Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe


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vom Kommentar; ja, dies Phänomen scheint sich nicht nur auf die Literatur zu beschränken, wenn man an manches InitialInitial oder an manche SequenzSequenz denkt. Aber hier, wo DanteDante das Leben des heiligen Franz erzählen will? Wäre dafür nicht ein weniger lehrhafter, weniger scholastischer Rahmen zu finden gewesen?

      Nicht genug damit. Die Biographie, die Thomas gibt, enthält von all den bezaubernden und so überaus konkreten Einzelzügen, die die franziskanische Legende aufbewahrt hat, nur sehr wenig. Zwar das Hauptsächlichste, Geburt, Aufbau des Werkes und Tod sind der Überlieferung gemäß erzählt, aber nichts einzelnes, das zur anekdotischen Belebung dienen könnte; und auch das Hauptsächliche nur gleichsam aktenmäßig, in chronologischer Reihenfolge: Geburt, Armutsgelübde, Gründung des Ordens, Bestätigung durch den Papst InnocenzInnocenz (Papst), zweite Bestätigung durch Honorius, Missionsfahrt, Wundmale, Tod. Die Wandmalereien in Assisi erzählen viel mehr, und sie erzählen weit bunter, anekdotischer – von den verschiedenen literarischen Fassungen der Legende ganz zu schweigen. Und noch etwas kommt hinzu: bei DanteDante hat die Biographie außer dem äußeren Rahmen des Kommentars, dessen Teil sie ist, auch ein inneres Leitmotiv, und zwar ein allegorisches. Das Leben Franzens wird dargestellt als Ehe mit einer allegorischen Frauengestalt, der Armut. Wir wissen zwar, daß dies ein Motiv der franziskanischen Legende war; aber war es notwendig, dies Motiv zum beherrschenden zu machen? Wir haben, soweit wir Spezialisten für mittelalterliche Kunst oder Literatur sind, allmählich und etwas mühsam gelernt, daß die AllegorieAllegorie für bestimmte Gruppen mittelalterlicher Geistigkeit etwas anderes, Wirklicheres bedeutete als für uns – daß man in der Allegorie eine Konkretisierung des Gedankens sah, eine Bereicherung der Möglichkeiten, ihn auszudrücken. Aber das hat einen ihrer eifrigsten und verständnisvollsten Neuentdecker, HuizingaHuizinga, J., nicht gehindert, sie doch etwas abschätzig «die Wucherpflanze aus dem Treibhaus der Spätantike» zu nennen. Bei aller Erkenntnis ihrer Bedeutung können wir das Dichterische an ihr nicht mehr spontan fühlen. Und doch gibt uns DanteDante, der so viele Menschen unmittelbar reden läßt, die lebendigste Gestalt der ihm vorausgehenden Epoche, Franz von AssisiFranz v. Assisi, im Gewand eines allegorischen Berichtes. Was fast jeder spätere Dichter getan hätte, und was er selbst so oft tat, worin er der erste Meister war, nämlich den Menschen selbst in Wort und Gebärde aufs Konkreteste und Persönlichste zu gestalten, das tut er hier nicht. Der Kirchenlehrer Thomas berichtet von der Hochzeit des Heiligen mit der Frau Armut, damit DanteDante versteht, was es bedeutet, daß man in der Herde des DominicusDominicus, Hl. gute Weide findet, wenn man nicht abirrt.

      Wenn man an die bekannten allegorischen Dichtungen der Spätantike und des Mittelalters denkt, an die Werke von ClaudianClaudian etwa oder PrudentiusPrudentius, von Alain de LilleAlain de Lille oder Jean de MeunJean de Meun, so ist freilich wenig Gemeinsames zwischen ihnen und der Biographie des Franciscus in der Komödie. Jene Werke bieten ganze Armeen von allegorischen Gestalten auf, beschreiben ihre Gestalt, ihre Kleidung, ihre Wohnung, lassen sie miteinander disputieren und kämpfen. Übrigens kommt auch paupertaspaupertas bei einigen von ihnen vor, aber als Laster oder Begleiterin des Lasters. DanteDante bringt hier nur eine einzige allegorische Gestalt, eben die Armut, und verbindet sie mit einer historischen, das heißt konkret wirklichen Persönlichkeit. Das ist etwas ganz anderes; er zieht die AllegorieAllegorie ins Aktuelle, er verbindet sie eng mit dem Geschichtlichen. Dies ist zwar nicht DantesDante Erfindung, es wurde ihm, mit dem ganzen Motiv, von der franziskanischen Tradition überliefert; von Anfang an erscheint in ihr die Hochzeit mit der Armut als Figur der Tätigkeit des Heiligen. Bald nach seinem Tode schon wurde ein Traktat mit dem Titel Sacrum Commercium Beati Francisci cum Domina Paupertate1 geschrieben, und Anklänge an das Motiv finden sich fortwährend, etwa auch in den Gedichten Jacopone da TodisJacopone da TodiJacopone da Todi. Aber es wird kaum konsequent durchgeführt, sondern löst sich auf in viele didaktische oder anekdotische Einzelheiten; nie wird es für eine konkrete Lebensdarstellung festgehalten. Das Sacrum Commercium enthält überhaupt nichts Biographisches, sondern ist im wesentlichen eine lehrhafte Schrift, in der die Armut eine lange Rede hält. Die Darstellung in der Unterkirche in Assisi, die früher meist GiottoGiotto zugeschrieben wurde, zeigt die Hochzeit ebenfalls jenseits aller konkreten Biographie: Christus gibt den Heiligen mit der hageren und alten, in Lumpen gehüllten Armut zusammen, während zu beiden Seiten mehrere Schichten von Engelchören an der Feier teilnehmen. Mit dem praktischen Leben des Heiligen hat das nicht unmittelbar zu tun – dieses wird in einem anderen Zyklus von Bildern dargestellt. DanteDante hingegen bringt beides in einem; mit der Hochzeitsfeier vereinigt er jene eindrucksvolle, ja sogar grelle Szene auf dem Markt in AssisiFranz v. Assisi, wo Franz öffentlich auf das Erbteil des Vaters verzichtet und diesem sogar seine Kleider zurückgibt. Verzicht auf Erbteil und Entkleidung, die sonst überall als eigentlicher Gegenstand der Darstellung hervortreten, werden bei DanteDante nicht ausdrücklich erwähnt; sie werden in die allegorische Hochzeit einbezogen; um einer Frau willen sagt sich hier Franciscus von seinem Vater los; einer Frau, die keiner haben will, die von allen wie der Tod gemieden wird; vor den Augen aller, vor den Augen des Bischofs, vor den Augen des Vaters tut er sich mit ihr zusammen. Hier wird zugleich das Besondere wie das Bedeutend-Allgemeine des Vorgangs greller hervorgehoben, als es durch den bloßen Verzicht auf etwas auszudrücken gewesen wäre: nicht weil er etwas nicht besitzen will, sondern weil er etwas anderes begehrt und zu besitzen trachtet, verwirft er die väterlichen Güter und sagt sich vom Vater los; er tut es um einer Liebe, um einer Begierde willen, die unwillkürlich die Erinnerung an andere ähnliche Vorgänge wachruft, wo junge Männer um schlechter Weiber willen, die ihre Begierden entzündet haben, ihre Familie verlassen. Schamlos gleichsam, vor aller Augen, tut sich Franciscus mit einem Weibe zusammen, das von allen verachtet wird, und die Erinnerung an schlechte Weiber wird, wie wir gleich genauer sehen werden, durch die weitere Ausmalung immer wieder geweckt. Es ist also eine seltsame, nach gewöhnlichen Begriffen abstoßende Hochzeit, eine häßliche Feier, die sich hier vollzieht, verbunden mit Streit wider den eigenen Vater, öffentlich, grell und eben dadurch noch bedeutsamer als die Rückgabe der Kleider, die ja nicht sogleich jene Gedanken an Verworfenheit und Heiligkeit heraufbeschwört wie die Ehe mit einem verachteten Weibe. Und hier erwacht die Erinnerung an einen anderen, der früher einmal solche Hochzeit feierte; der sich auch mit einem verachteten, verlassenen Weibe, der armen, verstoßenen Menschheit, der Tochter Zion, vermählte; der auch freiwillig sein Erbteil aufgab, um seiner Liebe zu der verstoßenen zu folgen. Die Vorstellung, daß Franz von AssisiFranz v. Assisi in seinem Leben und seinem Schicksal gewisse Übereinstimmungen mit dem Leben Christi zeigt, also das Motiv der Nachfolge oder Konformität, ist von der franziskanischen Überlieferung immer mit Liebe gepflegt warden. Die Biographie Bonaventuras läßt sich von diesem Gedanken leiten, und er hat auch in der Malerei seinen Ausdruck gefunden, zuerst in der Unterkirche von Assisi, wo fünf Darstellungen aus dem Leben Christi fünf entsprechenden aus dem Leben des Franciscus gegenübergestellt sind. Die Konformität wird auch in vielen Einzelheiten gefunden, etwa in der Zahl der Jünger, dem gemeinsamen Leben mit ihnen, den verschiedenen Wundertaten und vor allem in der Stigmatisation. DanteDante hat das Motiv in seinen Einzelzügen nicht verfolgt, bringt er doch überhaupt keine Einzelzüge; aber er hat es in der mystischen Hochzeit bewußt herausgearbeitet: also nicht in den einzelnen Zügen, sondern im Ganzen und Grundsätzlichen; freilich auf eine Weise, die dem mittelalterlichen Leser unmittelbarer einleuchtet als dem heutigen.

      Die Biographie, die Thomas von AquinThomas v. Aquin hier erzählt, beginnt mit einer Beschreibung der Lage von AssisiFranz v. Assisi. «Von jenem Hange», fährt Thomas dann fort, «ward der Welt eine Sonne geboren, leuchtend wie diese, wenn sie aufgeht; darum sollte, wer von jenem Ort spricht, nicht Ascesi sagen, sondern Oriente.» Dies Wortspiel kann nur dazu dienen, den Vergleich der Geburt des Franciscus mit der aufgehenden Sonne zu betonen; sol oriens aber, oriens ex alto ist nach einer im Mittelalter weit verbreiteten Vorstellung Christus selbst (nach LucasLukas (Evangelist) 1, 78 und einigen lichtsymbolischen Stellen bei JohannesJohannes (Evangelist));2 dies Symbol beruht auf Mythen, die, weit älter als das Christentum, in den Mittelmeerländern feste Wurzeln haben – zumal in Verbindung mit der mystischen Hochzeit. Für DanteDante verschmolzen in der Vorstellung des Sonnenkindes als Weltheiland, dem die mystische Hochzeit bestimmt ist, die Geburt des Herrn, die Hochzeit des Lammes und die Vision der vierten Ekloge VergilsVergil, die für ihn und seine Zeitgenossen eine Christusprophetie war. Kein Zweifel also, daß er durch den Vergleich mit der aufgehenden Sonne, auf den die mystische Hochzeit als erste Bestätigung