Klaus Behling

Leben nach der DDR


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21. August 1993: Ehemalige Stahlarbeiter des stillgelegten Krupp-Werks in Oranienburg bei Berlin demonstrieren vor den Werkstoren des Thüringer Kaliwerks für dessen Erhalt. (picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger)

      In dem über zwanzig Jahre lang geheim gehaltenen zweiundsechzigseitigen Vertrag zum Verkauf der Thüringer Kaligruben durch die Treuhand an das damalige Toch­ter­un­ternehmen des BASF-Konzerns, Kali und Salz AG, hieß es in der Anlage, dass der Geschäftsplan »die Schließung von Bischofferode zum Ende des Jahres 1993« unterstelle. Für die Verluste vor und nach dem Ende der »Mitteldeutschen Kali AG« (in der die Betriebe der ostdeutschen Kaliindustrie gebündelt worden waren) sollte weitestgehend der Steuerzahler aufkommen. Der Vertrag regelte, dass Fehlbeträge »in den Geschäftsjahren 1993, 1994 und 1995 zu 90 Prozent auf die Treuhandanstalt und zu 10 Prozent auf K+S« aufzuteilen seien. Für die beiden folgenden Jahre wurde eine abgestufte Verlustübernahme der K+S auf bis zu 20 Prozent verabredet. In Artikel 10 hieß es unter anderem: »Die Treuhandanstalt stellt das Gemeinschaftsunternehmen von allen Kosten aus Löhnen und Gehältern für Mitarbeiter des Betriebes Bischofferode frei, die dem Gemeinschaftsunternehmen nach dem 01.01.1994 entstehen.« Und das, obwohl nur 40 Prozent der Aktien an der Mitteldeutschen Kali AG bei der Treuhand verblieben, K+S jedoch 51 Prozent bekam. Der Rest wurde anderweitig aufgeteilt.

      Bei den »garantierten« siebentausendfünfhundert Arbeitsplätzen auf fünf Jahre öffnete der Vertrag ein Hintertürchen. Ein Passus sah vor, dass ein zusätzlicher begrenzter Personalabbau »nicht der Zustimmung der Gesellschafterversammlung« bedürfe. Darüber hinaus stellte die Treuhandanstalt »das Gemeinschaftsunternehmen … für Sozialplankosten (inklusive mit dem Personalabbau verbundene Prozesskosten) frei«. Selbstverständlich übernahm sie auch die Verantwortung für stillgelegte Gruben. Alles, was nicht mehr benötigt würde, sollte an die Treuhandnachfolgerin »Gesellschaft zur Verwahrung und Verwertung von stillgelegten Bergwerksbetrieben mbH« übertragen werden.

      Die protestierenden Kalikumpel wussten damals von alledem nichts. Sie bauten auf die Meinung der Experten, die das Werk als ausgesprochen ertragreich einstuften. Es hätte noch fünfzig Jahre betrieben werden können und förderte in Europa beispiellos reines Salz, das früher zu 90 Prozent exportiert wurde.

      Und genau hier lag der Grund dafür, dass allein für die Schließung des »Thomas-Münt­zer-Schachtes« 180 Millionen Euro aufgewandt und die Grube im Eichsfeld mit Lauge geflutet und dadurch unbrauchbar gemacht wurde. Gerhard Jüttemann, damals für die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat der Mitteldeutschen Kali AG, beschrieb ihn so: »Wenn die Mitteldeutsche Kali AG nicht mehr liefern kann, müssen unsere Kunden bei der Konkurrenz einkaufen. Die kann dann ihren Monopolpreis bestimmen.« Von den neuen Arbeitgebern sagte das so niemand den Bergleuten. Als Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP), zuvor selbst Treuhandmanager, im November 1993 in Bischofferode auftauchte, beschwichtigte er nur: »Ihre Betroffenheit ist okay, Bergbau ist immer mehr als ein normaler Arbeitsplatz, Bergbau ist ein Mythos – aber Ihr Geschrei wird das nicht lösen …«

      Das erinnerte die Frauen und Männer vielleicht an einen Ausspruch des Namensgebers ihrer Grube. Bauernkriegsführer Thomas Müntzer erklärte 1524: »Die herren machen das selber, daß in [ihnen] der arme man feyndt wird. Dye ursach des auff­rurß wöllen sye nit wegthun.«

      Diese »Ursach« hatte tiefe Wurzeln. In den 1950er Jahren planten Ost wie West die Wiedervereinigung, jede Seite in der Annahme, ihr Gesellschaftsmodell würde das andere besiegen. Im Osten wurden an der »Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft ›Walter Ulbricht‹« in Potsdam vorsorglich künftige Bürgermeister und Schulräte für die westdeutsche Provinz ausgebildet, im Westen plante der »Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen«, wie es wirtschaftlich zusammengehen könnte. In den »Richtlinien für Übergangsmaßnahmen im Bereich Düngemittel«, vom Forschungsbeirat am 17. Oktober 1956 verabschiedet, hieß es dazu: »Die Düngemittelindustrie in der Sowjetischen Besatzungszone weist bei Stickstoff und Kali bereits jetzt Kapazitäten auf, die im Falle der Wiedervereinigung eine Ausweitung unter den gegebenen Umständen nicht erfordern … Darüber hinaus hat der neue Fünfjahrplan auch expansive Investitionen in erheblichem Umfange vorgesehen … Hieraus würden sich nach der Wiedervereinigung Überkapazitäten für Gesamtdeutschland ergeben, falls die jetzt vorgesehenen sowjetzonalen Lieferungen an die Ostblockländer dann nicht mehr möglich sein sollten … In Westdeutschland sind die Kriegs- und Demontageverluste weitgehend aufgeholt worden. Die Stickstoff- und Phosphatkapazitäten weisen zurzeit große Reserven auf. Auch die Kapazität der Kali-Industrie ist in Westdeutschland sehr groß.«

      Als es dreiunddreißig Jahre später dann tatsächlich mit der Einheit Deutschlands so weit war, verschwand deshalb die ostdeutsche Konkurrenz. Am 15. Dezember 1993 genehmigte die EU-Kommission trotz kartellrechtlicher Bedenken die Fusion. In Bischofferode verstand das niemand. Der Betriebsrat kommentierte: »Der Belegschaft aber bleibt die Frage unbeantwortet, warum in ihrem Werk, bei hoher Produktivität, soliden Marktanteilen und tragfähigen betriebswirtschaftlichen Konzepten, die Kaliproduktion eingestellt werden soll.«

      Der Widerstand war jedoch gebrochen. An Protestaktionen nach der Fusionsentscheidung beteiligten sich nur noch wenige. Die Bergleute bekamen die Kündigung und eine Abfindung. Von den von der Thüringer Landesregierung versprochenen siebenhundert Ersatzarbeitsplätzen entstanden etwa hundert im eigens erschlossenen örtlichen Gewerbegebiet. Knapp zwei Dutzend Kalikumpel fanden dort eine neue Anstellung. Seit der Stilllegung der Grube verlor Bischofferode rund siebenhundert Einwohner; fünf Wohnblöcke riss die Gemeinde ab.

      Die obertägigen Anlagen des Kaliwerks wurden ab 1993 bis auf wenige Ausnahmen demontiert, die untertägigen Schächte verfüllt. Aus der Kalihalde soll ein grüner Hügel entstehen.

      Am 3. Februar 1994 gründete sich der »Thomas-Müntzer-Kaliverein Bischofferode e. V.«. Er kaufte das ehemalige Betriebsambulatorium, was der Erlös aus den Protest-T-Shirts ermöglichte. Seit 1996 erinnert dort nun ein kleines Museum an die zu Ende gegangene Bergbautradition.

      Bischofferode, 1994: Verschlafen liegt der kleine Ort am Fuße der riesigen Kalihalde. Äußerlich erinnert nichts mehr an den ein Jahr zuvor republikweit beachteten Protest der Kalikumpel gegen die Schließung ihrer Grube. (picture alliance / ZB – Fotoreport / Heinz Hirndorf)

      Was bewirkten

      »alte Seilschaften«?

      Im März 1991 bedrängten die CDU-Abgeordneten aus den »neuen Bundesländern« Bundeskanzler Helmut Kohl, stärker gegen »SED-Seilschaften« bei der Treuhandanstalt vorzugehen. Nach Angaben der Bundesregierung besetzten zu dieser Zeit noch etliche frühere Spitzenfunktionäre leitende Positionen. Dazu zählten zwei Ex-Staatssekretäre und fünf ehemalige stellvertretende Minister der DDR. Selbst nach der Vereinigung am 3. Oktober 1990 wurden noch fünfundvierzig hohe DDR-Funktionäre eingestellt. Sieben von ihnen verließen wenig später wieder die Treuhand.

      Die DDR-Wirtschaft war für die Treuhand ein undurchsichtiger Dschungel. Deshalb versicherte sie sich der Mitarbeit früherer Funktionäre, um überhaupt erst einmal Ansätze für eine Privatisierung zu finden. Das versuchten einige clevere Ostchefs, für eigene Geschäfte zu nutzen. Oftmals wussten sie die Belegschaft hinter sich, denn die Entlassungswellen rollten schon. Im März 1990 gab es in der DDR die ersten 38.300 Arbeitslosen. Bis April stieg ihre Zahl auf 64.900, dann auf 94.800 im Mai und 142.100 vor der Einführung der DM. Nach der Währungsunion explodierte die Arbeitslosenzahl auf 272.000 im Juli 1990 und 361.300 im August. Dazu kamen noch 1,439 Millionen »Kurzarbeiter«, die keine Arbeit mehr hatten, aber so wenigstens aus der Statistik fielen.

      So erklärt sich, dass manche früheren Chefs für die eigene Zukunft schalten und walten konnten, denn sie versprachen »Erhalt der Arbeitsplätze«. Ganz besondere Objekte der Begierde waren dabei international bekannte und gut funktionierende DDR-Einrichtungen, wie etwa die Leipziger Messe und die Interhotel-Kette.

      Das geeinte Deutschland war gerade einen Monat alt, als Siegfried Fischer, seit 1981 Generaldirektor des Leipziger Messeamts, am 2. November 1990 mit der Mannheimer Firma Blank & Radosevic Holding