipments mussten sie selbst bezahlen. Sie haben ihr ganzes Zeug im Flugzeug mitgebracht, und das war ganz schön viel.«
Trotz des straffen Budgets kursiert bald das Gerücht, die Veranstalter verdienten sich an den Songtagen eine goldene Nase – ein schwerer Vorwurf aus den Reihen der revolutionären Jugendkultur, gegen den sich Stein nachdrücklich zur Wehr setzt: »Diese goldene Nase hätte ich gerne gesehen. Keiner hat irgendetwas bekommen oder Überstunden abgerechnet. Der Einzige, der eine Aufwandsentschädigung erhalten hat, war Rolf-Ulrich Kaiser – für die Telefonkosten.«
Dass ein solches Mammut-Festival möglich wird, liegt – neben dem Organisationstalent Kaisers, der einen guten Kontakt zur amerikanischen Szene pflegt – vor allem am Idealismus der teilnehmenden Musiker: Die meisten Bands verzichten auf ihre Gage. Lediglich die Gäste aus Übersee erhalten eine Unkostenpauschale. »Das Meiste hat Zappa bekommen, aber verdient hat er dabei sicher nichts«, schätzt Stein. Die zehnköpfigen Mothers of Invention führen mit 30.000 Mark die Kostenliste an, The Fugs um Tuli Kupferberg kassieren 6.000 Mark. Daneben spielen Spesen und die Verpflegung der vielen freiwilligen Helfer eine eher untergeordnete Rolle.
Französische Künstler wie Julien Creco oder George Brassens bleiben dem Essener Festival übrigens fern. Die französische Künstlergewerkschaft verfügt kurzerhand: Wer nach Essen fährt und ohne Gage auftritt, wird in Frankreich boykottiert.
»Revolution aus Deutschland«:
Das Programm
Das Programm der Songtage ist sensationell. In der Aula der Pädagogischen Hochschule, der Grugahalle und im großen Saal des Jugendzentrums zeigt sich die gesamte Bandbreite damaliger Subkultur: Psychedelischer Rock, Free Jazz, Folk, linkes Protestlied, Gypsy-Swing, Blues, Kabarett, Multimedia-Shows. Der Mix-Gedanke geht dabei in vollem Umfang auf: Zwischen Alexis Korner, Tim Buckley, Family und Zappa präsentieren sich nicht nur Waldeck-Protestsänger wie Franz-Josef Degenhardt, sondern unter dem Titel »Popmusik aus Deutschland« auch die Bands der deutschen Krautrockszene. »Es gab sicherlich Unterschiede zwischen den englischen und amerikanischen und den deutschen Bands«, erinnert sich Stein. »Im Grunde aber war das Interesse für alle Gruppen wahnsinnig groß.«
Dies gilt auch für die Medien. In ihrer Ausgabe vom 28. September 1968 jubelt die Westdeutsche Allgemeine Zeitung: »Das, was bei den Essener Songtagen in der Veranstaltung ›Deutschland erwacht‹ geboten wurde, stellt zweifellos die Revolution in der Popmusik dar. Und diesmal kommt – o Wunder – die Revolution aus Deutschland.«
Manifestation einer Gegenbewegung
»Wir sind elf Erwachsene und zwei Kinder und haben uns entschlossen, alles gemeinsam zu machen, auch die Musik!«
– Amon Düül in ihrer handgeschriebenen
Bewerbung für die Essener Songtage –
Die Essener Songtage sind so etwas wie die Love-Parade für die auslaufenden Sechziger, ein Coming-out der Untergrund-Kultur, deren Musik Kaiser als Ausdruck einer sich verändernden Welt betrachtet: »Wir wollen zeigen, dass es gerade in der Musik, die jahrelang vor allem in der Bundesrepublik als eine Musik für Minderbemittelte galt, wesentliche Veränderungen gegeben hat«, zitiert ihn Norbert Kozicki in seinem Buch Aufbruch im Revier. Zu diesen gehören »eine neue Form des Arrangements, ein Experimentieren mit musikalischem Material und vor allem ein Text, der nicht Klischees versammelt, sondern die Welt beschreibt, wie sie ist, oder wie man sie verändern könnte«.
Im großen Rahmen wird der musikalische Aufbruch nun öffentlich beschworen, um das neue Lebensgefühl einer rebellischen Generation ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Beim Abschluss-Happening in der Grugahalle (Titel: »Ein Augen- und Ohrenflug zum letzten Himmel«), für welches eigens die Stuhlreihen abmontiert werden, ist es dem Besucher daher ausdrücklich gestattet, »zu singen, zu schreien, zu tanzen oder ein x-beliebiges Instrument zu spielen«.
Nicht alle sind überzeugt vom subkulturellen Charakter der kostspieligen Großveranstaltung. »Da gab es die ganz Scharfen, die sagten, ›jetzt hat uns das Establishment umklammert‹«, erzählt Horst Stein. »Weil ja der Hauptveranstalter das Jugendamt, also die Stadt Essen war. Für manche war das ein harter Brocken.«
Die fünf Tage werden trotzdem für alle Beteiligten zu einem Abenteuer. Erstmals bietet sich in Essen das typische Bild eines Konzert-Camps. »Damit die nicht alle irgendwo pennen« (Stein), werden Zeltlager eingerichtet. Um die Sicherheit der Festivalbesucher machen sich die Organisatoren jedoch Sorgen. Eine Betreuung durch professionelle private Sicherheitsdienste, wie sie bei Massenveranstaltungen heute die Regel ist, liegt noch in ferner Zukunft.
Bereits am ersten Abend kursieren Gerüchte, die Rocky-Bande aus Essen-Steele plane, das »Gammlerlager« am Baldeneysee zu überfallen. Zum Sturm auf das Zeltlager kommt es zwar nicht, jedoch zu einer Begegnung von Moped-Rockern und Hippies im Jugendzentrum, in deren Verlauf sich beide Seiten näherkommen: Verblüfft stellt man fest, dass man »die gleichen Bürger« verachtet. »Es ist schon erstaunlich, dass während der gesamten Songtage nichts Ernsthaftes passiert ist«, sagt Horst Stein heute erleichtert. »Es ist alles so friedlich verlaufen, dass sich die Presse ein paar Geschichten aus den Fingern saugen musste.«
Neugier, Vorurteile, Engagement:
Essen und das Festival
Ein Teil der Bürgerschaft indes gerät angesichts der einfallenden Massen langhaariger Jugendlicher in helle Aufruhr. Essen hat damals rund 620.000 Einwohner, davon sind etwa ein knappes Drittel unter 21 Jahre alt. Das Festival trifft die verschlafene Stadt »wie eine Atombombe«, so Bernd Witthüser, Geschäftsführer der Songtage, der als Protestsänger auch selbst dort auftritt. Staunend beobachtet man das bunte Treiben. Die WAZ berichtet am 25. September:
»Karten für die Songtage verkauften gestern auf dem Burgplatz echte und zurechtgemachte Hippies. Eigentlich sollte ein gepfeffertes Happening daraus werden. Doch der Regen war dagegen. Die vermummten Sängerknaben und ihre kessen Begleiterinnen