neues Selbstbewusstsein. »Macht das Ohr auf und Eure Augen und lest: Es gibt Schallplatten in Deutschland. Schon lange.« Mit diesem Text wirbt die Plattenfirma Ohr Anfang der Siebziger für die neuen Klänge aus Deutschland, die als »Deutschlands eigene Popmusik« nun auf dem von Rolf-Ulrich Kaiser gegründeten Label vermarktet werden. Die popmusikalische Identitätsfindung scheint abgeschlossen.
Neue Bands sprießen buchstäblich wie Pilze aus dem Boden: Gila (Stuttgart 1969), Xhol Caravan (Wiesbaden 1969), Annexus Quam (Kamp-Lintfort 1970), Ash Ra Tempel (Berlin 1970), Kluster (Berlin 1970) oder Kraan (Ulm 1971) sehen sich als ebenbürtige Kollegen ihrer einstigen Vorbilder, die aus einer eigenen kulturellen Identität schöpfen. Irmin Schmidt:
»Wir wollten nicht demonstrieren, ›auch wir können klasse Musik machen‹. Wir hatten das Bedürfnis, nicht so zu tun, als wären wir in Nashville, Memphis, Brooklyn oder Manchester geboren, sondern in Berlin, München oder Straubing.«
Dekonstruktion und Klangcollage
Zum neu entdeckten Deutschtum gehört die Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit. In aggressiv-destruktiven Klängen werden nun Nazi-Vergangenheit, Spießertum und die »alte Ordnung« symbolisch zerstört, Melodien, Töne und Rhythmen zerstückelt und neu zusammengefügt. Aus den musikalischen Trümmern entsteht, analog zur deutschen Geschichte, ein neues Selbstbild, das seine nationale Identität nicht leugnet. »Die Schräglagen sind ja genau daraus entstanden, dass wir diese Dinge ad absurdum geführt haben«, erläutert Hans-Joachim Irmler. »Wir fanden es aber wichtig, dass es überhaupt wieder etwas Deutsches gibt – ohne nationalistisch zu sein. Das hat damals alles einen gewissen Beigeschmack gehabt. Trotzdem haben wir durchaus auch die Tradition gesucht. Wir hielten das für einen wichtigen Aspekt unserer Kultur.«
Bei einem Faust-Konzert 1973 in London wird in der Bühnenmitte ein massiver Betonklotz platziert, den die Band mit einem Presslufthammer bearbeitet. Splitter des Blocks spritzen ins Publikum. »Der Lärm war ohrenbetäubend«, schreibt die englische Zeitschrift Mojo 1997 in einem Rückblick, in dem die Musik der Deutschen als »Kunst-Terrorismus« bezeichnet wird. »Doch der Schock war ungeheuer erregend, erzeugte er doch dasselbe befreiende Gefühl, das die Besucher Anfang des 20. Jahrhunderts bei Ausstellungen der Surrealisten oder Dada-Künstler verspürt haben müssen – das Gefühl, dass eine Barriere unwiderruflich überwunden, die Grenzen jeglicher Tabus gesprengt worden waren.«
»Elektronische Volksmusik«:
Muttersprache, Mentalität und Tradition
»Wenn man authentisch sein will, hat das immer auch etwas mit Wurzeln und Heimat zu tun. Wenn man sich so annimmt, wie man ist, dann hat man auch eine Vergangenheit, die durchscheinen darf.«
– Hellmut Hattler –
Andere Bands leisten mit kühlen, synthetischen Klängen Pionierarbeit. Die Düsseldorfer Band Kraftwerk unterscheidet sich dabei von den kosmischen Weiten der Berliner Band Tangerine Dream insoweit, dass sie eine monotone Rhythmusstruktur in den Vordergrund stellt. Die Basis der Musik bildet hier die deutsche Muttersprache als Ausdruck der eigenen Mentalität: hart, kantig, klar.
»Elektronische Volksmusik« nennt Ralf Hütter in einem Interview mit dem Musikexpress im Mai 1981 den Kraftwerk-Sound. Das Mechanische, Maschinenhafte entspricht freilich ganz dem Klischee von Effizienz, Marschmusik und Pickelhaube und dürfte somit zu einem guten Teil für den Erfolg beim britischen und US-amerikanischen Publikum verantwortlich sein. Als David Bowie Mitte der Siebziger von Berlin aus einen Abstecher nach Düsseldorf macht, untermalt er die Fahrt in seinem Mercedes mit der Kraftwerk-LP Autobahn. Erstaunt und bewundernd stellt er fest, wie eng die Musik aus dem Kassettenspieler und der Blick aus dem Fenster miteinander korrespondieren.
Oft macht sich das neue nationale Selbstverständnis auch in der schwierigen Wahl des Bandnamens bemerkbar. Hier gilt die englische Sprache bislang als unumstrittenes Muss. Bei den Neugründungen sind daher verschiedene Strategien zu beobachten: Tangerine Dream, Electric Sandwich oder Birth Control schaffen zumindest als Marke weiterhin eine künstliche angloamerikanische Identität. Bands wie Grobschnitt, Sperrmüll und Kraftwerk hingegen wählen deutsche Begriffe, die in ihrer tatsächlichen, sinnfremden Verwendung bedeutungsfrei bleiben, während Nosferatu, Hotzenplotz oder Walpurgis eine relativierende Albernheit an den Tag legen. Kraan schließlich verfallen auf ein deutsch klingendes Kunstwort, hinter dem man weder eine symbolkräftige Botschaft noch sich selbst verstecken muss.
Wieder andere Gruppen greifen zurück auf die Tradition der Dichter und Denker, auf die eigene Kulturgeschichte vor 1933. So verweisen Hoelderlin direkt auf den schwäbischen Dichter Friedrich Hölderlin, Novalis auf den gleichnamigen Schriftsteller und Philosophen. Für die Band Wallenstein steht eine Dramen-Trilogie von Friedrich Schiller Pate. Faust indes halten es lieber mit Goethe: »›Faust‹ hat uns eben sehr gut gefallen«, sagt Hans-Joachim Irmler. »Natürlich spielte hier der Zeitgeist mit hinein. Wir wollten nicht so tun, als wären wir Engländer. Faust war ein Name, der etwas mit der Arbeit zu tun hatte, aber auch mit dem Kopf. Wir waren froh, überhaupt ein Bewusstsein für die Situation entwickelt zu haben, in der wir lebten.«
Vielen Musikkonsumenten eröffnet sich durch die deutsche Rockmusik eine eigene Fan-Identität. Die Musiker stammen nicht mehr aus Liverpool oder New York, sondern aus Krefeld und Heidelberg – eine Situation, wie sie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, den Mutterländern des Rock, seit jeher Normalität ist. Diese neue Unmittelbarkeit wird von den Musikern gepflegt, man schätzt den direkten Kontakt zu den Fans. Die danken es den Bands mit regelmäßigen Konzertbesuchen und Plattenkäufen.
»Meine erste Platte war von Deep Purple, da hatte ich noch nicht einmal einen Plattenspieler«, erinnert sich Klaus Sonntag. »Die zweite war von einer Gruppe namens Nosferatu. Ich begann, mich immer mehr für deutsche Interpreten zu interessieren. Es gab viel, von elektronischer Musik bis hin zu Folkgruppen wie Ougenweide oder die in ihrer Art wieder sehr experimentellen Witthüser & Westrupp. Nicht, dass ich mich gegen ausländische Interpreten wie Creedence Clearwater Revival gesträubt hätte, aber ich dachte, warum sollte ich nicht die deutsche Musikszene unterstützen. Es wurde viel über diese Musik diskutiert, und ich kannte etliche Musiker persönlich. Deshalb habe ich von den Beatles nur eine einzige Platte, aber eine riesige Krautrock-Sammlung.«
Deutscher Rock und europäisches Selbstverständnis
»Deutsch oder nicht deutsch, das waren Grenzen, die wir nicht gemacht hatten. Es ging um Inhalte, auch musikalische, da haben wir wenig darüber nachgedacht, ob das jetzt ›Kraut‹ oder ›deutsch‹ war. Es war eine Herausforderung. Wie so etwas dann genannt wird, ist egal.«
– Lothar Stahl –
Man strebt nach Gleichberechtigung und Akzeptanz, sucht den Schulterschluss mit der internationalen Szene – einen deutschen Kulturmerkantilismus jedoch will niemand. In den Wohngemeinschaften diskutieren eifrige Musikfreaks bei Tee und Räucherwerk stundenlang darüber, inwieweit die neue Rockmusik deutsch sein sollte oder nicht. Viele Musiker hingegen sehen sich bereits als Kulturschaffende in einem zusammenwachsenden Europa, und so klingt immer öfter auch der Gedanke einer gemeinsamen europäischen Identität an.
Grundsätzlich herrscht nationalem Denken gegenüber große Skepsis. Die Erfahrungen des Dritten Reiches und der Kalte Krieg sind noch zu präsent. Hans-Joachim Roedelius, der mit der Gruppe Kluster (später Cluster) zu den Pionieren der experimentellen deutschen Musikszene zählt, wird von der Geschichte regelrecht hin- und hergeschubst. Im Jahre 1934 in Berlin geboren, macht Roedelius über Kontakte des Vaters zur Babelsberger Filmszene eine kurze Karriere als UFA-Kinderstar, bevor man ihn 1945 noch zur Hitlerjugend einzieht. Nach dem Krieg landet die Familie auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs. Er flieht in den Westen, kehrt auf Besuch zurück und verbringt als vermeintlicher Spion zwei Jahre in einem DDR-Gefängnis, bis er 1960 endgültig in den Westen übersiedelt. Dort schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs vom Gärtner bis zum Müllsammler durch. »Ich fühlte mich damals nie als Deutscher«,