Werken kollabieren, dort, wo uns jeder sieht.
29.Wir müssen uns schämen und unsere Scham preisgeben, bis zum Himmel stinken und kotzen einfach so.
30.Wir sind völlig indiskret.
31.Nur ungern entschuldigen wir uns.
32.Wir lügen wilder als die Pferde rennen können.
33.Wir müssen uns die Knochen brechen, die Zähne ausschlagen, die Augen verätzen, die Haut verbrennen, die Finger zerquetschen, die Genitalien elektrifizieren. Wir müssen uns vergiften und den Verstand verlieren.
34.Wir müssen unsere Mitspieler lieben und unbedingt vertrauen.
35.Wir müssen geduldig sein.
36.Wenn wir uns vom Werk zurückziehen, sind wir erschöpft, desorientiert, frigid, hustend und alternd.
Signa Köstler ist Performerin und Mitgründerin der Performancegruppe SIGNA. „36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke“ war ihre Eröffnungsrede am 19. Mai 2012 beim Künstler*innengipfel des Theatertreffens.
„ERFOLG IST IMMER EIN DESASTER“
William Kentridge im Gespräch mit Christiane Peitz
2016 wurde eine umfangreiche Schau aus dem vielfältigen Werk des Künstlers William Kentridge erstmals in Berlin von den Berliner Festspielen präsentiert: im Martin-Gropius-Bau (12. Mai bis 21. August 2016) und im Haus der Berliner Festspiele im Rahmen des Festivals Foreign Affairs (5. bis 17. Juli 2016). Kentridge ist nicht nur bildender Künstler, sondern auch Filmemacher, Regisseur und ein großer Erzähler. Seit mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten bewegt sich sein Schaffen durch unterschiedliche künstlerische Disziplinen.
Im Mittelpunkt seines Denkens steht die bildnerische Arbeit. Sie war Ausgangspunkt für eine große, von Wulf Herzogenrath kuratierte Ausstellung mit dem Titel „NO IT IS !“ im Martin-Gropius-Bau, mit Zeichnungen über die berühmten, Georges Méliès gewidmeten Animationsfilme von 2003 und Drawings for Projection (1989–2011) bis hin zu dem monumentalen filmischen Fries More Sweetly Play the Dance (2015) und der Rauminstallation The Refusal of Time, die 2012 erstmals auf der documenta zu sehen war. Die 45 Meter breite Filmprojektion More Sweetly Play The Dance war nicht nur im Martin-Gropius-Bau, sondern auch an der Fassade des Hauses der Berliner Festspiele zu erleben. Im Festspielhaus gab es außerdem weitere Filminstallationen des Künstlers zu sehen, und er präsentierte seine transdisziplinäre Lecture „Drawing Lessons“ auf der großen Bühne. 2012 als Vorlesungsreihe in Harvard entstanden, sind sie Reflektionen der eigenen ästhetischen Praxis, die sowohl vom Leben im Studio, von Kentridges Wertschätzung der Schatten und der Missverständnisse als auch von Kolonialgeschichte und dem politischen Umfeld zwischen Apartheid und Gegenwart erzählen. Das folgende Interview führte Christiane Peitz für Der Tagesspiegel.
Christiane Peitz:
Mr. Kentridge, Sie sagen, Ihren Erfolg verdanken Sie Ihrem Scheitern. Wie meinen Sie das?
William Kentridge:
Wahrscheinlich kann man jede Biografie so erzählen. Man ist, wer man ist, weil man mit diesem oder jenem scheiterte. Ich bin gescheitert bei meinen Versuchen, in Öl zu malen, Schauspieler zu werden, Filmemacher zu werden. Eines Tages fand ich mich im Atelier wieder, jetzt mache ich alles, malen, spielen, filmen. Ich profitiere von Dada, davon, dass diese Anti-Kunst den Raum der Kunst in alle Richtungen geöffnet hat. Mit 15 wollte ich Dirigent werden. Dann erfuhr ich aber, dass man dafür Noten lesen muss, also wurde es nichts. Jetzt inszeniere ich Opern, das ist fast wie Dirigieren, ohne Noten lesen zu können.
CP:Sie zeichnen vor der Kamera, machen ein Foto von der Zeichnung, ändern sie, machen wieder ein Foto: Wie kamen Sie zu dieser umständlichen Animationstechnik?
WK:Ich machte normale Filme mit Schauspieler*innen, in einem davon gab es eine kurze animierte Kohlezeichnung. Ein Freund von mir meinte, warum machst du nicht einen vollständigen Film nur auf diese Weise? Ich erwiderte: Bist du verrückt, weißt du, wie lange das dauert? Oft sind es sechs oder acht Monate für einen Zehn-Minuten-Film.
CP:Was geschieht auf diesen zahllosen Wegen zwischen Zeichnung und Kamera?
WK:Ich gehe weg von der Zeichnung, drehe mich um, mache zwei Fotos, gehe wieder zurück und habe jedes Mal einen frischen Blick auf das Bild. Kunst ist vielleicht genau das: dass man die Dinge immer neu sieht. Das Gehen hat etwas Repetitives. Man beginnt zu zählen, die Zeit wird zur Entfernung, zur Maßeinheit. Es ist ein sehr produktiver Raum für neue Ideen.
CP:In den Drawing Lessons erzählen Sie, wie Sie als Neunjähriger an Sommernachmittagen in Johannesburg die sich ständig verändernden Gewitterwolken beobachtet haben. Die vor dem Übermalen verwischte Kohle in Ihren Filmen erinnert daran.
WK:Alle Kinder gucken gerne in die Wolken und schauen, welche Formen sie annehmen. Und wenn man erst mal einen alten Mann oder einen Hundekopf identifiziert hat, sieht man nur noch diese eine konkrete Gestalt. Wir können nicht anders: Wir wollen der Welt Sinn verleihen.
CP:Hat Ihre Technik des Übermalens auch einen politischen Aspekt? Die Wirklichkeit – die Apartheid in Südafrika – wurde übertüncht, aber sie hinterließ Spuren?
WK:Und es gibt ständig Bewegung, etwas, was die Gesellschaft wie eine Maschine im Inneren antreibt, wie eine Maschine, und sie dazu bringt, unzufrieden zu sein, zu protestieren und die Dinge verändern zu wollen.
CP:Ihre Eltern arbeiteten als Anwälte. Sie verteidigten die Schwarzen, Opfer der Apartheid. Mit sechs entdeckten Sie auf dem Schreibtisch Ihres Vaters eine Schachtel mit Fotos von Leichen, Beweismaterial für einen Prozess. Ein Schlüsselmoment?
WK:Höchstens im Rückblick. Ich dachte, es ist eine Schachtel Schokolade, aber da waren diese Bilder von Menschen, die erschossen worden waren. Erst als ich mich fragte, warum in meinem Animationsfilm Felix in Exile solche Bilder auftauchen, fiel die Schachtel mir wieder ein. Damals war es ein Moment der Beschämung. Nicht dass ich mich persönlich geschämt hätte, es war die Scham der Welt.
CP:Würden Sie sich selber einen politischen Künstler nennen?
WK:Nur insofern, als ich ein polemisches Verhältnis zur Politik als Provisorium habe und mir ihrer Ungewissheit bewusst bin. Das Fehlen jeder politischen Botschaft in meinen Werken ist Ausdruck meiner Skepsis gegenüber jeglicher Gewissheit. Erfolg ist immer ein Desaster.
CP:Ihre Filmfiguren reden nie, es gibt Musik, Gesang, aber keinen Dialog. Misstrauen Sie der Sprache?
WK:Nein, ich kann ganz gut reden, anfangs war Jura durchaus eine Option. Aber mein Vater – er ist 93 Jahre alt und bei guter Gesundheit – war ein derart guter Anwalt, dass es keine gute Idee gewesen wäre, in seine Fußstapfen zu treten. Meine jüngere Tochter ist eine gute Anwältin geworden, die Begabung hat eine Generation übersprungen. Außerdem bin ich ein schlechter Dialogschreiber. Und vor allem gibt es nichts Komplizierteres, als Mundbewegungen zu animieren. Wiederholte Bewegung ist weit schwerer zu zeichnen als Transformation: Es ist leichter, ein Telefon in eine Katze zu verwandeln, als das Telefon umzudrehen.
CP:Sie arbeiten mit Kohle, mit Scherenschnitten, fast immer schwarzweiß. Warum kaum Farbe?
WK:Eine Frage des Temperaments. Es gibt Künstler*innen, die denken in Farbe, für mich ist Farbe eher Dekor. Ich arbeite gern mit Farbe, die schon da ist, der Farbe auf Landkarten zum Beispiel. Aber wenn ich selber Farben auf einer Palette mische, kommt immer das Gleiche heraus und nie das, was ich möchte. In meinen Operninszenierungen gibt es fantastische Farben, aber die verdanke ich den Kostümbildner*innen.
CP:Und warum schicken Sie einen in Ihren Installationen gern in dunkle Räume?
WK:Es geht nicht anders, wegen der Filmprojektionen.
CP:Nur praktische Gründe? Sie zitieren oft Platons Höhlengleichnis.
WK:Wir sind alle Kinder der Aufklärung, jedenfalls hier im Westen. Das Höhlengleichnis ist eine Art Gründungsmythos der Aufklärung. Wir müssen alle ins Licht