Marco Bertolaso

Rettet die Nachrichten!


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hier unter Kontrolle des Staates. Noch mehr, sie halfen bei der Absicherung einer Diktatur. Durch die Verbreitung von Lügen und Hass wurden Massenmedien zu Massenvernichtungswaffen.

      Eine weitere Lehre nicht nur aus der NS-Zeit ist die besondere Rolle der Nachrichten im Journalismus. In einer Diktatur oder in einem autoritären Regime hat es niemand leicht, der von der Meinungsfreiheit Gebrauch machen will. Die Nachrichten aber sind das erste Opfer. So hielten es auch die Nationalsozialisten: Sie unterwanderten und radikalisierten schon 1931 den Reichsverband Deutscher Rundfunkteilnehmer, der sich danach für mehr ›rechte‹ und nationale Inhalte im angeblich links dominierten ›Systemrundfunk‹ stark machte. Eine zentrale Parole lautete »Brecht den roten Rundfunkterror.« In NS-Zeitungen wurde das verbunden mit antisemitischer Hetze, mit Kritik an den Kosten des Rundfunks und Forderungen wie »Fort mit marxistischer Zersetzungspropaganda und verlogenem Literaten-Geseire« (HEIDELBERGER BEOBACHTER 1931).

      Bereits 1932 und damit noch deutlich vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sicherten sich die Nationalsozialisten den Einfluss auf die Drahtlose Dienst AG, die erste deutsche Hörfunknachrichtenredaktion. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels nannte das Radio das »allermodernste und allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument« (GOEBBELS 1933). Sein Mann für den Rundfunk, Hans Fritzsche, sprach später vom »modernsten und schnellsten Nachrichtenmittel« und von einer »Waffe« (FRITZSCHE 1937).

      Die Nationalsozialisten verschafften sich auch sonst die Kontrolle über den Informationsjournalismus, sobald sie es konnten. Der Grund ist leicht erklärt und gilt auch für andere Diktaturen: Wenn den Menschen vertrauenswürdige Nachrichten fehlen, wenn sie der Propaganda ausgesetzt sind, wenn sie nicht mehr wissen, was wahr oder falsch ist, dann ist das autoritäre Ziel erreicht. Dann kann der Staat in anderen Bereichen kalkulierte Freiheiten zulassen, etwa ein gewisses Maß an Kunst und Kommentierung erlauben, als Ventil im Inland oder als Feigenblatt für die Welt.

       Kaum Note ›gut‹ für die Pressefreiheit

      Solche Überlegungen klingen heute für manche wie eine anstrengende und überholte Moralpredigt aus längst vergangenen, dunklen Tagen. Diesen Eindruck gewinne ich seit Jahren im Dialog mit einigen unserer Hörer und Nutzerinnen. Ich sehe das anders. Wir alle sind in unserer Zeit und in unserer Lebenserfahrung befangen. Das schränkt die Vorstellungskraft ein und manchmal auch die Abwehrkraft. Die meisten von uns hatten schon einmal von der ›Spanischen Grippe‹ gehört. Doch mein Gott, das war vor einhundert Jahren. Dann kam Corona und traf viele Gesellschaften einigermaßen unvorbereitet.

      Um die Bedrohung freier Nachrichten zu verstehen, muss niemand einhundert Jahre zurückschauen. Es reicht ein offener Blick in die Welt um uns herum. Ein nützlicher Indikator ist der Index, den die Organisation Reporter ohne Grenzen jährlich veröffentlicht. Es ist eine Art TÜV für die Pressefreiheit, der Zensur, Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten und andere einschränkende Faktoren berücksichtigt. Dass es in Nordkorea oder im Iran auch für Medien düster aussieht, darauf kämen wir alle auch ohne diesen Index. Aber wer weiß schon, wie selten freie Nachrichtenkulturen heutzutage generell sind, weit über die üblichen Verdächtigen unter den Staaten hinaus?

      Gerade mal für zwölf der 180 bewerteten Länder schätzen die Reporter ohne Grenzen die Lage im Frühjahr 2021 als gut ein (REPORTER OHNE GRENZEN 2021). Ob uns allen klar ist, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen? Ob wir es schaffen, aufmerksam und vorsichtig zu bleiben? Garantiert ist das nicht. Denn auch bei der Virengefahr hätten wir nicht nur aus der Geschichte gewarnt sein können. Ärzte in Bergamo sprachen es Ende März 2020 klar aus: »Il coronavirus è l’Ebola dei ricchi«. Corona ist das Ebola der Reichen, so zitiert sie die Nachrichtenagentur ANSA (2020). Andere Teile der Welt haben deutlich mehr Erfahrung mit Pandemien – und mit der Unterdrückung der Medien. Wir wären gut beraten, in beiderlei Hinsicht Anteil am Schicksal der anderen zu nehmen und uns auch bei der Pressefreiheit nicht zu sicher zu fühlen.

       Mythos Watergate

      In meiner Generation verbindet sich die Idee des Journalismus mit Bildern von Bob Woodward und Carl Bernstein. Viele haben die beiden vor Augen, wie sie aufklärerisch, mutig und stets das Gute im Sinn den Watergate-Skandal aufdecken, wie sie 1974 letztlich US-Präsident Richard Nixon zum Rücktritt zwingen. Ehrlicherweise sind es vielleicht noch mehr die Bilder von Robert Redford und Dustin Hoffman, den Darstellern der Reporter im Klassiker All the President’s Men. Die Verfilmung aus dem Jahr 1976 hat den Beruf des damals noch meist männlichen Journalisten popularisiert und für viele Jahre als Klischee geprägt. Watergate und der Film haben vor bald 50 Jahren auch zu einem Run auf die Ausbildungswege hin zu den Medien beigetragen.

      Mit dem Regelfall des Journalismus hat Watergate allerdings wenig zu tun. Über die Jahrhunderte stand in den Medien nicht die Kontrolle der Macht im Vordergrund, sondern die Unterhaltung. Es ging dabei oft um gute Stimmung und politische Ruhe in der Bevölkerung. Die ungebrochene Wucht des Unterhaltungsaspekts können wir an den mit ihm verbundenen Auflagen und Reichweiten in der Medienlandschaft unserer Tage ablesen. Der Hauptjob der Nachrichten, sofern es sie gab, war Information und Desinformation im Interesse der Machthabenden. Das reichte bis zur Mittäterschaft in Diktaturen.

      Doch auch jenseits solcher Extreme lebten Informationsmedien meist in einem prekären Geflecht von Abhängigkeiten von und Rücksichtnahmen auf politische, wirtschaftliche und andere Interessen. Stellen wir uns einen Augenblick vor, es gäbe eine Liste mit den Namen aller Frauen und Männer, die jemals in der Geschichte ihr Geld mit der Suche, der Zusammenstellung und Verbreitung von Nachrichten verdient haben. Es wäre eine enorm lange Liste von den Anfängen der professionellen Information bis zu meinen Kolleginnen und Kollegen, die gerade jetzt die DEUTSCHLANDFUNK-Nachrichten verantworten, während Sie diese Zeilen lesen. Die Gesamtübersicht würde deutlich machen, wie sehr ein Journalismus im Sinne von Woodward und Bernstein, im Sinne von Guardian, Tagesschau oder Süddeutscher Zeitung die Ausnahme war.

      Die Ausnahme ist, muss man sagen. Denn die Pressefreiheit mag auf dem Papier fast überall garantiert sein, so wie die Welt auch voller Regierungssysteme ist, die sich ›demokratisch‹ nennen. Und doch haben staatlich kontrollierte und weitere, engen Interessen verpflichtete Medien nach wie vor weltweit viel mehr Personal und Ressourcen als die anderen Redaktionen. Als die ›eigentlichen Redaktionen‹, wie ich sie nennen möchte.

       Systemstabilisatoren und Systemkritik

      Journalistinnen und Reporter, die nach unserem Verständnis nicht frei arbeiten, sehen sich selbst nicht unbedingt als Agitatoren und Propagandistinnen, die den Beruf falsch ausüben. Es wird viele Fälle überzeugter Systemstabilisatoren geben. In manchen Gesellschaften ist das die offizielle Aufgabe des Journalismus. Erklärt und begründet wird dies als patriotische Pflicht, Teil eines revolutionären Weges oder eines ideologischen Konzeptes und fast immer als Dienst am Volk.

      Mit dieser Ausrichtung wird das Handwerk heute in Diktaturen unterrichtet, so wie in den 1930er-Jahren schon in Benito Mussolinis Scuola fascista di giornalismo, die Joseph Goebbels zur Gründung der Reichspresseschule inspirierte. Viele in den Medien autoritär regierter Staaten Beschäftigte werden die gewohnten Arbeitsumstände wohl auch einfach für normal halten oder sich den Zwängen beugen.

      Weltweit praktizieren in solchen Ländern immer wieder Journalistinnen und Journalisten kleinere Formen des kalkulierten Widerstandes. Andere gehen noch einen Schritt weiter: Sie kämpfen für eine wahrhaftige Berichterstattung. Sie legen sich mit der politischen und wirtschaftlichen Macht, mit dem Militär oder mit mafiösen Strukturen an – und manchmal sogar mit allen diesen Kräften gleichzeitig. Diese Menschen leben gefährlich und können oft nur auf externe Unterstützung von Reporter ohne Grenzen, Amnesty International und andere Organisationen zählen – wenn überhaupt. Wenn unser Beruf Helden kennt, dann sind es diese Frauen und Männer.

       Vielfältige Nachrichtenkulturen

      Die Nachrichtenkulturen