Auftragsforschungsmarkt finden würde.
Für die personelle Ausstattung der neuen AGD suchte der – nun frisch gebackene – Fraunhofer-Institutsleiter Professor Encarnação natürlich Mitarbeiter. Er konnte vier Abteilungsleiter für die AGD gewinnen, einer davon war Detlef Krömker. In seiner Abteilung »Animation und Simulation« sollte es um die Erforschung computergenerierter realistischer Bilder und Filme auf der Basis räumlicher Szenen gehen. Das Raffael-Projekt war eine erste Grundlage für diese Forschungsrichtung. So wurde ich mit Beginn des Jahres 1987 ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, abgekürzt »WissMA«, bei der AGD, in der Abteilung von Detlef Krömker. Ich blieb also auch nach dem Studium in Darmstadt.
Der »speed of life« in der entstehenden Informationsgesellschaft nahm deutlich zu, die Zahl der Studierenden am Institut GRIS wuchs erheblich. Wir WissMA vertraten Professor Encarnação manchmal in seinen Vorlesungen und Seminaren, denn er konnte den akademischen Lehrbetrieb an der TH Darmstadt unmöglich noch selbst und allein erledigen. Und so kam es – nach meinem eiligen Studium – zu der einigermaßen absurden Situation, dass Kommilitonen, mit denen ich vor einigen Wochen noch gemeinsam die Bank im Hörsaal gedrückt hatte, mir nun als Hörer in den Vorlesungen und Seminaren gegenüber saßen.
Guerino Mazzola war nach dem Ende der Symmetrie-Ausstellung am Sonntag, 24. August 1986, um exakt 18:00 Uhr, demonstrativ pünktlich und sofort aus Darmstadt nach Zürich abgereist. Ich habe in der Rückschau schon den Eindruck, dass sein intellektueller Anspruch nicht immer für eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre in der Darmstädter Kulturszene gesorgt hat. Ich hielt weiter zu ihm persönlichen Kontakt. Ab und an gab es ein Telefonat. Man sollte die Wichtigkeit und die Rolle des sozialen Kontextes für eine erfolgreiche akademische Projektarbeit keinesfalls unterschätzen. Ich würde nach all den Jahren durchaus die Meinung vertreten, dass ein funktionierendes Projektteam eher eine sinnvolle Projektaufgabe findet, als umgekehrt, dass sich für eine gegebene Forschungsaufgabe ein sozial funktionierendes Projektteam finden lässt.
So gegen Ende des Jahres 1986 stellte Guerino Mazzola eine neue Projektidee vor. Es sollte ein Musikcomputer mit einem »Graphical User Interface« (GUI) gebaut und »Music Designer MDZ71« genannt werden. Damit hatten wir bei der AGD einen der ersten Projektaufträge, gar einen internationalen, nämlich aus der Schweiz. Mazzola hatte für sein MDZ71-Projekt einen Sponsor finden können. Das war Toni Hauswirth, »a truly international business man«, der auf einer Insel in der Südsee lebte. Er fiel bei den bodenständigen Fraunhofer-Kollegen auf, weil er als Rechnungsadresse ein Postfach in Panama City angab. Einige Jahre später war er der Sponsor der Nationalmannschaft der Fidschi-Inseln bei den Olympischen Winterspielen im Jahr 2002 in Salt Lake City – never mind.
Man konnte im Laufe des MDZ71-Projekts den Eindruck gewinnen, Guerino Mazzola sei ein Jünger des Pythagoras. Er war gleich diesem davon überzeugt, dass sich im Prinzip große Teile der Welt, und gar schon Teilbereiche der Musik, mit mathematisch-topologischen Strukturen beschreiben lassen müssten. Er hatte bereits 1985 das Buch »Gruppen und Kategorien in der Musik« publiziert. Der MDZ71 sollte das darin entwickelte, sehr radikal-generelle Verständnis von Tonereignissen aufgreifen. Die Dimensionen der Töne waren Höhe, Dauer, Einsatzzeit, Klangfarbe, die entsprechend parametrisiert die Elemente einer Partitur sind. Tonereignisse sollten in dem dadurch aufgespannten multi-dimensionalen »Raum der Töne« mit beliebigen geometrischen Abbildungen und Operationen in allgemeiner Form manipulierbar sein.
Mazzola hatte schon als Kind klassischen Klavierunterricht und seit den 1970er-Jahren trat er auch im Metier des »Free Jazz« auf. Diese »Mathematische Musiktheorie« von Guerino Mazzola war mir sofort sehr sympathisch, hatte ich doch seit meinem elften Lebensjahr Unterricht in Trompete und war bei einem Posaunenchor in der Nähe meines Wohnorts, im Nachbarort Breuberg, in der Kirchmusik engagiert. Von daher wusste ich durchaus, was eine Partitur ist. Mein generelles Interesse an Neuer und Elektronischer Musik war ebenfalls sicher kein Nachteil für das MDZ71-Projekt.
Die Basis der Entwicklung des MDZ71 sollte das »Musical Instrument Digital Interface« (MIDI) sein. Das MIDI war – und ist – ein Industriestandard, damals vor allem unterstützt vom Synthesizer-Hersteller Roland. Mit MIDI können Steuerinformationen zwischen elektronischen Instrumenten-Komponenten, wie Keyboards oder Synthesizern, ausgetauscht werden. Die MIDI-Daten sind lediglich »symbolische« Steuerdaten, keine digitalen Audiosignale. MIDI-Daten modellieren etwa die Betätigung von Keyboard-Tasten und können an einen Synthesizer gesendet werden, der das geforderte Tonereignis dann produziert, was wiederum über einen Lautsprecher hörbar gemacht werden kann. MIDI-Daten sollten im MDZ71 als Partitur visualisiert und fast beliebig editiert und transformiert werden können, um etwa Töne auf die andere Tonhöhe oder Einsatzzeit zu bringen oder ihnen eine andere Klangfarbe zuzuweisen.
Für den Aufbau des MDZ71 war im Jahr 1987 ein kleiner PC namens »Atari ST« der Firma »Atari Corporation« ideal. Dieser hatte standardmäßig eine MIDI-Schnittstelle. Der Atari ST hatte außerdem ein Basissystem »Graphics Environment Manager« (GEM), das die Programmierung einer graphischen Bedienoberfläche für den MDZ71 ermöglichte. Die Graphik war allerdings nur schwarz-weiß, mit einem Bit pro Pixel.
In den Jahren 1987 bis circa 1989 gab es zwar schon E-Mail und die AGD konnte sie auch benutzen, das brachte aber nicht viel, weil man dafür noch zu wenige Kommunikationspartner hatte. Die kritische Anzahl der E-Mail-Teilnehmer war noch nicht erreicht. Eine Fraunhofer-Visitenkarte aus diesen Jahren führte noch keine E-Mail-Adresse auf, wohl aber eine Telex-Nummer. Die allermeisten Arbeitsunterlagen wurden im MDZ71-Projekt zwischen Zürich und Darmstadt per Briefmarkenpost zugeschickt. Ein modernes Echtzeit-Kommunikationsmittel war damals das Telefax, das man aber nur für Dokumente von wenigen Seiten Umfang gebrauchen konnte.
Die Deutsche Bundespost bot sogar einen Schnellbrief-Dienst an, den »Teletex-Brief«. Dazu konnte man als Absender von einem Postamt aus einen Brief per Fax an einen Empfänger schicken, der selbst kein Fax haben musste. Die Post suchte ein Postamt in der Nähe des Empfängers. Dorthin wurde das Fax geschickt, und dann der Thermopapier-Ausdruck dem Empfänger im Briefumschlag per Postboten zugestellt. Wir hatten damals bei der AGD für das Posttechnische Zentralamt (PTZ) in Darmstadt ein kleineres Projekt im Umfeld des Teletex-Briefs. Es ging darum, Monitore für die Darstellung von diesen Teletex-Briefen auszusuchen, um diese Dokumente ohne Ausdruck – von Postamt zu Postamt – weiterleiten zu können. Das Problem war als Gegenstand der Angewandten Forschung schon interessant, weil anscheinend niemand bis dahin auf den Gedanken gekommen war, ein Fax auf einem Bildschirm darstellen zu wollen.
Für den Musikcomputer MDZ71 wurde der Atari ST über das MIDI-Protokoll mit einem Yamaha-Synthesizer TX802 verbunden, der die – damals hochmoderne – Frequenz-modulierte Synthese von Tönen ermöglichte. Der TX802 realisierte damit die Klangfarbe von Tonereignissen als Elemente eines unendlich-dimensionalen Funktionenraums. Für die Implementierung der eigentlichen MDZ71-Software konnte ich meinen ehemaligen Kommilitonen Christof Blum gewinnen, der damit seine Diplomarbeit realisierte. Für den MDZ71 wurde eine Verallgemeinerung »Score« des bekannten Prinzips der Partitur programmiert. Die Parameter der Tonereignisse wurden als geometrische Parameter modelliert und dargestellt. Es war dann möglich – aber freilich nicht immer sinnvoll, etwa die Tonart eines Stücks zu verändern oder die Abspielgeschwindigkeit. Man konnte auch, einfach so, die Parameter komplett austauschen, etwa Einsatzzeit versus Tonhöhe, was dann eine aleatorisch anmutende Musik im Ergebnis ergab.
Der Musikcomputer MDZ71 auf der Basis des Atari ST und des Yamaha-Synthesizers TX802. Das ist der Aufbau auf einem Tisch im Gebäude der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, wenige Minuten vor der Vorführungfür Herbert von Karajan im Mai 1988. Die Fotographie wurde von Christof Blum zur Verfügung gestellt.
Während des MDZ71-Musikcomputer-Projekts sollte ich, wie so viele andere Kolleginnen und Kollegen sicher auch, eine wichtige Erfahrung machen. Die Programmierung des MDZ71 wurde nicht – mehr – von mir selbst ausgeführt. Ich war unversehens in die Rolle eines »IT-Projekt-Managers« hinein geraten: Ich plante, wer von den Programmierern wann und was realisieren sollte, motivierte die Programmierer und kontrollierte das Ergebnis. Ich fand mich so in der Rolle wieder, die Projektergebnisse gegenüber Guerino Mazzola und anderen Interessierten