denn man meinte, diese Aufgabe fiele dem »Schüler Hofmann« ja sicher ganz leicht. Das Thema meines Vortrags war »Vermassung, Vereinsamung und Entfremdung«. Ich erläuterte, dass die – damals noch relativ neue – Struktur des Kurssystems, das die alten Schulklassen abgelöst hatte, die von Karl Marx für die Lohnarbeiter geschilderten Entfremdungsphänomene fördert. »Der Schüler ist in der Schule außer sich und außer der Schule bei sich« – so eine meiner Formulierungen. In den quasi »kontextfreien« Kursen wurde der übergreifende Sinn der Lerninhalte nicht mehr in dem Maß wie früher vermittelt, als die Lehrpersonen eine Schulklasse über Jahre hinweg »kontextsensitiv« begleiteten und prägten. Der Dreikampf »Lernen, Prüfen, Vergessen« konnte bei vom Lehrgegenstand quasi »entfremdeten« Schülern verstärkt beobachtet werden. In der zuhörenden Elternschaft gab es einige reaktionäre Elemente, die allein schon die Erwähnung von Karl Marx in meiner Rede zum Anlass nahmen, meine Ausführungen in Grund und Boden zu verdammen. Verstanden hatten sie zwar relativ wenig, aber zu einem diskreditierenden Protest sahen sie sich allemal qualifiziert.
Auf den philosophischen Weg – und damit auch zu Karl Marx – war ich damals gelangt, weil ein – weiteres – Wahlfach »Philosophie« am Gymnasium angeboten wurde. Es wurde vom späteren Direktor der Schule, Ernst Ruppert, angeboten. Wir Schüler hatten als Basislektüre das Buch von Wilhelm Weischedel »Die philosophische Hintertreppe: Die großen Philosophen in Alltag und Denken« erhalten. Im Unterricht von Ernst Ruppert wurden wir auch mit dem von Karl Raimund Popper geprägten Kritischen Rationalismus bekannt gemacht. Die Frage ist – nach Popper – nicht die absolute Korrektheit einer wissenschaftlichen Theorie, sondern was zu tun sei, wenn man eventuell Fehler in einer Theorie findet. Dieser Ansatz des Kritischen Rationalismus sollte viele Jahre später im Metier der Digitalen Ethik und der Ethik der Automatisierung eine wichtige Rolle spielen. Der kritische Rationalismus fragt danach, wie fehlerhafte Automaten als solche erkannt und verbessert werden können.
Einige Monate nach dem Abitur passierte etwas, was viele Jahre später ein »Posting« genannt werden sollte. Eine Mitschülerin hatte das Manuskript meiner Abiturrede, das ich ihr im Entwurf zwecks Kommentierung überlassen hatte, ohne Rücksprache an die Wochenzeitung »Die Zeit« geschickt. Der Zeit-Redakteur Michael Schwelien bereitete gerade die Herausgabe des Buches »Vorbereitet fürs Leben? Deutsche Abiturreden heute« vor – und meine Rede wurde darin abgedruckt. Ohne mein weiteres Zutun war das (m)eine erste echte Publikation. Zu Beginn der 2020er-Jahre würde ein Abiturient einen solchen Text einfach in ein Netzwerk stellen – dann wäre er auch von quasi »allen Leuten« lesbar.
Im Sommer 1981 war die Schule dann aus – die Schulzeit vorbei. Von bleibendem Wert waren ausgerechnet die zwei – damals eigentlich ganz nebensächlichen – Wahlfächer »Programmieren« und »Philosophie«. Sie spielten für das Arbeiten und Zurechtfinden in der kommenden Informationsgesellschaft eine wichtige Rolle.
Darmstädter Computergraphik – Symmetrien und Perspektiven (1982 – 1986)
Die neue Wissenschaft »Informatik« ist zunächst eher am Rand des allgemeinen Studien- und Hochschulbetriebs positioniert. Ein wichtiger Impuls für ihre allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung ist die Entwicklung von Graphik-Computern, die vielfarbig-bunte Bilder berechnen und verarbeiten können.
Auch in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre hatte ein Abiturient den Wunsch, ein Studium zu beginnen, welches Aussichten auf eine einigermaßen zukunftsfähige und einträgliche berufliche Tätigkeit mit sich brachte. Nicht nur meine Überlegungen gingen in Richtung Physik. Der bevorstehende Ausbau der Nutzung der Atomenergie und eine Tätigkeit in einem der neuen Kraftwerke erschien vielen Abiturienten sehr lukrativ zu sein. Auch hielt ich mich hier für absolut qualifiziert – hatte ich doch in der Physik-Abiturprüfung, zum Thema der Gleichungen des Erwin Schrödinger, die Note »sehr gut« erhalten. Ich ahnte noch nicht, wie sehr sich der Wert einer solchen Leistung im Laufe des Lebens relativieren würde.
Aus reiner Bequemlichkeit kam für mich nach der Schulzeit nur der naheliegende Studienort Darmstadt in Frage. So konnte ich weiterhin zu Hause im Odenwald wohnen bleiben und täglich mit dem PKW hin und her pendeln. In Darmstadt gab es die zur Kaiserzeit gegründete Technische Hochschule Darmstadt (THD). Diese THD sollte etwa 15 Jahre später, im Oktober 1997, in »Technische Universität Darmstadt« (TUD) umbenannt werden. Umgekehrt nahmen einige nicht-universitäre Hochschulen – als Fachhochschulen ohne Promotionsrecht, aber mit der Lizenz zum Pragmatismus – nun ihrerseits eine Umbenennung in »Technische Hochschule« vor.
An der TH Darmstadt erschien damals nicht nur ein Studium der Physik, sondern auch anderer technischer Fächer ganz attraktiv zu sein. Ich war mir alles andere als gewiss, was zu tun wäre. Im Herbst des Jahres 1982 trat ich schließlich ein Studium – ausgerechnet – der Informatik an. Ein Onkel arbeitete bei der Deutschen Lufthansa und meinte: »Computer sind die Zukunft!« Vielleicht gab das den Ausschlag. Im Jahr 1982 war das Fach Informatik an der THD noch ein absoluter »second choice«. Sie erschien als ein gerade noch brauchbarer Kompromiss aus akademischem Anspruch, praktischer Umsetzbarkeit und ökonomischer Relevanz. Mit dem Studium der Informatik verband ich – für meinen Teil – damals keine besonderen Erwartungen. Ich habe sowohl das Studienfach Informatik als auch den Studienort TH Darmstadt (THD) aus absolut niederen Beweggründen gewählt. Es war sowohl ein weichenstellender Zu- als auch Glücksfall. Aber, »die Welt ist alles, was der Fall ist« – wie es ein Österreichischer Philosoph einmal auf den Punkt gebracht hat.
Im Jahr 1982 besaßen viele Studierende Autos, wie einen VW Käfer oder einen Opel Kadett. An den Autos kann der Stand der Technik im Alltag der damaligen Zeit erläutert werden. Der typische Motor war ein Ottomotor mit etwa 30 bis 40 PS. Es gab keine Servobremse oder Servolenkung, keine elektrischen Fensterheber, keinen Airbag, irgendwelche Computer waren schon gar nicht in diesen Autos vorhanden. Die Vergaser-Motoren verbrauchten verbleites Benzin – locker mehr als 10 Liter pro 100 km. Um den kalten Motor starten zu können, musste die in den Vergaser einströmende Luft mit einer Seilzug-Starterklappe namens »Choke«, der »Würgung«, zunächst begrenzt werden. War der Motor warm, konnte man den Choke wieder zurückstellen. Die Karosserien rosteten an allen Ecken und Enden. Immerhin waren diese Autos schon etwa einige Jahre benutzbar. Das modernste Auto war damals wohl der »Audi quattro« – er hatte zwar schon einen Allradantrieb, aber (noch) keinen Abgaskatalysator.
Noch auf Jahre hinaus sollte die akademische Informatik – nicht nur an der THD – von Personen geprägt werden, die irgendetwas anderes gelernt oder studiert hatten, und dann im langsam aufkommenden Boom des Metiers Informatik als Quereinsteiger auftraten. Einer der Mitarbeiter im Rechenzentrum der THD war ein gelernter Frisör, der uns – als ich später wissenschaftlicher Mitarbeiter war – am frühen Morgen im Rechnerraum durchaus die Haare schneiden konnte, so dies gewünscht wurde. Auch die meisten Informatik-Professoren an der THD waren selbstredend noch keine echten Informatiker. Studierte Elektrotechniker waren für die Praktische Informatik zuständig, die Theoretische Informatik wurde von Mathematikern vertreten. Informationstechnologie wurde damals von (vor allem männlichen) Experten für (hauptsächlich männliche) Nutzer gemacht. Der Frauenanteil in der Informatik-Professorenschaft an der THD lag bei exakt null Prozent.
Die Informatik war erst wenige Jahre zuvor überhaupt in das Portfolio der akademischen Lehre aufgenommen worden. Die THD hatte dabei allerdings eine wichtige Vorreiterrolle gespielt. Die Darmstädter Hochschullehrer Alwin Walther und Robert Piloty waren frühe Informatik-Pioniere. Es war indes nicht klar, ob sich die Informatik dauerhaft an den Hochschulen würde etablieren können. Sie hätte durchaus das gleiche Schicksal wie die einst mit vielen Hoffnungen bedachte Kybernetik erleiden und wieder in der Versenkung verschwinden können. Die THD hatte mit großem Mut eine der ersten Informatik-Fakultäten namens »Fachbereich Informatik« in Deutschland gegründet. Das war zu meinem Studienbeginn gerade erst zehn Jahre her. Der erste Doktorand in der Informatik in Darmstadt war im Jahr 1975 übrigens Wolfgang Coy, der später als Professor an der Universität Bremen und an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig wurde. Viele Jahre später sollte, nach der Anzahl der Studierenden gerechnet, das Fach Informatik eine sehr wichtige Rolle in der akademischen Ausbildung spielen – und das nicht nur am Hochschulstandort Darmstadt.