gar nicht so wichtig, wo man herkommt, sondern viel mehr, wo man hingeht. Provinz sei überdies keine Frage der Geographie, sondern eine Frage der Geisteshaltung.
Mazzola hatte in Zürich unter anderem Mathematik und Physik studiert, mit 24 Jahren war er promoviert. Er arbeitete dann in Paris und Rom und habilitierte sich im Jahr 1980 im Fachgebiet der Kategorientheorie. Er war danach nach eigener Auskunft »verschiedentlich tätig«. Nun bezog er eine Projektwohnung in einem idyllischen Haus, direkt auf der Mathildenhöhe in Darmstadt.
Es mag im Sommer 1985 gewesen sein, als wir bei GRIS Guerino Mazzola erstmals begegneten. Es ging ihm um Raffaels Fresko »La scuola di Atene – Die Schule von Athen«. Raffael hatte das monumentale und etliche Quadratmeter große Bild Anfang des 16. Jahrhunderts auf eine Wand in der »Stanza della Segnatura«, dem für zeremonielle Unterschriftsleistungen des Papstes vorgesehenen Raum im Vatikan gemalt. Mazzola hatte einen Plan. Die im Fresko dargestellte Szene sollte als ein dreidimensionales Modell im Computer realisiert werden. Es sollte für die Symmetrie-Ausstellung im Sommer 1986 möglich sein, quasi »neue« Perspektiven und Ansichten der von Raffael dargestellten Szene zu berechnen und zu visualisieren, um so neue Erkenntnissen zur Struktur und Symmetrie des Freskos zu gewinnen.
Encarnação übergab das Mazzola-Problem an seinen Mitarbeiter Detlef Krömker, der wiederum auf mich als seinen Hiwi zukam. Zunächst hatten wir keine Ahnung, wie Guerino Mazzola zu helfen sei. Im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte sollte ich allerdings erfahren, dass dieser Umstand für fast alle Forschungs- und Beratungsprojekte – an deren Beginn – typisch ist. Denn wenn das Problem ein Einfaches wäre, könnte man für dessen Lösung ja auch andere Leute – als ausgerechnet uns – beauftragen.
Professor Dr. Guerino Mazzola, Minneapolis
Exkurs – Über Religion, Kunst und Wissenschaft
Wenn man das liest, so muss man sehen, dass meine »interdisziplinären Sünden« schon am Mathematischen Institut der Universität Zürich ihren Anfang genommen hatten. Mein Auftreten als der wissenschaftliche Generalsekretär des Darmstädter Symmetrieprojekts war die unmittelbare Folge davon. Ich hatte mich damals bereits in Zürich mit algebraischer Geometrie und Darstellungstheorie beschäftigt und bei Peter Gabriel (dem Mathematiker, nicht etwa dem Popmusiker) habilitiert. Die Algebra hatte ich bereits zur Entwicklung eines neuen interdisziplinären Gebietes der Mathematischen Musiktheorie quasi »missbraucht«, für viele Fachkollegen war das reine Ketzerei.
Der an der TH Darmstadt tätige Mathematikprofessor Rudolf Wille hatte mich vordem zu einem Vortrag zu meiner Mathematischen Musiktheorie eingeladen. Er fand daraufhin, dass ich für das Symmetrieprojekt genügend progressiv und auch provokativ wäre. Mein Vorhaben, im Rahmen des Symmetrieprojekts Raffaels »Schule von Athen« mithilfe von Computergraphik analysieren zu wollen. Das war nicht nur progressiv, sondern schon ein Sakrileg. Das kannte ich freilich, hatte doch bereits meine Computer-basierte mathematische Analyse von Beethovens »Großer Sonate für das Hammerklavier« eine ähnliche Ablehnung hervorgerufen.
Diese Arbeit war auf erbitterte Gegenreaktionen gestoßen, denn wie konnte ich nur jenes heilige Meisterwerk der ersten Wiener Klassik einer formalen Analyse unterziehen. Die Vorurteile der Kollegen vom philosophischen Fach sahen die Mathematik ohnehin als eine Wissenschaft, die nur komplizierte Tautologien produzierte. Besonders verdächtig war den Geisteswissenschaftlern mein damaliger Musikcomputer. Er war der Urahn der später konstruierten Maschine namens »MDZ71« – und dem Nachfolger »presto«. Mein Musikcomputer hatte die musikalischen Parameter der »Sonate für das Hammerklavier« erbarmungslos durcheinandergewirbelt. Ein Artikel über »Beethoven im Computer« war bereits in der »Neuen Zürcher Zeitung« erschienen.
Die von mir zu verantwortende Entwürdigung von heiligster musikalischer Kunst war also der wissenschaftskulturelle Hintergrund, mit dem dann ab dem Jahr 1985 Raffaels Fresko »with a fresh look« angegangen wurde. Zum Glück hatten mein Team und ich auf der Mathildenhöhe und der junge Informatikstudent Georg Rainer Hofmann und seine Kollegen an der TH Darmstadt, einen wichtigen Mentor im Symmetrieprojekt. Das war der prominente Schweizer Kunstwissenschaftler Oskar Bätschmann, der die neuen Methoden und die Computerkultur überaus herzlich begrüßte. Das war wichtig und zudem nicht unwesentlich, um das Raffael-Projekt zum Erfolg zu führen. Die eher traditionell eingestellten Kollegen von Bätschmann verurteilten das Unternehmen als einen ketzerischen Affront gegen die »Sancta Ecclesia« der Kunstwissenschaft. Nach Beethoven im Computer könnte nun auch noch Raffael im Computer die gängige religiöse Bewunderung der Großkunst stören. Das war schon »deadly shocking«.
Bei unserer Analyse der gängigen Literatur zur »Schule von Athen« mussten wir erkennen, dass bereits recht viele und wichtige geisteswissenschaftliche Erkenntnisse vorlagen. Aber offenbar hatte bisher noch niemand die genaue Geometrie der im Fresko verwendeten Zentralperspektive untersucht. Für Bätschmann war das nicht erstaunlich, lern(t)en doch Kunstwissenschaftler rein gar nichts über die Mathematik und genauen Methoden der Perspektive in ihrem Studium. Also machten wir uns zuallererst an die exakte Rekonstruktion der dreidimensionalen Darstellung im Fresko, wo in einem Raum 57 Personen dargestellt sind.
Es stellte sich heraus, dass Raffael erstens zwei Perspektiven miteinander verquickt hatte: Eine für die Raumteile vor der großen Treppe, eine zweite für die Raumteile hinter der Treppe. Diese virtuose Perspektiventechnik, die Raffael und seine Mitarbeiter vollkommen beherrschten, erzeugt eine quasi-filmische Annäherungsbewegung des Betrachters. Man wird, auf das Fresko schauend, regelrecht in dieses hineingezogen. Und zweitens fanden wir, dass der Doppelstern, den Ptolemäus rechts vorn auf seiner Tafel konstruiert, kein Davidstern ist, wie dies die Kunstwissenschaft bisher ohne weiteres Nachzudenken angenommen hatte. Es ist vielmehr eine Kombination von Dreiecken aus den Platonischen Körpern, was eigentlich kein Wunder in einer Schule von Athen sein dürfte.
Was damals durch die computergraphische Visualisierung der geometrischen Daten der »Schule von Athen« erkannt wurde, war die Tatsache, dass das Doppeldreieck des Ptolemäus isomorph ist zum Doppeldreieck der Fußpunkte der wichtigsten Menschenfiguren im Fresko. Diese Erkenntnis war nur möglich geworden durch den Perspektivenwechsel mithilfe der Algorithmen der Informatik. Das war ein absolutes Novum in der Analyse der »Schule von Athen«, welches ohne Computergraphik verborgen geblieben wäre. Auf philosophischer Ebene gewannen wir so einen weiteren Beleg dafür, dass die sogenannte »ganze Wahrheit« als ein Integral der möglichen Perspektiven gesehen werden muss. Diese Erkenntnis, das Yoneda-Lemma der Kategorientheorie, war nun besser sichtbar geworden. Das durch den Einsatz von komplexen Algorithmen errechnete Integral war der klassischen Kunstwissenschaft vorher unzugänglich.
Diese Resultate des Darmstädter Raffael-Projektes aus der Mitte der 1980er-Jahre sind und bleiben ein fundamentaler Fortschritt im Bestreben, das große Ganze, welches durch das »dis-capere« der Disziplinen zerschnitten wurde, wieder zusammenzufügen.¶
Schon Ende der 1970er-Jahre gab es in den USA an der University of Rochester im US-Bundesstaat New York eine Beschäftigung mit der sogenannten »constructive solid geometry« (CSG). Man hatte eine Beschreibungssprache und ein System namens »PADL-2« (Part and Assembly Description Language Version 2) entworfen. Das PADL kannte primitive, geometrische Objekte (wie Quader, Kugeln, Kegel etc.) und konnte daraus per mengentheoretischer Operationen (Vereinigung, Schnitt etc.) neue komplexere Objekte im Rechner synthetisieren. Detlef Krömker meinte, dass die zur Verfügung stehende Version PADL-2 für unser Raffael-Projekt eingesetzt und benutzt werden könnte – im Informatiker-Deutsch sagte man dazu wohl »hingebogen werden könnte«. Eine computergraphische Darstellung von menschlichen Körpern war damals schon sehr(!) ungewöhnlich. Es war eine schwierige Frage, wie das mit einem CSG-System und seinen primitiven geometrischen Formen möglich sein sollte.
Mazzola hatte auf der Mathildenhöhe in Darmstadt ein Sperrholzmodell der von Raffael dargestellten Szene aufgebaut. Darauf platzierte er hölzerne Gliederpuppen, die auch im Zeichenunterricht als Modell benutzt werden. Diese konnte er vom korrekten perspektivischen Betrachtungspunkt anvisieren. Mit solchen Holzpuppen wurden die Figuren im Fresko nachgestellt, die Gelenkwinkel der Gliedmaßen gemessen, und diese Daten wurden dann über PADL-2 modelliert und visualisiert. Die Herstellung von »Bildern« von unseren Berechnungen war eine Sache für sich. Das PADL-2 konnte