Marco Bertolaso

Rettet die Nachrichten!


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Überwachungskapitalismus und ›Wild Wild West‹

      Bei weitem nicht die einzige Warnung, doch sicher eine der kraftvollsten, kommt von der Harvard-Professorin Shoshana Zuboff. Ihr Buch The Age of Surveillance Capitalism (ZUBOFF 2019) liest sich wie ein Weckruf. Ihre Sorge ist, dass der digitale Kapitalismus die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zum Schaden der Einzelnen und der Demokratie verändern wird, aus reiner Gewinnsucht. Aus Zuboffs Sicht werden die heutigen Menschen von Google und Co. im Überwachungskapitalismus genauso überrollt wie die Ureinwohner Amerikas von den spanischen Eroberern im 16. Jahrhundert (ZUBOFF 2019: 175ff.). Insofern findet sie den Begriff »Digital Natives« »tragisch-ironisch« (NAUGHTON 2019).

      Tim Cole bemüht ein anderes Bild aus Amerika: Für ihn ist das WWW derzeit das Wild Wild Web und ähnelt dem Wilden Westen des 19. Jahrhunderts. Damals konnten Räuber und Gesetzlose erst einmal mehr oder weniger ungehindert tun und lassen, was sie wollten. Heute sind es für Cole die digitalen Monopolisten, die von ihrem Recht der Stärkeren Gebrauch machen. Sein Plädoyer lautet, auch im Internet Regeln durchzusetzen, wie seinerzeit im amerikanischen Westen, um insbesondere der Ausbeutung der Daten ein Ende zu setzen (COLE 2018).

       Huxley, Orwell, Postman

      Es gibt in der Moderne unterschiedliche Sichtweisen auf Freiheitsbedrohungen. Viele wissen das schon aus dem Englisch-Unterricht, zumindest wenn sie Bekanntschaft gemacht haben mit Aldous Huxley und George Orwell. Die beiden haben mit Brave New World (HUXLEY 1932) und 1984 (ORWELL 1949) zwei für das vergangene Jahrhundert prägende Dystopien geschrieben. 1984 ist zu einem Kurzbegriff für den totalitären Staat geworden, der die Menschen mit Zwang und Überwachung kontrolliert, auch in der Kommunikation. Brave New World zeichnet, wieder vereinfacht gesagt, zwar ebenfalls das Bild einer Diktatur, die die Menschen aber eher durch Bedürfnisbefriedigung gefügig hält: Anstatt von Panzern werden Konsum und Drogen eingesetzt.

      In einem Brief an George Orwell bestand Aldous Huxley im Oktober 1949 darauf, dass seine Prophezeiung die wahrscheinlichere sei. Die Herrschenden würden eines Tages erkennen, dass sie keine Schlagstöcke oder Gefängnisse mehr brauchten. Vielmehr würden sie Wege finden, den Menschen eine freiwillige Sklaverei angenehm erscheinen zu lassen, schrieb Huxley an Orwell (HUXLEY 1949). Diesen Gedanken hat der US-Medienwissenschaftler Neil Postman in Amusing Ourselves to Death (1985) schon im Vorwort aufgegriffen. Kaum war das ominöse Orwell-Jahr 1984 vorbei, notierte er:

      »Orwell warns that we will be overcome by an externally imposed oppression. But in Huxley’s vision, no Big Brother is required to deprive people of their autonomy, maturity and history. As he saw it, people will come to love their oppression, to adore the technologies that undo their capacities to think. What Orwell feared were those who would ban books. What Huxley feared was that there would be no reason to ban a book, for there would be no one who wanted to read one. Orwell feared those who would deprive us of information. Huxley feared those who would give us so much that we would be reduced to passivity and egoism. Orwell feared that the truth would be concealed from us. Huxley feared the truth would be drowned in a sea of irrelevance. […] As Huxley remarked in Brave New World Revisited, the civil libertarians and rationalists who are ever on the alert to oppose tyranny ›failed to take into account man’s almost infinite appetite for distractions‹« (POSTMAN 1985).

      Postmans Sorge galt der medialen Unterhaltung und dabei insbesondere dem Fernsehen. Einige Jahre später wurde er für unser Thema, die Nachrichten, noch einschlägiger. Postman hielt einen Vortrag, den er sich selbst zitierend Informing Ourselves to Death nannte. Darin warnte er unter anderem davor, die Menschen könnten im Überfluss an Information ertrinken (POSTMAN 1990).

       Wandel der Öffentlichkeit

      Es gibt an den Massenmedien viel zu kritisieren, genauso wie an der repräsentativen Demokratie und den Volksparteien. Die Ära der einen geht zu Ende, die Zukunft der anderen ist ungewiss. Politische Interessen organisieren sich weniger statisch. Sie finden bewegungsartig zusammen, ob nun bei ›Podemos‹, Emmanuel Macrons ›En Marche!‹ oder ›Fridays for Future‹ (vgl. FRANCESCHINI 2019). Und manchmal versuchen auch Volkstribune das Erbe der Volksparteien anzutreten. Dafür stehen so unterschiedliche Namen wie Matteo Salvini, Donald Trump oder Sebastian Kurz.

      Wenige Medien mit großer Reichweite und wenige Parteien mit großer Wählerschaft, das hat eine Zeit lang zusammengepasst. Dieses Zusammenspiel erbrachte Diskussion und Durchsetzung von Entscheidungen, Kommunikation und Kontrolle von Macht. Die Bilanz kann sich zumindest im historischen Vergleich sehen lassen. Eva Menasse würdigte die alte, über Massenmedien hergestellte Öffentlichkeit in einer Art Nachruf:

      »Als sie entstand, war sie verdächtig, weil sie einem Niveauverlust Vorschub zu leisten schien. Da hatten wir noch Sorgen, müsste man inzwischen sagen. Denn möglicherweise war diese sogenannte abstrakte, massenmediale Öffentlichkeit das Beste, was in einer zusammenwachsenden Welt zu bekommen war, einen historischen Moment lang, in jenem Wimpernschlag, bevor die Digitalisierung alles durchdrang. Das Beste im Sinne von: größte Verbreitung bei niederschwelligem Zugang. […] Die alte Öffentlichkeit gibt es nicht mehr. Sie wird nicht irgendwann erledigt sein, sie ist es schon. Die Digitalisierung, die wunderbare Effekte auf viele Lebensbereiche hat, hat auf ihrem Urgrund, der menschlichen Kommunikation, eine alles zerstörende Explosion verursacht. Für die ehemalige Öffentlichkeit, die, mit all ihren Fehlern und Schwächen, einmal die informelle Macht der Demokratie war, hat es den Effekt, den es auf die Wirtschaft hätte, wenn jeder sich zu Hause sein eigenes Geld drucken könnte« (MENASSE 2019).

      Die neue, digitale Öffentlichkeit ist noch eine große, bunte, interessante und gefährliche Baustelle. Anknüpfend an die zunächst mit dem Internet verbundenen Hoffnungen schrieb Michael Seemann 2017 in seinem Blog ctrl+Verlust:

      »Die Demokratisierung der Öffentlichkeit durch das Internet ist und bleibt die radikalste Revolution unserer Zeit. Doch wie bei jeder Revolution ist es naiv zu glauben, dass sie nur positive Effekte kennt. Meinungsfreiheit von einem abstrakten Recht zu einer tatsächlichen Praxis zu machen, war ein enormes Sozialexperiment mit unvorhersehbaren Folgen. Und wir schwenken gerade erst in die Periode ein, in der uns die ersten Untersuchungsergebnisse vor den Latz geknallt werden. Beim Auswerten der Daten dann der Schock: Enzensbergers Medientheorie entpuppte sich mehr als Milton Friedmann, denn Marx. Jedenfalls gleicht die Demokratisierung der Medienöffentlichkeit in ihrer Praxis mehr einer Deregulierung des Wahrheitsmarktes. Die Ergebnisse zeigen im Einzelnen genau dieselben Auswirkungen, die wir von jeder Marktderegulierung kennen: Kostendruck bei den Marktführern, das Auftauchen von neuen Wettbewerbern und schließlich die Ausnutzung von Lücken im System durch ›bad actors‹« (SEEMANN 2017).

      Wir wissen (noch) nicht, wie Demokratien mit der digitalen Öffentlichkeit als neuem Betriebssystem funktionieren können. Was wir dagegen wissen ist, dass es ungebrochen viele Bedrohungen gibt für unsere Freiheit und für die der Information. Die freiheitliche Demokratie war nie eine häufige Regierungsform und im 21. Jahrhundert scheint sie weltweit betrachtet auf dem Rückzug. International wie national werden Desinformationsund Propagandakampagnen unternommen.

      Wir erleben einen Informationsdschungel, in dem ein Teil der Gesellschaft die Übersicht verloren hat. Der Soziologe Ulrich Beck hat einmal bemerkt, die politische Macht habe, wer über die Zulassung von Themen zur Öffentlichkeit entscheide (BECK 2014). Heute ist die Veröffentlichung an sich kein begrenzender Faktor mehr. Man müsste wohl präzisieren, dass die Macht in den Händen derer liegt, die über die Zulassung zur Aufmerksamkeit entscheiden.

       Krise der Nachrichten kommt zur Unzeit

      Nach den Jahren der gesellschaftspolitischen Euphorie über die Chancen der Digitalisierung zeigt sich in den 2020er-Jahren vielleicht eine skeptisch-ängstliche Übertreibung in die andere Richtung. Ob das so ist, werden wir eines Tages im Rückblick beurteilen können. Wichtig ist, dass diese Phase des ›Techlashs‹ genutzt wird, damit am Ende weder Huxleys noch Orwells Prophezeiungen wahr werden, damit es nicht zu einer ›Infokalypse‹