Marco Bertolaso

Rettet die Nachrichten!


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KAPITEL 4 WAS SICH ÄNDERN MUSS: MEHR NACHRICHTEN WAGEN

       Ein neues Verständnis von Aktualität und Relevanz

       Ausweitung der Beobachtungszone

       Gesellschaftliche Perspektiven

       Internationale Sichtweisen

       Komplexität und Vertiefung

       Das A und O: Die Quellen der Nachrichten

       Organisation, Ressourcen und Verbreitung der Nachrichten

       TEIL DREI: DIE NACHRICHTEN RETTEN: EINE GEMEINSCHAFTSAUFGABE

       KAPITEL 5 REALISTISCHE NACHRICHTEN: EINE ZUSAMMENFASSUNG IN ZEHN PUNKTEN

       KAPITEL 6 WAS DIE GESELLSCHAFT TUN SOLLTE: EINE WUNSCHLISTE MIT ACHT PUNKTEN

       SCHLUSSBEMERKUNG UND DANK

       LITERATUR UND ANDERE ZITIERTE QUELLEN

      EINLEITUNG

      Wir müssen uns um die Nachrichten kümmern. Sie, ich, wir alle. Demokratische Verhältnisse, der Rechtsstaat und unsere individuellen Freiheiten, all das ist historisch betrachtet selten, aber auch in unserer heutigen Welt rar und kostbar. All das setzt allgemein zugängliche und verlässliche Informationen voraus. Nur so kann sich jede und jeder eine Meinung bilden. Nur so bleibt eine Öffentlichkeit lebendig, die gemeinsam akzeptierte Tatsachen kennt, eine Öffentlichkeit, die auf dieser Grundlage diskutiert, streitet, entscheidet und Kontrolle ausübt.

      Lange war unbestritten, dass den Nachrichten dabei eine zentrale Rolle zukommt. Sie waren Kommunikationsraum und Immunsystem der Demokratie. Ob Zeitungen, Radio, Fernsehen oder Internet – der Informationsjournalismus hat die vergangenen einhundert Jahre geprägt. Jetzt steckt er in der Krise. Gesellschaftliche Fragmentierung, Infragestellung klassischer Medienangebote, die digitale Revolution mit ihren radikal neuen Informationsmöglichkeiten und mit ihren neuen, radikalen Monopolisten, das brutale Ende tradierter Geschäftsmodelle, das sind einige der bekannten Stichworte.

      Aus meiner Sicht stehen die Gefahren für den Informationsjournalismus in Wechselwirkung mit einer anderen Krise, mit der Krise der repräsentativen Demokratie. Massenmedien und Parteien verlieren an Kraft, die sozialen Medien und Bewegungen gewinnen an Gewicht. Auch darum geht es in diesem Buch, doch mein Schwerpunkt liegt auf der Absicherung und Weiterentwicklung des Nachrichtenjournalismus. In diesem Berufsfeld bewege ich mich seit drei Jahrzehnten aus Überzeugung und mit Freude. Vor Ihnen liegt daher auch kein kommunikationswissenschaftlicher Text, sondern der eines gesellschaftlich engagierten Nachrichtenredakteurs.

      Unser Handwerk muss Regeln nachjustieren. Wir sollten uns von Gewohnheiten und Glaubenssätzen verabschieden, von denen manche auch mir lange heilig waren. Einige Beispiele: Beobachten und kontrollieren wir noch die richtigen Entscheidungsträger, etwa mit journalistischen Hundertschaften rund um den Bundestag, den Schauplatz von teils nur noch vermuteter Macht? Wie lassen sich transnationale, internationale oder gar globale Themen in den überwiegend nationalen Medienlandschaften angemessen darstellen? Viele Menschen erkennen sich und ihre Lebenswelt in den Nachrichten nicht mehr wieder. Wie können Redaktionen darauf reagieren, um Vertrauen zu bewahren oder zurückzugewinnen? Stimmt die nachrichtliche Aktualitätsfixierung eigentlich? Sind unsere Quellen zeitgemäß? Warum klammern wir uns weiter an den mythischen Begriff der Objektivität? Und weshalb behaupten wir immer noch so oft, über ›alles Wichtige‹ zu berichten, als ob dieses Versprechen jemals auch nur für einen Tag einzulösen gewesen wäre?

      Hin und wieder übe ich die eine oder andere Form von Kritik und spreche mich für Veränderungen aus. Das richtet sich weder gegen den Nachrichtenjournalismus noch gegen die vielen Kolleginnen und Kollegen, die ihn täglich gestalten und an seiner Weiterentwicklung arbeiten. Die Kritik ist vielmehr ein konstruktiver Teil dieser gemeinsamen Arbeit, an der ich schon lange mitwirken darf. Das ist der Zusammenhang, aus dem einzelne meiner Argumente weder gerückt noch gerissen werden sollten. Die Beobachtungen und Anmerkungen in diesem Buch sind zudem immer die meinen und nicht Standpunkte des Senders, für den ich sehr gerne arbeite.

      Mit Betrachtungen über den Journalismus und sein Personal allein ist es nicht getan. Denn bei den Medien wird vieles abgeladen, was in die Zuständigkeit anderer gesellschaftlicher Bereiche gehört. Für wesentliche Defizite der demokratischen Öffentlichkeit sind Politik und Wirtschaft verantwortlich, Verbände, Nichtregierungsorganisationen und andere mehr. Mich besorgt unter anderem das ebenso weitverbreitete wie missbräuchliche Unterlaufen eines funktionierenden Informationsjournalismus durch PR und Marketing.

      In der Verantwortung stehen aber letztlich wir alle, die wir Medien nutzen, die wir Bürgerinnen und Bürger sind. Wir alle gehören zur Nachrichtenkultur und entscheiden gemeinsam über die Zukunft der Information. Lassen Sie uns die Nachrichten retten. Es lohnt sich – und es wird uns nur gemeinsam gelingen.

      Was erwartet Sie nun? Das Buch ist eine Art Reise durch die Welt der Nachrichten. Im ersten Teil besichtigen wir den freien, westlichen Nachrichtenjournalismus und dann die Probleme, mit denen er von innen und von außen konfrontiert wird. Nach einem Abzweig in den redaktionellen Alltag schauen wir uns im zweiten Teil das Selbstverständnis der Nachrichten und einige handwerkliche Punkte genauer an. Dabei werbe ich für eine Neuorientierung unter dem Sammelbegriff ›Realistische Nachrichten‹. Zum Schluss geht es um den Beitrag von Politik und Gesellschaft für einen demokratie- und gemeinwohlorientierten Informationsjournalismus.

TEIL EINS: DIE KRISE DER NACHRICHTEN

      KAPITEL 1

      FREIE NACHRICHTEN:

      EINE HISTORISCHE AUSNAHME

      Den Anfang macht ein genauerer Blick auf das, für dessen Rettung ich werbe. Ich meine eine Nachrichtenkultur, die den Einzelnen und der Öffentlichkeit den informationellen Rohstoff für demokratische Abwägungen und Entscheidungen verlässlich liefert, die sich den fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes und anderen Normen wie den Menschenrechten verpflichtet fühlt und deren grundsätzlich große Offenheit und Neutralität genau dort ihre wehrhafte Grenze finden, wo diese Werte in Gefahr sind.

      Ich meine einen Nachrichtenjournalismus, der seinerseits frei arbeiten kann, in Deutschland zum Beispiel abgesichert durch Artikel fünf des Grundgesetzes und eine funktionierende Justiz. Ich meine Nachrichten, die derart geschützt die Arbeit der demokratischen Institutionen und aller anderen gesellschaftlichen Akteure kontrollieren und kritisieren können. Und ich meine Nachrichten, die sich ihrer Verantwortung zur Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit bewusst sind, die eine funktionierende Fehlerkultur haben und ihre Arbeit ebenso regelmäßig wie transparent überprüfen.

      Manche denken, dass eine solche Nachrichtenkultur alltäglich und ungefährdet ist. Wir werden uns das noch genauer ansehen. Historisch betrachtet ist sie jedenfalls die absolute Ausnahme. Frei verfügbare und zuverlässige Information, auf deren Grundlage die Menschen über die Geschicke ihrer Gesellschaft entscheiden können, das war in der Geschichte so wahrscheinlich wie sechs Richtige im Lotto. Meist