Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe


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In dieser konkreten Erneuerung der existentiellen Nachfolge liegt auch die Begründung dafür, daß er von den Zeitgenossen als würdig des Stigmatisationswunders angesehen wurde; kein anderer hat den Gedanken der existentiellen Nachfolge so von Grund aus neubelebt wie er.

      Es wird nun deutlich, daß DanteDante auf keine andere Art das Wesentliche der Gestalt des Heiligen so einfach und unmittelbar darstellen konnte wie durch die mystische Hochzeit mit der Armut, die seine imitatio Christi begründet. Sie erst stellt Franz in den weltgeschichtlichen Zusammenhang, in den er nach DantesDante Anschauung gehört; ein Zusammenhang, der in seiner Zeit noch überaus lebendig war. Für die mittelalterliche Epoche, bis tief in die Neuzeit hinein, war ein bedeutendes Ereignis oder eine bedeutende Gestalt im eigentlichen Sinne «bedeutend»; es bedeutete Erfüllung eines Planes, Erfüllung von etwas Vorausverkündetem, bestätigende Wiederholung von etwas schon Dagewesenem und Ankündigung von etwas einst Kommendem. In der Abhandlung über figurafigura versuche ich darzulegen, wie die sogenannte typologische Deutung des Alten TestamentsAltes Testament, die die Ereignisse desselben als reale Vorankündigungen der Erfüllung im Neuen TestamentNeues Testament, insbesondere also des Erscheinens und des Opfertodes Christi auffaßt, ein neues System der Geschichts- und überhaupt Wirklichkeitsinterpretation geschaffen hat, die das christliche MittelalterMittelalter beherrscht und DanteDante entscheidend beeinflußt hat; die Figuralinterpretation schafft einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen, die beide innergeschichtlich sind, in welchem eines von beiden nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, dies andere dagegen das erste einschließt und erfüllt. In den klassischen Beispielen ist der zweite erfüllende Teil stets Christi Erscheinen und die damit zusammenhängenden Ereignisse, die zur Erlösung und Neugeburt des Menschen führen; und das Ganze ist eine Gesamtdeutung der vorchristlichen Weltgeschichte auf das Erscheinen Christi hin. Die existentielle Nachfolge nun, mit der wir es hier, bei der mystischen Hochzeit des Franciscus mit der Armut zu tun haben, ist gleichsam eine umgekehrte Figur; sie wiederholt gewisse charakteristische Züge des Lebens Christi, erneuert und verleiblicht es vor aller Augen, und erneuert damit zugleich das Amt Christi als eines guten Hirten, dem die Herde folgen müsse. Io fui degli agni della santa greggia che Domenico mena per cammino, sagt Thomas, und Franciscus wird archimandrita genannt. Figur und Nachfolge bilden zusammen eine Versinnbildlichung der geschlossenen teleologischen Geschichtsauffassung, deren Mitte das Erscheinen Christi ist; dieses bildet die Grenze zwischen dem alten und dem neuen Bunde; man erinnere sich, daß die Zahl der Seligen aus beiden Bünden, wie sie in DantesDante weißer Rose des Empireo dargestellt werden, am Ende aller Tage genau gleich sein wird und daß auf der Seite des neuen Bundes nur noch wenige Sitze frei sind – das Weltende steht also nahe bevor. Unter den Heiligen des neuen Bundes aber nimmt Franciscus einen besonderen Platz in der weißen Rose ein, den großen Patriarchen des alten gegenüber, und so wie diese Vordeuter waren, so ist er, der stigmatisierte Gatte der Armut, der hervorragendste unter den späten Nachahmern Christi, dazu bestimmt, die Herde auf den rechten Weg zu lenken, die Braut Christi zu unterstützen, daß sie sicher und treu zu ihrem Geliebten eilen möge.

      All diese Zusammenhänge waren dem mittelalterlichenMittelalter Leser spontan erkennbar, denn er lebte in ihnen; die Vorstellungen von vordeutender und nachahmender Wiederholung waren ihm so geläufig wie etwa einem heutigen Leser der Begriff der geschichtlichen Entwicklung; stellte man sich doch sogar das Erscheinen des Antichrist als eine genaue, aber trügerische Wiederholung des Erscheinens Christi vor. Uns ist das spontane Verständnis dieser Geschichtsauffassung verlorengegangen, wir sind genötigt, sie durch Forschung zu rekonstruieren. Aber an ihr entzündete sich DantesDante Inspiration, deren Glut wir noch zu fühlen vermögen; trotz unserer Abneigung gegen Allegorien ergreift uns im elften Gesang des Paradiso die Wirklichkeit des Lebendigen; eines Lebendigen, das nur hier, in den Versen des Dichters, noch lebt.

      Figurafigura (1938)

      I. Von TerenzTerenz bis QuintilianQuintilian

      Figura, vom gleichen Stamme wie fingerefingere, figulusfigulus, fictorfictor und effigies, heißt nach seiner Herkunft «plastisches Gebilde» und findet sich zuerst bei TerenzTerenz, der Eun. 317 von einem Mädchen sagt: nova figura oris. Etwa aus gleicher Zeit dürfte das PacuviusPacuviusfragment 270/1 (RibbeckRibbeck. O., Scaen. Roman. Poesis Fragm. I, S. 110) stammen:

      Barbaricam pestem subinis nostris optulit

      Nova figura factam ….1

      Es ist wahrscheinlich, daß PlautusPlautus das Wort nicht gekannt hat; er verwendet zweimal ficturafictura (Trin. 365, Mil. 1189), freilich beide Male in einem Sinne, der eher die Tätigkeit des BildensSensuslehre als ihr Ergebnis ausdrückt; fictura wird später sehr selten.2 Mit der Erwähnung des Wortes fictura werden wir sogleich auf eine Eigentümlichkeit von figurafigura hingewiesen: es ist (Ernout-MeilletMeillet, A.Ernout, A., Dict. étym. de la langue latine, p. 346) unmittelbar vom Stamm abgeleitet, nicht, wie naturanatura und andere gleicher Endung, vom Supinum. Man hat dies aus einer Angleichung an effigieseffigies (StolzStolz, F.-SchmalzSchmalz, J. H., Lat. Gramm., 5. Aufl. S. 219) erklären wollen: jedenfalls drückt sich in dieser besonderen Bildung des Wortes etwas Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes aus, und jedenfalls liegt in ihr eine hohe Eleganz der lautlichen Erscheinung, die viele Dichter bezaubert hat. Daß die beiden ältesten Belege uns nova figura bieten, kann ein Zufall sein; bedeutsam, auch wenn es ein Zufall ist, da das neu Erscheinende, sich Wandelnde am Beständigen der ganzen Geschichte des Wortes das Gepräge gibt.

      Diese Geschichte beginnt für uns mit der Graezisierung der römischen Bildung im letzten vorchristlichen Jahrhundert, und an ihren Anfängen haben drei Schriftsteller entscheidenden Anteil: VarroVarro, LucrezLukrez und CiceroCicero. Freilich können wir nicht mehr genau bestimmen, was sie aus dem verlorenen früheren Bestande übernommen haben; allein der Beitrag von LucrezLukrez und von CiceroCicero ist so eigentümlich und jeweils so selbständig, daß man ihnen ein hohes Maß von eigener Bedeutungsschöpfung zutrauen muß.

      VarroVarro besitzt solche Selbständigkeit am wenigsten. Daß bei ihm figurafigura zuweilen «äußere Erscheinung», ja «Umriß» heißt,3 also sich von seinem Ursprung, dem engeren Begriff des plastischen Gebildes, loszulösen beginnt, scheint ein allgemeiner Vorgang gewesen zu sein, auf dessen Ursachen wir noch zurückkommen. Bei Varro ist diese Entwicklung nicht einmal sehr ausgeprägt. Er ist Etymologe, der Ursprung des Wortes ist ihm bewußt (fictor cum dicit fingo figuram imponit, de ling. lat. 6, 78), und so enthält das Wort, wo er es von Lebewesen und Gegenständen gebraucht, zumeist eine plastische Vorstellung. Wie weit sie noch wirksam war, ist zuweilen schwer zu entscheiden; so etwa, wenn er sagt, daß man beim Kauf von Sklaven nicht nur die figura berücksichtige, sondern auch die Eigenschaften, wie bei Pferden das Alter, bei Hähnen den Zuchtwert, bei Äpfeln das Aroma (ib. 9,93); oder wenn er von einem Stern sagt, er habe colorem, magnitudinem, figuram, cursum verändert (Zitat bei AugustinAugustinus, de civ. Dei 21, 8); oder wenn er de ling. lat. 5, 17 gegabelte Palisadenpfähle mit der figura des Buchstabens V vergleicht. Ganz unplastisch wird es, sobald von Wortformen die Rede ist. Wir haben, so etwa sagt er de ling. lat. 9, 21, von den Griechen neue Formen der Gefäße übernommen; warum wehre man sich gegen neue Wortformen, formae vocabulorum, als seien sie giftig? Et tantum inter duos sensus interesse volunt, ut oculis semper aliquas figuras supellectilis novas conquirant, contra auris expertes velint esse? Hier liegt der Gedanke, daß es auch für den GehörssinnSensuslehre Figuren gebe, schon sehr nahe; zudem muß man wissen, daß Varro, wie übrigens alle lateinischen Autoren, die nicht als philosophische Spezialisten eine genaue Terminologie besitzen, figurafigura und formaforma im allgemeinen Gestaltsinn unbedenklich durcheinander verwenden. Eigentlich heißt forma «Gußform», französisch moule, und steht also zu figura in dem Verhältnis der Hohlform zu dem aus ihm hervorgehenden plastischen Gebilde; doch ist bei Varro nur selten etwas davon zu spüren, allenfalls vielleicht in dem Fragment bei GelliusGellius 111, 10, 7: semen genitale fit ad capiendam figuram idoneum.

      Die eigentliche Neuerung und Verwischung des ursprünglichen SinnesSensuslehre, die man zuerst bei VarroVarro trifft,