Georg Rainer Hofmann

GLOBALE PROVINZ


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       Exkurs – Informatik und Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik

      Wenn man das liest, so muss man anmerken, dass an der THD nach dem Vordiplom im Hauptstudium ein Zweitfach gewählt werden musste, um das Studium der Kerninformatik zu ergänzen. Es sollte damit von Seiten der Studienordnung quasi der »Anwendungsbezug« des Informatik-Kernstudiums hergestellt werden. An der THD konnte man zwar bereits seit einigen Jahren die sogenannte »Wirtschaftsinformatik« studieren. Die THD hatte dieses Fach deutschlandweit als erste Hochschule überhaupt eingeführt. Es war also brandneu, aber keineswegs auch ausgemacht, ob man diesem Berufsbild wirklich trauen konnte. In der Tat lief man Gefahr, sich den exotischen Titel »Diplom-Wirtschaftsinformatiker« anzueignen, der sich eventuell nicht bewähren würde und einem lebenslang wegen seiner Unbrauchbarkeit zur Last werden würde.

      Allerdings erschien mir vor diesem Hintergrund »irgendwas mit Wirtschaft« ganz spannend zu sein. Ich ging zunächst zu betriebswirtschaftlichen Vorlesungen, die »Einführung in die BWL« und »Buchführung« hießen. Die Hochschullehrer dort betrieben nur allereinfachste Mathematik und redeten in einem völlig überhöhten Jargon von trivialem Zeug wie »Kontenrahmen« und »Buchungssätzen«, und dass man eines Tages als Betriebswirt ganz unglaublich viel Geld verdienen könnte. Zudem versuchten sie sich mit den Studierenden gemein zu machen. Einer leerte sogar – während seiner BWL-Vorlesung – eine von einem Studenten aufs Podium gereichte Flasche Bier. Das war nun wirklich nicht mein Fall.

      So ähnlich wie »BWL« hörte sich von weitem »VWL« an – das könnte eine Alternative sein. Eine von mir probehalber besuchte volkswirtschaftliche Vorlesung »Einführung in die VWL« war in der Tat ein anderer Sport. Auf dem Podium sprach ein mir wegen seiner Souveränität auffallender Professor. Er hieß Bert Rürup. Ich fasste den Entschluss, an seinem Institut VWL als Zweitfach zu studieren. Es wurden in seinen Seminaren – damals absolut richtungsweisende – Themen wie die »Negative Einkommenssteuer« und das »Bedingungslose Grundeinkommen« behandelt. Die Diplomprüfungen standen dann im Sommer des Jahres 1986 an. Das waren im Prinzip ein paar 30-minütige Interviews, die die Professoren mit den Kandidaten und Kandidatinnen durchführten. Diese ganz wenigen Prüfungen machten den Wert des gesamten Diploms aus. Ein Assistent des Instituts war Zeuge und Manöverbeobachter. In so einer halben Stunde wurden die vier Semester des gesamten(!) Zweitfachs VWL querbeet und für den Kandidaten scheinbar zufällig-willkürlich abgefragt. Bei Bert Rürup erhielt ich so für die »ganze VWL« ein »gut« – aus »Rücksicht auf die armen Eltern«, wie er ironisch hinzufügte.¶

      Es gab an der THD auch Lehr-Angebote aus der Philosophie. Ein Seminar bei Jörg Pflüger und Robert Schurz hieß »Soziale Beziehung Mensch-Maschine«. Es war und ist eine wichtige Sache, das Verhältnis eines einzelnen Menschen zu einer Maschine zu analysieren und das Verhältnis von »Mensch« zum »System« anthropozentrisch zu bewerten. Die damaligen Darmstädter Untersuchungen zur programmierten Gesellschaft und die Rolle der sogenannten »Mega-Maschinen« waren wegweisend. Die Fächer VWL und Philosophie sollten sich später als über die Maßen relevant und nützlich erweisen, wenn es galt, Fragen der Struktur von Software- und Service-Märkten, aber auch ethische Fragen der Informationsgesellschaft zu adressieren. Und so war die Befassung mit Themen aus der VWL und der Philosophie wieder einmal sowohl ein Zufall als auch ein Glücksfall.

       Exkurs – Frühe Arbeiten zur Mensch-Maschine-Beziehung

      Wenn man das so liest, dann muss man auch sehen, dass diese Darmstädter Aktivitäten durchaus die Aufmerksamkeit der überregionalen Öffentlichkeit fanden. Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« berichtete von den Darmstädter Arbeiten zur »Sozialen Beziehung Mensch-Maschine« im März 1987. Man fragte in diesem Nachrichtenmagazin, ob es sein könne, dass begeisterte Computerfreaks in ihrem Bewusstsein verarmen und zum »mechanischen Denken« neigen.

      Der Psychologe Robert Schurz und der Informatiker Jörg Pflüger, beide in Darmstadt tätig, hätten das Verhalten von Computerfreaks studiert, so »Der Spiegel«. Aus den Daten habe man den Normalbürger der computerisierten Zukunftsgesellschaft bestimmt. Dieser Typ, so Pflüger und Schurz, sei meistens auf der Flucht – vor den anderen Menschen, der Verantwortung und den eigenen Gefühlen, kurz – vor der Unberechenbarkeit des Lebens. Wenn an die Stelle der Sozialkontakte die anonyme Beziehung zur Maschine tritt, dann wächst die Beziehungslosigkeit unter den Menschen – mit unabsehbaren Folgen. Doch je weniger man von Computern versteht, umso größer werden Ehrfurcht und Angst vor ihr: Technikverweigerer sehen den »Big Brother«, Fortschrittsgläubige vergöttern die Maschine.

      Wie rasch dabei der kindische Maschinenglaube zur »Ohnmacht der Vernunft« wird, beschrieb bereits der MIT-Professor Joseph Weizenbaum. Schon im Jahr 1966 hatte Weizenbaum ein Programm namens »Eliza« vorgestellt. Eliza hatte das Ziel, ein Gespräch – mit einem Psychologen im Rahmen einer Therapie – zu simulieren. Es gab Benutzer, die zunächst nicht glaubten, dass sie mit einem Computerprogramm statt mit einem Menschen redeten. Weizenbaum nahm diesen gedankenlosen Computergebrauch als Anlass zur Sorge. Er mahnte immer wieder einen kritischen Umgang mit Computern an. Speziell forderte er, dass der Mensch die letztendliche Kontrolle über die Systeme der »Künstlichen Intelligenz« (KI) behalten müsse.¶

      Unter den hervorragenden Professoren der Informatik an der THD fiel mir José Luis Encarnação auf. Er war schon im Jahr 1975 an die THD gekommen, und er war weder betulich noch borniert. Professor Encarnação war keiner der Pseudo-Intellektuellen, die sich darin gefallen, Sachverhalte mit künstlicher Kompliziertheit und mit sophistischem Vokabular auszustatten, um ihm eine scheinbare akademische Fallhöhe zu verleihen. Er vertrat sein Fachgebiet mit einer kaum fassbaren Energie. Dispute mit ihm, und die blieben im späteren Leben ja nicht aus, wollten sehr gut vorbereitet sein. Vorgebrachte Gegenargumente konnten von Encarnação unaufhaltsam und dampfwalzenartig überfahren werden. Er war aber keineswegs unbelehrbar. Er nannte sein Fachgebiet und sein Institut »Graphisch-interaktive Systeme« (GRIS). Man sagte auch »Computergraphik« dazu. Die Schreibung der »Graphik« mit einem »ph« war dem φ in γραφω – grapho, also schreiben, zeichnen geschuldet. Wir behalten diese Orthographie hier bei. Aber was sollte diese »Computergraphik« sein und was sollte daraus werden können? All das mutete ziemlich seltsam an.

      Ein GRIS, ein »Graphisch-interaktives System«, war damals ein Computer, der im Gegensatz zu den herkömmlichen Rechnern nicht nur Zeichen, als Buchstaben und Zahlen, verarbeiten und anzeigen konnte, sondern eben auch Graphiken. Darunter stellte man sich zunächst quasi »Strichzeichnungen«, also Vektorbilder vor. Die konnten zum Beispiel mit einer vom GRIS-Computer angesteuerten Zeichenmaschine, einem »Plotter«, als eine technische Zeichnung berechnet und ausgegeben werden. Man konnte sich auch vorstellen, dass man irgendwann diskrete »digitale Rasterbilder« in einem Computer würde speichern und verarbeiten können. Das war aber zunächst noch eher utopisch, denn für viele hundert oder tausende Bildpunkte – »Pixel« – eines Rasterbildes hatte man einfach noch nicht den erforderlichen Speicherplatz zur Verfügung.

      Professor Encarnação hatte bei der Leitung der THD durchgesetzt, dass er bei GRIS – vom Hochschulrechenzentrum weitgehend unabhängig – spezielle Computergraphik-Rechner betreiben durfte. Einer der Rechner hatte ein Wechsel-Festplatten-System mit einer Kapazität von zwei Megabyte. Der dazugehörende Datenträger mochte etwa vier Kilogramm Masse gehabt haben. Eine handelsübliche Backup-Disc von zwei Terabyte im Jahr 2020 hat eine um eine Million mal höhere Kapazität – mit der Technik von damals hätte eine 2-Terabyte-Disc also der Masse eines kompletten Güterzugs entsprochen. Überdies hielt man für die Computergraphik die Entwicklung von spezieller schneller Computerhardware für erforderlich. Die Graphik-Rechner, die es noch gar nicht gab, wollte man am Institut GRIS an der THD einfach selber bauen. Dafür hatte man ein Hardwarelabor eingerichtet, und es gab ein Projekt namens »Homogener Multiprozessorkern« (HoMuK). Man konnte sich damals einen leistungsfähigen Graphik-tauglichen Rechner nicht zuletzt deshalb als einen Multiprozessor-Rechner vorstellen, weil die diversen Graphik-Algorithmen der Parallelität der Systeme entgegenkamen. Neben der Konstruktion der einzelnen Modul-Rechner war die Realisierung der sie verbindenden Kommunikationskomponente, das war der »HoMuK-Bus«, eine echte Herausforderung.

       Professor Dr.-Ing.